Auf Lesefahrt im Léman Express

Heute geht im Kanton Genf ein dreiwöchiges Projekt zu Ende, mit dem rund 2000 Schüler:innen zum Lesen und zur Benutzung der öffentlichen Verkehrsmittel angeregt wurden. «En wagon-lit» lautet der Titel des Projekts, in dessen Wortspiel aus dem Schlaf- ein Lesewagen wird.

Girl is traveling by train and reading a book. She is teenager, looks serious while traveling and listening music on headphones
«En wagon-lit» fördert das Lesen dort, wo sich die Menschen aufhalten. (Bild: zvg)

Der Kanton Genf erwartet von seinen Primar- und Sekundarschulen seit einigen Jahren, dass sie ihren Schüler:innen eine tägliche Viertelstunde stiller Lektüre eigener Wahl bieten. Das Vorbild für diese Form der Leseförderung bietet das benachbarte Frankreich, das sie seit 2018 landesweit praktiziert. Während diese Lektüre normalerweise im Unterricht stattfindet, bot das Projekt «En wagon-lit» den beteiligten Klassen nun die Möglichkeit, eine Lese-Viertelstunde im Léman Express zu verbringen. Diese grenzüberquerende S-Bahnlinie feiert 2025 ihr fünfjähriges Bestehen. Die SBB und die SNCF haben sie Ende 2019 mit einer direkten Linie von Coppet über Genf nach Annemasse eröffnet, die auch den Kanton Waadt mit der benachbarten französischen Region Auvergne-Rhône-Alpes verbindet und noch weiter ausgebaut werden soll.

Am 17. Oktober endet das Projekt «En wagon-lit» für die Genfer Schulen, denn da stehen die kantonalen Herbstferien an. Das übrige Publikum hingegen kann die Reise im Zug und im selbst gewählten Buch noch bis zum 8. November antreten. Statt im Buch zu lesen können die Passagier:innen über einen QR-Code aber auch einen von zehn Podcasts herunterladen, um während zehn bis 15 Minuten eine:n der zehn Autor:innen anzuhören, die verstorbene Kolleg:inn:en ihrer Wahl aus der Suisse romande vorstellen. «Libre écoute» heisst dieses Projekt, und es bildet wie «En wagon-lit» eine Etappe des vierteiligen Literaturfestivals «Les Livrées» (siehe Kasten).

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Der Léman Express unterwegs im Dienst der Leseförderung. (Bild: zvg)

Leseförderung mit einer Vielzahl von Zugängen

Projekte wie «En wagon-lit», die der Leseförderung über den Normalunterricht an den Schulen hinaus dienen, werden in der Schweiz erst seit der Jahrtausendwende entwickelt. Die PISA-Studien, mit denen die Lesekompetenz der 15-Jährigen in den Jahren 2000, 2009, 2018 und 2022 gezielter ermittelt wurde, zeigen einen stetigen Rückgang der Fähigkeit Jugendlicher, Texte zu verstehen und sich darauf aufbauend mit ihnen auseinanderzusetzen, indem sie sie reflektieren, bewerten und im Hinblick auf ihre eigenen Zielsetzungen einordnen. Um dem fortschreitenden Verlust dieser Fähigkeiten entgegenzuwirken, setzen Bund und Kantone sich – wenigstens in ihren Erklärungen und Beschlüssen – für eine früh einsetzende und möglichst breit greifende Leseförderung ein.

Auf der Grundlage einer «Kann»-Bestimmung im Artikel 15 des Kulturförderungsgesetzes (KFG) von 2009 hält die Verordnung des EDI von 2016 für das entsprechende Förderungskonzept die Ziele fest, «a. das Lesen als kulturelle Fähigkeit und die Freude am Lesen zu fördern; b. den Zugang zu Büchern und zur Schriftkultur zu fördern, insbesondere für Kinder und Jugendliche; c. zu Wissensausbau, Wissensaustausch, Vernetzung und Koordination der Akteure der Leseförderung beizutragen.» Für die Punkte b. und c. setzen sich vor allem die Bibliotheken auf allen Ebenen ein. Ihr Dachverband Bibliosuisse führt dazu seit 2018 im Dreijahresrhythmus die «Schweizer Konferenz Leseförderung» durch und sieht für 2026 die nächste vor.

