«Wenn nicht jetzt, wann sonst?»

Zum Tod und Vermächtnis von Charles Kleiber, 1942-2025.

Er hat in den vergangenen Jahrzehnten als höchster Beamter im Waadtländer Gesundheitswesen und von 1997 bis 2007 als Staatssekretär für Bildung und Forschung der Eidgenossenschaft die politische, gesellschaftliche und kulturelle Entwicklung der Suisse romande und der ganzen Schweiz wesentlich mitgeprägt. Dass er eine überragende Persönlichkeit mit strategischer Weitsicht und energischer Gestaltungskraft war, gestehen ihm auch seine Gegner zu. Und die waren zahlreich, vor allem in akademischen Kreisen der Deutschschweiz.

Liegt es an deren Hadern ihm gegenüber, dass der Tod von Charles Kleiber am 14. Januar in der Deutschschweizer Medienöffentlichkeit kaum wahrgenommen wurde? Oder ist dies einmal mehr ein Zeichen dafür, dass das, was aus der Westschweiz aufs ganze Land ausstrahlt, in der Deutschschweiz gerne kleingeredet oder verschwiegen wird?

Weitsicht und Gestaltungskraft

In der Suisse romande sind sich jedenfalls Persönlichkeiten aller politischen Provenienz einig, dass mit Kleiber eine «personalité brillante» gestorben ist, wie der oberste Gewerkschafter und SP-Ständerat Pierre-Yves Maillard festhielt. Und auch im Tessin wurden die herausragenden Leistungen des gebürtigen Jurassiers und Wahlwaadtländers honoriert. Kleiber habe die Notwendigkeit verstanden, «die Wissenschaft in der Kultur zu verorten», betont Giovanni Pellegrino, Leiter des «Ideatorio» an der Università della Svizzera italiana. Ebenso wichtig wie der Wissenserwerb sei für Kleiber in der wissenschaftlichen Forschung die Sinnsuche gewesen. Diese habe er nur für möglich gehalten, wenn «Wissenschaft in Kultur verwandelt» werde, indem man sich bemühe, ihre Erkenntnisse nicht nur zu «katalogisieren», sondern «in Beziehung zueinander setzen, sie in einen Dialog mit unseren Werten zu bringen, sie zu integrieren und zu sehen, welche neue Weltanschauung sich daraus ergibt.» Zu diesem Zweck hatte Kleiber 1998 die Stiftung «Science et cité» ins Leben gerufen, die heute den Akademien der Wissenschaften angegliedert ist und den Dialog zwischen Wissenschaft und Gesellschaft fördern soll.

Weil Kleiber als diplomierter ETH-Architekt davon ausging, dass die Künste für diesen Dialog eine entscheidende Vermittlerrolle spielen, hat er sich nach seiner Pensionierung verstärkt für das Kulturschaffen eingesetzt. Und für den Kulturjournalismus. Diesen betrachtete er als wesentlichen Faktor der Kultur und der Kulturpolitik, und so war er unter den Erstunterzeichnenden des Manifests «Der Kulturjournalismus gehört in die Kulturbotschaft», das der Verein ch-intercultur im Frühling 2023 lancierte, und im Herbst desselben Jahres trat er dem Verein bei, als die Unterzeichnenden eingeladen wurden, sich weiterhin für die Erhaltung und Entwicklung des Kulturjournalismus zu engagieren.

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Der ehemalige Staatssekretär in seinem Büro. (Bild: etudiants.ch)

Dass Kleiber seine Überzeugungen mit kämpferischer Konzilianz und grosser Überzeugungskraft zu vertreten wusste, sowohl in der Gesundheits- wie in der Bildungs- und auch in der Kulturpolitik, und zwar so, dass er diese Bereiche immer wieder miteinander zu verknüpfen suchte, wird von Politiker:innen aller Couleur anerkannt. So betonte auch Claude Ruey, rechtsliberaler Waadtländer Staatsrat von 1990 bis 2002, Kleiber habe als Direktor des kantonalen Universitätsspitals und des Verbunds der Waadtländer Hospize zwar «avantgardistische» Positionen und andere Vorstellungen vertreten als er, denn er sei «plus étatiste» gewesen, sagte aber zugleich, als Beamter habe Kleiber sich immer loyal zu ihm als seinem politischen Vorgesetzten verhalten.

