Über die Freiheit, sich selbst jenseits kultureller Zuschreibungen bestimmen zu können

Im Essayband «In den Echokammern des Fremden» setzt Martin R. Dean dem eurozentrischen Blick seine vielschichtige nichtweisse Erfahrung entgegen. Anhand des Persönlichen erzählt er präzise und pointiert ein Stück Zeit- und Literaturgeschichte und plädiert für die Neugierde aufs Fremde.

Martin-R-Dean-Ayse-Yaras-2
Martin R. Dean macht anhand der eigenen Familiengeschichte ein Stück Kolonialgeschichte sichtbar. (Bild: Ayse Yavas)

In seinem jüngst erschienenen Essayband «In den Echokammern des Fremden» macht Martin R. Dean die Dominanz des Weissen Blickes, die sein Leben als nichtweisser Schriftsteller in der Schweiz prägte, zum Thema. «Erst mit der Black-Lives-Matter-Bewegung, die sich 2013 als Reaktion auf den Tod des afroamerikanischen Teenagers Trayvon Martin durch Polizeigewalt formierte, begann man, woanders hinzuschauen», so Dean. Die Sprengkraft der Bewegung sei vergleichbar mit der MeToo-Bewegung im Feminismus, welche im Zuge des Weinstein-Skandals ihren Anfang nahm. «Da kam eine Brüchigkeit in die Wahrnehmung», so Dean. Diese Brüchigkeit macht Dean beispielsweise beim Betrachter der Bilder der ghanaischen Künstlerin Lynette Yiadom-Boakye aus. Der Autor wundert sich, dass er wohl kaum andere Bilder kenne, auf denen dunkelhäutige Personen mit einer solchen Souveränität dargestellt sind. Auch die Künstlerin selbst habe beim Gang durch Londons National Gallery kein einziges Bild eines schwarzen Künstlers gefunden, «wohl aber Studien von weissen Malern, in denen die Schwarzen Diener, Sklaven oder Edle Wilde darstellten.»

cover-10056
«In den Echokammern des Fremden» erschien 2025 im Atlantis Verlag in Zürich. (Bild: Atlantis Verlag)

Dean wuchs als Sohn eines Trinidader Vaters und einer Schweizer Mutter in Menziken im Kanton Aargau auf, nachdem er die ersten Lebensjahre auf Trinidad verbracht hatte. Im Roman «Tabak und Schokolade», der 2024 für den Schweizer Buchpreis nominiert war, erzählt Dean die Geschichte seiner Vorfahren. Der Essayband liefert im ersten Teil ergänzende Recherchen und Exkurse rund um den Themenkomplex der kolonialen Familiengeschichte, und der zweite Teil versammelt Essays rund ums Thema des Daheimseins im Anderen, die in verschiedenen Tageszeitungen erschienen sind.

Deans Ururgrossvater wurde 1876 als Kontraktarbeiter von Kalkutta nach Trinidad verschifft. Nachdem 1834 die Sklaverei aufgehoben wurde und sich viele ehemalige afrikanische Sklav:innen selbständig machten, ersetzte das Britische Königreich diese durch billige Arbeitskräfte aus anderen Kolonien, wie Dean schreibt. «Insgesamt brachte der britische Menschenhandel zwischen 1838 und 1917 mehr als 400'000 Menschen in die Karibik», so Dean. Die Deportierten schufteten auf den Plantagen unter ausbeuterischen Bedingungen, durch 10-Jahresverträge ihrer Freiheit beraubt. Die Frauen erlitten häufig sexuelle Gewalt durch ihre Aufseher. Auch Deans Ururgrossmutter wurde jahrelang durch ihren schottischen Aufseher vergewaltigt und bekam drei hellhäutige Kinder von ihm, darunter Deans Urgrossmutter Martha Bardeo.

