Dürrenmatt ennet der Rösti
Der Auftakt zum Jubiläumsjahr des Centre Dürrenmatt Neuchâtel stand ganz im Zeichen der Landessprachen. Im Zentrum der Sonderausstellung «Musique Musik» steht die erste Frau Dürrenmatts, Lotti Geissler.
Ein volles Haus hatte das Centre Dürrenmatt Neuchâtel (CDN) am 21. Februar zum Auftakt seines 25. Geburtsjahrs. Abgesehen von den zahlreichen Honoratior:innen aus der ganzen Schweiz und den Nachbarländern bis hin zum Botschafter der Republik Korea war das Publikum grossmehrheitlich französischsprachig. Pari gagné!, konnten mit Madeleine Betschart, der Leiterin des CDN, alle sagen, die sich seit einem Viertjahrhundert um eine stärkere Verankerung dieses Kulturzentrums in der Suisse romande bemühen.
Ein solcher Erfolg war nicht von Beginn an selbstverständlich. Es war ein kühnes Unterfangen von Charlotte Kehr (1927-2011), der zweiten Ehefrau Dürrenmatts, dessen erstes Haus der Eidgenossenschaft zu schenken und damit die Auflage zu verbinden, es sei in das Gesamtkonzept eines neu zu errichtenden Dürrenmatt-Zentrums zu integrieren. In diesem sollte nach ihrem Wunsch das bildnerische Werk des Verstorbenen einer breiten Öffentlichkeit zugänglich gemacht werden.
Das war ein grosses Wagnis an diesem Ort, weitab vom Stadtzentrum Neuenburgs, oberhalb des Vallon de l’Ermitage. Gerade dies, eine Ermitage, eine Einsiedelei, hatte Dürrenmatt gesucht, als er 1952 mit seiner Frau Lotti und den Kindern in das abgelegene Haus am Chemin du Pertuis-du-Sault 74 eingezogen war.
Um diese Abkehr von der betriebsamen Öffentlichkeit, um eine ganz dem Schreiben gewidmete Existenz ging es ihm damals. Und während der folgenden 38 Jahre hielt er auch den Kontakt zur französischsprachigen Umgebung eher auf Sparflamme.
In dieser Abgelegenheit einen Treffpunkt zum literarischen und vor allem bildnerischen Werk des Weltautors aufbauen? An diesem Vorhaben hatten vor 25 Jahren viele Kenner:innen sowohl Dürrenmatts wie der politischen und kulturellen Verhältnisse Neuenburgs grosse Zweifel. Die beiden Leiterinnen des Zentrums, Janine Perret Sgualdo von 2000 bis 2014 und ihre Nachfolgerin Madeleine Betschart haben alles daran gesetzt, das Wagnis der 2011 verstorbenen Stifterin des CDN doch zu bestehen. Mit Erfolg, wie nun allein schon die Resonanz des Jubiläumsauftakts zeigte. Das CDN und mit ihm Dürrenmatt ist voll ennnet dem Röstigraben angekommen.
Über 50 Wechselausstellungen haben die beiden Leiterinnen in den 25 Jahren neben der Dauerausstellung ins Werk gesetzt, mit einer Vielzahl von Veranstaltungen und Forschungskolloquien. So haben sie das Zentrum zu einem festen Bestandteil des Neuenburger Kulturlebens gemacht, wie Julie Courcier Delafontaine, Gemeinderätin der Stadt Neuenburg, in ihrem Grusswort an der Veranstaltung betonte.
Musique Musik mit Lotti Geissler
Zum Jubiläumsjahr haben Madeleine Betschart und ihre Crew nun eine besonders schöne Idee umgesetzt: Im Zentrum der Sonderausstellung «Musique Musik» vom 21. Februar bis zum 22. Juni steht die erste Frau Dürrenmatts, Lotti Geissler (1919-1983). So werden beide Frauen geehrt, die zum Lebensglück des grossen Dramatikers beitrugen und ihn inspirierten, wie Madeleine Betschart in ihrer Einleitung des Abends festhielt. Mit beiden war er durch das Theater verbunden, mit der Filmerin Charlotte zudem durch die bildende Kunst, mit der Schauspielerin Lotti vor allem durch die Musik. Nun stellt die jetzige Ausstellung erstmals diese Frau ins Zentrum, mit der er 37 Jahre zusammenlebte und drei Kinder hatte, die aber immer hinter ihm und seinem Schaffen zurückstand. Und mit ihr wird die Öffentlichkeit auch auf den Bereich der Musik aufmerksam, die bisher in ihrer Bedeutung für sein Leben und sein Werk kaum beachtet wurde.