Entscheidend ist aber, dass Bibliotheken, Literaturhäuser, Theater usw. nicht nur besondere Anstrengungen machen, den lese- und literaturfernen Personen neue Zugänge zu ihren Einrichtungen zu ermöglichen – wozu gerade die Bibliotheken vorbildlich wirken –, sondern auch nach aussen gehen, wie «Les Livrées» das macht, weil die Schwellenangst, solche Institutionen überhaupt zu betreten, gerade bei jenen Leuten besonders gross ist, die am meisten der Leseförderung bedürften. In dieser Hinsicht scheint an den Konferenzen zur Leseförderung immer noch die eine Richtung des Zugangs, jene des erwünschten Publikums zu den Institutionen, im Vordergrund der Förderung zu stehen. Das Lesen «als kulturelle Fähigkeit und die Freude am Lesen» stärken kann man aber nur, wenn man möglichst viele Barrieren abbaut, das heisst Projekte wie «Les Livrées» initiiert und finanziert, die die Leute dort aufsuchen, wo sie hauptsächlich verkehren. Nur so kann man jenen Faktoren begegnen, die das Lesen als elementare kulturelle Fähigkeit in eine marginale Position verweisen und so die Rückschritte in der Lesekompetenz der Jugendlichen und auch der Erwachsenen beschleunigen.

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Éditions Zoé bietet im Rahmen von «Les Livrées» ein Atelier für Jugendliche über die Gestaltung von Buchcovern an. (Bild: zvg)

Zweiklassengesellschaft in den Lesekompetenzen

Zu den Faktoren, welche die Freude am Lesen einschränken, gehören auch bildungspolitische Entscheide, wie zum Beispiel der «Bildungsplan Kaufleute 2023», der den Sprachunterricht in den Berufsschulen ganz auf das Handeln in betrieblichen Situationen ausrichtet, also keinen eigenständigen Sprach- und damit auch Leseunterricht mehr vorsieht und so auch keine Lektüren, die das Lesen zur Freude machen könnten. Dass solches Lesen als wesentliche Grundlage zur Entwicklung der persönlichen Identität Jugendlicher gefördert wird und nicht nur als Instrument effizienter Arbeitsabläufe, scheint nur mehr ein Privileg für die Abgänger:innen der höheren Mittelschulen zu sein. Dieselben Kräfte, die die mangelnden Sprachkompetenzen der Auszubildenden ihrer Berufssparten bemängeln, tragen mit Regelungen wie dem «Bildungsplan Kaufleute 2023» dazu bei, dass sich dies noch verschlimmern wird.

Deshalb haben Lehrpersonen der Berufsschulen in der Suisse romande Anfang 2025 eine Petition für die Wiedereinführung des Erstsprachenunterrichts in den Berufsschulen gestartet. Der Gewerkschafter Gaëtan Jeantet, ein Initiant der Petition, wies bei deren Veröffentlichung auf die Wichtigkeit einer soliden Sprach- und Lesekompetenz für eine demokratische Gesellschaft hin und forderte einen Sprachunterricht an den Berufsschulen, der die Kritik- und Ausdrucksfähigkeit der Auszubildenden durch den Einbezug literarischer Texte, kritischer Analysen von Zeitungsartikeln und Debatten über Abstimmungsvorlagen beinhaltet.

In der Antwort auf eine entsprechende Anfrage der Grünen hat das zuständige Departement Parmelin schon im Herbst 2023 geantwortet, die Unterordnung des Sprachunterrichts unter die beruflichen Handlungskompetenzen gebe den Auszubildenden die nötigen Instrumente, um sich in verschiedenen beruflichen Umfeldern zurechtzufinden, und stelle keine Beeinträchtigung der künftigen Berufschancen dar – von irgendwelchen übergeordneten Erfordernissen wie zum Beispiel der Persönlichkeitsentwicklung und der Teilhabe an demokratischen Prozessen keine Rede.