Vordringen zur eigenen Geschichte

«Die Geschichte Trinidads ist auch meine Geschichte», schreibt Dean. «Ich bin nicht nur der Enkel einer Stumpenarbeiterin und eines Stumpenarbeiters aus dem Wynental, sondern ebenso ein Urenkel eines Kontraktarbeiters und eines namenlosen Schotten. Der Weg von einem aargauischen Kaff bis zu einem Dörfchen in Uttar Pradesh ist lang. Ich musste ihn schreibend ausmessen, dabei immer dem Echo meiner Geschichte nachlauschen». 2003 schrieb Dean im Roman «Meine Väter» erstmals über seinen leiblichen Vater – aufgewachsen war Dean bei seiner Mutter und seinem Stiefvater, der Dorfarzt war, «wodurch dessen Hautfarbe in den Hintergrund trat». Beim Begräbnis des leiblichen Vaters 2007 lernt Dean einen Cousin kennen, der ihm seine Verwandtschaft aufschlüsselt, welche ihm bei seinen Recherchen weiterhilft. «Das war ein grosses Vordringen zu meiner eigenen Geschichte», so Dean, dessen Bücher immer wieder von der Identitätssuche handeln. «Ich gehe davon aus, dass ich mich nicht in einem Reagenzglas entwickle, sondern immer abhängig vom Zeitgeist», so Dean im Gespräch mit cültür. «Die Identität ist zur Hälfte davon bestimmt, wie man sich selbst sieht, und zur anderen Hälfte davon, wie einen die anderen sehen.» Dean betont, dass er keine Nabelschau betreiben wolle und das Persönliche nur insofern verhandle, als dass es Auskunft über das Allgemeine geben könne, sozusagen als Beglaubigung, gemäss dem Vorbild von Annie Ernaux, der er auch einen Essay widmet.

cover-978-3-7152-5039-7
«Tabak und Schokolade», 2024 im Atlantis Verlag erschienen, war für den Schweizer Buchpreis nominiert. (Bild: Atlantis Verlag)

Vom Fremdsein im eigenen Land

Das Fremdsein im eigenen Land begleitet Dean seit seiner Kindheit. So trat er beispielsweise in seiner Jugend dem Fussballclub bei, nicht weil er besonders gut Fussball gespielt habe, sondern weil es der einzige Verein gewesen sei, dem er als nichtweisser Junge hätte beitreten können. «1970 wäre man als Farbiger niemals in den Chor oder in den Trachtenverein gegangen», so Dean. Es sind die Zuschreibungen von aussen, die dem Kind und dem Jugendlichen ständig ein Anderssein suggerieren, darunter auch schmeichelhafte Vorurteile, wie etwa, auf dem Rasen besonders schnell zu sein, was nicht zugetroffen habe. Er sei höchstens ein guter Ballkünstler gewesen.

So wird die erste Reise nach Paris für den jungen Mann zum Erweckungserlebnis, als er von Touristinnen nach dem Weg gefragt wird und damit als das angesprochen wird, was er ist, nämlich er selbst. In Paris lernt er Paul Nizon kennen, woraus sich eine prägende Freundschaft entwickelt. Dean hält fest, dass Nizon kein Begleiter in die kulturelle Vielfalt gewesen sei, sondern eher einer in den weissen Dschungel des Urbanen. «Das moderne Paris, das Paris der Migrant:innen und fremden Kulturen, sah er kaum, und das gab schliesslich den Ausschlag dafür, dass ich seinen Überschreibungen entgehen konnte», resümiert Dean.

Dean ist ein kritischer Geist, der sich bereits in seinen Jugendjahren an seinen Vorbildern wie Hermann Burger, der demselben Dorf entstammt, abarbeitet. Trotz der Bewunderung für Burger erkennt er dessen Blindheit für soziale Missstände, die mitunter dem professoralen Umfeld des Schriftstellers geschuldet war. Dean erinnert sich in seiner Rückschau an seinen Gymnasiallehrer Christoph S., der später sein Dozent an der Universität wird und ihn zum Schreiben ermuntert.