Der ganze Abend des Jubiläumsauftakts wurde deshalb am Flügel begleitet, auf dem Lotti Geissler einst spielte und nun die Pianistin Veneziela Naydenova die «Vermutungen über Lotti. Zehn Capricen für Klavier» des österreichischen Komponisten Gottfried von Einem, eines Familienfreundes von Lotti und Friedrich, zur Aufführung brachte.
In ihrem Grusswort der Stadt Neuenburg blickte Julie Courcier Delafontaine auf eine dreifache Liebe zurück, die sich am Chemin du Pertuis-du-Sault 74 entfalten konnte: jene zwischen dem CDN und Neuenburg, jene zwischen Friedrich und Lotti und jene der beiden zur Musik. Der Neuenburger Regierungsrat Alain Ribaux ehrte Dürrenmatt als einen Planeten, der es mit seinem unermesslichen Umfang zum Abenteuer macht, ihn zu umkreisen.
«Un souvenir très fédéral»
Im Hauptbeitrag des Abend würdigte die Bundesrätin Elisabeth Baume-Schneider die beiden grossen Geschenke, die Dürrenmatt und Charlotte Kerr der Eidgenossenschaft gemacht haben, er mit der Stiftung des Schweizerischen Literaturarchivs, sie mit jener des CDN.
Ein Archiv sei kein Friedhof, sondern ein «vivier», ein Ort, dem Leben und Ideen entspringen, sagte sie, und ging ausführlicher auf das literarische Schaffen des Weltdramatikers und sein Nachwirken ein. Dabei machte sie sowohl in der Erwähnung des Amerika-Romans «L’or» von Blaise Cendrars wie jener von Dürrenmatts «Alter Dame» auf gekonnte Weise verhaltene Anspielungen auf die unmittelbare Gegenwart, in der Recht und Gerechtigkeit der Gewalt und der Macht des Geldes geopfert würden.
Im Besonderen würdigte sie auch die Wichtigkeit der literarischen Metapher im Werk Dürrenmatts. Diese erlaube es uns, besser zu sehen, was sich in der Realität tue, und zugleich über sie hinauszudenken. In einem «souvenir très fédéral» erinnerte sie an die denkwürdige Rede, die Dürrenmatt Ende 1990, drei Wochen vor seinem Tod, zu Ehren seines Dramatiker-Kollegen Vaclav Havel in Zürich hielt. Während ihre Vorgänger damals nur mit Empörung auf Dürrenmatts Rede von der Schweiz als Gefängnis zu reagieren wussten, lobte sie nun den hohen Wert von solch ebenso verstörenden wie störenden Metaphern und einer Komik, die eine befreiende Distanz zur Wirklichkeit ermögliche. Zur Verteidigung des damals heftig Angegriffenen sagte sie, «il faut aimer pour critiquer».
Zum Abschluss der Veranstaltung fragte Madeleine Betschart im Gespräch mit Mario Botta, was er als Architekt des CDN mit dem Raum verbinde, in dem wir uns heute befänden. Er liebe diesen Saal, sagte er, habe ihn sich aber immer eher leer vorgestellt als so voll wie an diesem Abend. Nun aber freue er sich, dass das zahlreiche Publikum diesen Raum mit menschlicher Präsenz «füttere». Und damit spielte er wohl auch darauf an, dass er das grosse, halbrunde Kellergewölbe 2000 in einem Interview zur Eröffnung des CDN als «Erdbauch» bezeichnet hatte, der «ein überraschendes Gefühl der Geborgenheit» auslöse. Er wechselte in einer zweiten Antwort von Französisch auf Italienisch und lobte in Anknüpfung an Baume-Schneiders Ausführungen zu Dürrenmatts Havel-Rede die geniale Intuition des damaligen Festredners, die weiterhin volle Geltung bewahre. Gerade heute gebe es wieder vermehrt Menschen, die Gefangene und Wärter miteinander verwechselten.