So widerspricht ein Departement, jenes für Wirtschaft, Bildung und Forschung (WBF), faktisch dem, was ein anderes Departement, jenes des Innern (EDI), im Kulturbereich fordert. Gemeinsam vertritt man in der Kulturbotschaft das hehre Ziel einer «Förderung des Lesens als kultureller Fähigkeit und der Freude am Lesen, des Zugangs zu Büchern und zur Schriftkultur». In der Praxis untergräbt man sie, indem man im Bildungssystem bezüglich der Sprach- und Lesekompetenz eine Zweiklassengesellschaft zementiert: Während Gymnasiast:innen gemäss dem gymnasialen Rahmenlehrplan sich noch «anhand literarischer Werke kritisch mit gesellschaftlichen, ästhetischen und ethischen Fragestellungen auseinandersetzen» sollen, eine Grundvoraussetzung einer lebendigen Demokratie, werden die restlichen zwei Drittel der Jugendlichen der Schweiz in den Berufsschulen nur noch zur Tauglichkeit im Erwerbsleben erzogen.

So teilt die Schweiz die Lesefahrt künftiger Generationen in zwei Abteile auf: erste Klasse für die Abgänger:innen der höheren Mittelschulen, zweite Klasse für den Rest. In der ersten kann das Lesen noch zur Freude werden, in der zweiten bleibt es ein notwendiges Übel. Wohin das letztlich führen wird, kann man in den USA schon heute sehen.

«Les livrées» – ein Jahresfestival in vier «Lieferungen»

Das Festival «Les Livrées» verweist mit seinem Titel darauf, dass es sowohl den Büchern wie ihrer Reise zu den Lesenden und der Eisenbahn gewidmet ist, denn «livrée» erinnert an «livre», Buch, und zugleich an «livrer», liefern, benennt auf Französisch aber eigentlich die Farbgebung der Züge. Das Festival hat interimistischen und damit auch experimentellen Charakter. Es wurde vom Kanton Genf eingerichtet, nachdem dieser die bisherigen Festivals «Poésie en ville» und «Fureur de lire» für beendet erklärt hatte, weil sie zu wenig Publikumserfolg aufweisen konnten.

Die Grundidee von «Les Livrées», die den Kanton anlässlich einer Ausschreibung überzeugte, besteht darin, Bahnhöfe und Züge des Léman Express im Lauf des ganzen Jahres in vier «Lieferungen» mit Literaturveranstaltungen zu bespielen: Im März fanden in Anknüpfung an den «Printemps de la poésie» im Umkreis des Bahnhofs Lancy-Bachet Veranstaltungen statt, die Lyrik in Versen und in Prosa, gesungen, skandiert, geflüstert und gelesen, einem Publikum aller Altersgruppen nahebrachten. Im Mai wurden im Umfeld des Genfer Hauptbahnhofs Cornavin anlässlich des Schweizer Vorlesetags eine Vielzahl von Lesungen zum Thema «Natur» durchgeführt. September/Oktober sind nun eben dem Lesen «En wagon-lit» gewidmet, und Anfang November erfährt das vierteilige Jahresfestival seinen Abschluss mit einer Vielzahl von öffentlichen Performances und Workshops im Rahmen der alljährlich stattfindenden Genfer Messe der unabhängigen Kleinverlage in Chêne-Bourg, wiederum unter Einbezug eines Bahnhofs, diesmal desjenigen der kleinen Nachbargemeinde der Stadt Genf, der als neue Station des Léman Express gebaut wurde.

Das Hauptanliegen der Festivalleiterin Karine Tissot besteht darin, einem breiten Publikum möglichst viele Zugänge zur Literatur zu eröffnen, indem das Festival mit den Veranstaltungen vor Ort geht, an Bahnhöfe, wo viele Leute verkehren. Und zu diesen Zugängen gehört natürlich in erster Linie das Lesen. Deshalb wurde der Leseförderung mit dem Programm «En wagon-lit» ein besonderes Gewicht gegeben. Eine besondere Stärke der «Livrées» besteht zudem darin, dass alle Projektphasen in Zusammenarbeit mit schon bestehenden Veranstaltern entwickelt wurden. Die Auswertung des Ganzen wird zeigen, ob dieses Festival weiterhin Bestand haben wird.

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