«Maître architecte»

Diese Loyalität wurde auf eine harte Probe gestellt, als Kleiber Mitte der 1990er Jahre im Waadtländer Gesundheitswesen ein rigoroses Sparprogramm der Regierung durchsetzen musste. Er bemühte sich, durch sozialpartnerschaftliche Beratungen an der Basis einvernehmliche Regelungen herzustellen, sah seine Versuche aber von oben wie von unten sabotier. Einen harten Rückschlag erlitt er auch mit dem Projekt eines Verbunds der Universitätsspitäler der Westschweiz mit dem Ziel, die kostenschweren Parallelführungen in der Spitzenmedizin abzubauen und das Gesundheitswesen insgesamt finanziell zu entlasten. Der Kantönligeist war stärker.

Deutlich mehr Erfolg hatte er als Staatssekretär für Bildung und Forschung von 1997 bis 2007 in der Hochschulpolitik, zuerst unter Ruth Dreifuss, ab 2003 unter Pascal Couchepin. Auf Kleibers Initiative hin unterzeichnete die Schweiz 1999 als einer der ersten Signatarstaaten das multilaterale Abkommen zur Schaffung eines europäischen Hochschulraums (EHR) und setzte die in Bologna vereinbarten Richtlinien zügig um –schmerzhaft war der Prozess für die althergebrachten Universitäten, fruchtbar hingegen für die neu gegründeten, 1996 jene in der italienischsprachigen Schweiz, 2000 jene in Luzern, und am meisten profitierten wohl die damals ebenfalls im Aufbau befindlichen Fachhochschulen.

Mit dem Bologna-Prozess hat Kleibers Ruf vor allem an den Deutschschweizer Universitäten schweren Schaden genommen, dies aufgrund von unerfreulichen Entwicklungen, die allerdings vor allem hausgemacht waren und nicht hauptsächlich er zu verantworten hatte. Zudem hat die Sparpolitik von Bund und Kantonen, die mit der 2001 beschlossenen Schuldenbremse einsetzte, rasch auch im Bologna-Prozess manches gebremst, wenn nicht gar verhindert. In der Rückschau stellte Kleiber später fest, im letzten Jahrzehnt des 20. Jahrhunderts sei in den eidgenössischen Räten eine einmalige Allianz zwischen links und rechts zur breiten Förderung des gesamten Bildungsbereichs zustande gekommen, und er bedauerte, dass diese Allianz im ersten Viertel des 21. Jahrhunderts in der entscheidenden Frage der Finanzierung zerbröckelt sei. Er hatte zum Beispiel den massiven Ausbau des Stipendienwesens als entscheidenden Faktor zum Gelingen des Bologna-Prozesses verstanden, dieses Anliegen habe aber leider politisch einen schweren Stand gehabt.

Dass Kleiber auch den Aufbau der sieben grossen Fachhochschulen der Schweiz favorisierte und diese im Lauf des Bologna-Prozesses mit Bachelor- und einer ganzen Reihe von Masterabschlüssen für viele Studierende eine interessante Alternative zu den Universitäten wurden und das weltweit bewunderte duale Bildungssystem der Schweiz zukunftsfähiger machten, wurde ihm an den herkömmlichen Universitäten in der Deutschschweiz ebenfalls eher übel genommen.

Deutlich weniger war das in der Suisse romande der Fall. In Lausanne wird heute allgemein anerkannt, dass die von Kleiber vorangetriebene Neuaufteilung der Fachbereiche zwischen der kantonalen und eidgenössischen Hochschule vor Ort den betroffenen Fächern in der Forschung und der Lehre im Endeffekt mehr zum Vor- als zum Nachteil gereichte. Dank seinem entschiedenen Eintreten für die EPFL, die ETH Lausanne, ist diese schweiz-, europa- und weltweit zu einem Akteur auf Augenhöhe mit ihrer114 Jahre älteren Zürcher Schwester geworden.