Präsenz der Landessprachen
Mit seinem Wechsel von Französisch auf Italienisch bestätigte Botta die Präsenz der drei grossen Landessprachen in diesem eidgenössischen Kulturzentrum, die Baume-Schneider zuvor hervorgehoben hatte: Deutsch mit dem Autor, der darin gewürdigt werde, Französisch mit dem Ort, an dem es stehe, und Italienisch mit dem Architekten, der seinen Bau entworfen habe. Im CDN und noch deutlicher im Schweizerischen Literaturarchiv, wo auch die rätoromanische Literatur vertreten ist, wurde Dürrenmatts Hinterlassenschaft zu einem einigenden Faktor der ganzen Schweiz.
Einigend wirkt auch die immer neue Übersetzung seines deutschsprachigen Werks in die anderen Landessprachen. In Romanischbünden ist im SJW/OSL-Heft «Il tgaun» die Übersetzung des grossen Bündner Autors Leo Tuor der wohl ersten Erzählung Dürrenmatts «Der Hund» ins Sursilvan zu lesen. Im Tessin würdigte Manuela Mazzi in der Wochenzeitung «azione» jüngst die Neuübersetzung der Erzählung «Grieche sucht Griechin» von Margherita Belardetti, die 2024 bei Adelphi herauskam. Sie vergleicht die Übersetzung dieser erfahrenen Übersetzerin auf erfreulich eingehende Weise mit jener von Mario Spagnol von 1963 und kommt zum Schluss, Belardetti erlaube eine flüssige, moderne Lektüre, Spagnol hingegen biete ein tieferes Eintauchen in die bürgerliche Welt, über die Dürrenmatt sich so gerne lustig machte. Aktuell bleibe der subtile Sarkasmus Dürrenmatts, der im Spott über die Konformismen seiner Zeit eine Zerbrechlichkeit der moralischen Systeme aufzeige, wie sie auch heute zu beobachten ist.
In der Suisse romande hat Alexandre Pateau für den Pariser Verlag Éditions Gallmeister die Kriminalromane «Der Richter und sein Henker», «Der Verdacht» und «Das Versprechen» sowie die Erzählung «Die Panne» neu übersetzt und die Éditions Zoé haben nun auch die ursprüngliche Hörspielfassung der «Panne» in seiner Übersetzung herausgebracht.
Mit dieser Übersetzung hat Pateau auch sein komödiantisches Talent als Textperformer auf der Bühne entdeckt und geht damit auf Tournee, sei es in Buchhandlungen oder in Restaurants, wo er mit seinen «lectures-bouffes» dem Publikum nicht nur das Gelage mit Alfredo Traps erzählt, sondern ein solches auch servieren lässt, zu einem Vergnügen, das nicht tödlich ausgeht.
Ab dem 5. Juli und bis zum 9. November wird das Jubiläumsjahr mit der Ausstellung «Friedrich Dürrenmatt – Football» fortgesetzt werden. Einen Vorgeschmack gab Elisabeth Baume-Schneider zum Schluss ihrer Rede, indem sie eine Anekdote des Schriftstellers und Verlegers in Paris Bernard Comment preisgab. Dieser erinnert sich, wie er als etwa Siebenjähriger mit Dürrenmatt Fussball spielte und sich über die nackten ganz weissen Füsse des etwas beleibten Herrn wunderte. Dürrenmatt hat also bei Gelegenheit auch einen Ball gekickt, wenn auch mit nackten Füssen, und nicht nur die Spiele von Neuchâtel Xamax mit dem Teleskop von seiner Terrasse aus verfolgt. Die Aleatorik des Fussballspiels muss ihn ebenso fasziniert haben wie jene der Dramaturgie von Weltereignissen. Nur dass die Erstere harmlos ausgeht, während die Letztere den Weltuntergang möglich macht, wie er im «Ersten Teil» der «Panne» vor der eigentlichen Erzählung festhält. In der aktuellen Weltsituation wirkt geradezu prophetisch, was er da schon 1955/56 ausgeführt hat: «Selbst der Krieg wird abhängig davon, ob die Elektronen-Hirne sein Rentieren voraussagen, doch wird dies nie der Fall sein, weiss man, gesetzt die Rechenmaschinen funktionieren, nur noch Niederlagen sind mathematisch denkbar; wehe nur, wenn Fälschungen stattfinden, verbotene Eingriffe in die künstlichen Hirne, doch auch dies weniger peinlich als die Möglichkeit, dass eine Schraube sich lockert, eine Spule in Unordnung gerät, ein Taster falsch reagiert, Weltuntergang aus technischem Kurzschluss, Fehlschaltung.»