Schliesslich hat Kleiber auch zielstrebig darauf hingearbeitet, dass 2008 in Genf das Universitätsinstitut für internationale Studien mit jenem für Entwicklungsfragen zum Institut de hautes études internationales et du développement (IHEID) zusammengeschlossen wurde – eine Fusion, die sich für die Schweizer UNO-Stadt sowohl in wissenschaftlicher wie in diplomatischer und politischer Hinsicht als grosser Gewinn herausgestellt hat.

Patrick Aebischer, Präsident der EPFL von 2000 bis 2016, geht in seinem Nachruf auf Kleiber so weit zu sagen, dieser sei dank seiner Intelligenz, seiner Kühnheit und seinem Mut zum «maître architecte» der Erneuerung einer ganzen Region geworden. Er habe der Suisse romande erlaubt, «sich zu emanzipieren und ein neues Vertrauen in ihre Zukunft zu finden.» Das mag nach einem Loblied auf einen langjährigen Freund und Förderer klingen, der Kleiber für Aebischer tatsächlich war. Aber dieses Lob wird in der Suisse romande von einer Mehrheit der besser informierten Menschen geteilt – bei allen Reserven, die von der einen der anderen Seite auch geäussert werden. Kleiber hat es mit Erfolg gewagt, die Vision einer Wissensgesellschaft umzusetzen, in der Forschung, Bildung und das Kulturschaffen eng miteinander verbunden werden.

Utopie als unmittelbare Aufgabe

Zum Abschluss seiner Tätigkeit als Staatssekretär hat er diese Vision 2006 in seinem hundertseitigen Essay «Créer. Pour une société de la connaissance» festgehalten. Es ist sein intellektuelles Vermächtnis, ein vehementes Plädoyer für eine politisch aktive Zivilgesellschaft und für einen Staat, der die blinden Kräfte des Marktes und der Technologie steuert und dazu auch die nötigen Finanzen generiert. Beides wird aus seiner Sicht nur auf der Basis einer Sinnsuche gelingen, die die unterschiedlichen und gegenseitig konkurrierenden Wahrheiten der Künste, der Wissenschaften und der Politik kritisch prüft, anerkennt und miteinander zu verbinden sucht.

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(Bild: Daniel Rothenbühler)

Für alle drei Bereiche gilt nach Kleiber der Wahlspruch, den der jüdische Theologe Rabbi Hillel, der Ältere (um 30 v. Chr. bis 9 n. Chr.) in den Sprüchen der Väter 1,14 festhielt und der im Zentrum von Kleibers Essays steht: «Wenn ich nicht für mich bin, wer ist dann für mich? Solange ich aber nur für mich selber bin, was bin ich? und: Wenn nicht jetzt, wann sonst?»

An diese Maxime, die seine Familie auch in seine Todesanzeige aufnahm, hat Kleiber sich nicht nur persönlich gehalten, sie hatte für ihn, wie der Essay und sein ganzes Wirken zeigen, auch eine eminent politische Bedeutung: für die Zivilgesellschaft, für die politisch Verantwortlichen und für die ganze Schweiz. Für diese sogar ganz besonders. Er sah die Utopie einer Schweiz, die nach innen und nach aussen solidarisch ist, nicht als Fernziel, sondern als unmittelbare Aufgabe. Vor allem hielt er es auch für grundsätzlich falsch, möglichst, auf «den richtigen Zeitpunkt» zu warten, wie das nach Hugo Loetscher die Schweizer:innen immer noch zu tun pflegen (im Gegensatz zu ihrem Schöpfer, der wenn er ein Schweizer gewesen wäre, die Welt und damit die Schweiz gar nie geschaffen hätte).

Gerade angesichts der rasant voranschreitenden Klimakatastrophe gab Kleiber der Frage «Wann sonst?» in jüngerer Zeit noch mehr Gewicht als vor zwanzig Jahren. Sich von ihr leiten zu lassen, schien ihm nur möglich, wenn die einzelnen Bürger:innen ebenso wie die ganze Zivilgesellschaft Gesinnungs- und Verantwortungsethik nicht mehr trennen, sondern miteinander verbinden würden. Im Essay fordert er die Menschen, die mit ihrer Gesinnungsethik Autorität gewonnen haben, auf, politische Verantwortung zu übernehmen, nicht um sich von ihren Überzeugungen zu verabschieden, sondern um sie in die Tat umzusetzen.

Er selbst machte dies nach seinem Abschied aus der hohen Politik zunächst, indem er sich tatkräftig für Kunst- und Kulturschaffende einsetzte und ihre Verbindung mit der Zivilgesellschaft und der Politik zu voranzutreiben suchte: als Präsident sowohl des Stiftungsrats des Istituto Svizzero di Roma von 2008 bis 2016 wie des Stiftungsrats der Theaterhochschule der Suisse romande in Lausanne von 2007 bis 2017. 2016 produzierte er zwei Kurzfilme: «La démocratie à l’épreuve de la mondialisation» - «Die Demokratie auf dem Prüfstand der Globalisierung», worin er auf die Gefahren für das Fortbestehen funktionierender Demokratien hinwies, und «Ailleurs» - «Anderswo», eine Einladung, sich der Herausforderung der Migration im Geist der kantianischen Hospitalität zu stellen.

«Streiten wir uns»

In derselben Zeit hat er mit grosser Beharrlichkeit auch darauf hingearbeitet, öffentliche Foren zur Debatte über dringende Fragen der Gegenwart und die Gestaltung der Zukunft zu organisieren. Mitten im Covid gründete er zusammen mit Yves Daccord, dem ehemaligen Direktor des IKRK, die Association Disputons-Nous (ADN) zur Durchführung von Disputen, wie sie schon im Mittelalter und der frühen Neuzeit zur Klärung von Grundfragen der Menschheit abgehalten wurden. «Hass», «Widerstand», «Migration», «Gender», «Demokratie», «Auto», «Spital», «Grenze», «Wachstum», «Landwirtschaft» und «Medizin» waren die Themen, die in elf Grossveranstaltungen mit einem breiten Publikum verhandelt wurden. Als die Metastasen eines Melanoms ihm den Tod brachten, war er gerade daran, weitere öffentliche Debatten zu den Themen «Familie» und «Religion» zu planen. Er ging im Sinn von Jürgen Habermas davon aus, dass vernünftiges Handeln sich nur in der freien Deliberation herstellen lasse.

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Plakat zum Disput «Sur les chemins de la haine» / «Auf den Wegen des Hasses». (Bild: JO-LORE / dispoutons-nous)

Die Einrichtung dieser Disputationen ist Kleibers lebenspraktisches Vermächtnis. Zum grenzüberschreitenden Dialog befähigt wurde er von klein auf mit einer Mutter kanadischer Herkunft, mit sieben Geschwistern und einer Zwillingsschwester, der Ehe mit einer Deutschschweizerin und Reisen in alle Kontinente, auch in Länder, die als Tabuzonen galten und gelten. Sein Essay «Créer» endet mit einer afrikanischen Fabel, die erzählt, wie ein Dorf verödet, weil seine Bewohner:innen sich dadurch zu schützen suchen, dass sie die schlechten Zweige eines Baumes abbrechen. Überlebensfähig ist gemäss der Fabel nur eine Gemeinschaft, die das Ineinander von Gutem und Schlechtem, Schönem und Hässlichem, Eros und Thanatos akzeptiert und im Palaver zu entwirren sucht. Darin sieht auch der Verein «Disputions-nous», «Streiten wir uns» die einzige Möglichkeit, zu überleben und mehr als das: zu gedeihen.

Nur in der Bereitschaft zum Dialog hat Kleiber aus eigener Überzeugung der Berufsbezeichnung treu bleiben können, die nun auch seine Todesanzeige ziert: «Architecte». In diesem Beruf, der für ihn eine Berufung war, sah er Wissenschaft als Produzentin von Erkenntnissen, Kunst als Produzentin des Schönen und Politik als Produzentin von Möglichkeiten vereint, um über die materiellen Bauten hinaus auch in gesellschaftlichen Einrichtungen dauerhaften Zusammenhalt zu stiften.

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