Dieser Weg ist von Selbstzweifeln geprägt, wie Dean in seinem ersten Essay «Porträt des jungen Mannes als Schriftsteller» festhält: «1982 erschien in der Zeitung anlässlich der Publikation meines Romanerstlings ‹Die verborgenen Gärten› ein Foto von mir, und ich erschrak. Ich starrte auf das Bild und fragte mich, was die Leute wohl denken würden, wenn sie das Gesicht eines jungen, schnauzbärtigen und südländisch aussehenden Mannes sehen würden? Konnte einer, der so aussah, überhaupt Schriftsteller sein?» Später als Stadtbeobachter in Zug erlebt er nicht nur Wohlwollen – er wird auch mit offenem Rassismus konfrontiert: Warum ausgerechnet ein Farbiger dieses Stipendium gewonnen habe, fragen die Männer am Stammtisch. Auch auf Lesereise in Deutschland erfährt Dean diese Fremdheit: «Als Autor reiste ich in ein Land, in dem ich in doppelter Weise fremd war. Einmal als Schweizer, was das Gegenüber meist mit einem ungläubigen Lächeln quittierte. Dann auch als Farbiger. Ich zog in die schweizerisch-österreichisch-deutsche Literatur ein, die keine Farben kannte. Ich hatte in der Literaturgeschichte keine Vorgänger.» Dean erinnert daran, dass es in der deutsch- und französischsprachigen Literatur – mit Ausnahme jener von Adolf Muschg – und im Kino lange keine Figuren mit Migrationshintergrund gegeben habe, obwohl bereits in den 90er-Jahren, als er in Baselland als Gymnasiallehrer arbeitete, schätzungsweise 20 bis 30 Prozent der Jugendlichen eine Migrationsgeschichte gehabt haben.

Auch die Schweiz profitierte vom Sklavenhandel

Dean legt den Finger in die Wunde von Basels Beteiligung am Sklavenhandel. Familienunternehmen wie Riedy & Thurninger, Weis & Fis oder Burckhard & Cie verdienten ein Vermögen durch die Finanzierung und Versicherung von Sklavenschiffen, wie Dean aufzeigt. «Sklavenhändler aus Europa tauschten Textilien wie die auch in der Schweiz hergestellten Indiennes gegen Sklaven und Sklavinnen ein. Diese wurden unter grausamen Bedingungen von den Küsten Westafrikas nach Amerika transportiert und dort gegen Rohstoffe wie Kakao, Zucker und Kaffee verkauft», so Dean. Aber auch Intellektuelle wie Isaak Iselin (1728 bis 1782) oder Jacob Burckhardt (1818 bis 1897) trugen zu einem rassistischen Menschenbild bei.

In der Debatte um Dekolonialisierung und kulturelle Aneignung plädiert Dean als «mixed-race person» für Neugierde und kulturelle Offenheit. «Über meinen Körper gingen die Sichtweisen des Kolonialismus in mich ein. Als Bub glaubte ich den Zuschreibungen, dass ich einen anderen Körper hätte als meine weissen Freunde, dass ich also die scharfe Pfeffersauce im Blut hätte.» Gleichzeitig habe er die Vorliebe für alles Britische von seiner Mutter übernommen. «In meiner Frühzeit definierte ich mich also nicht nur mit der Kolonie, sondern auch mit den Kolonisatoren». Die Black-Lives-Matter-Bewegung habe ihm seinen Eurozentrismus und seine koloniale Vergesslichkeit wieder deutlich gemacht, schreibt Dean. Der Ausgangspunkt postkolonialen Denkens, die Unterscheidung zwischen Unterdrückern und Unterdrückten, könne aber nicht immer aufrechterhalten werden. Kulturen seien nie rein, sondern Vermischungsaggregate. «Zuweilen droht die postkoloniale Theorie, das zu übersehen, was sich zwischen den Kulturen abspielt, was als Drittes neu ausgehandelt wird.» Und für diesen «Dritten Raum», gemäss Homi K. Bhabha spricht sich Dean aus: «Denn zuletzt besteht die Freiheit des Individuums darin, sich selbst jenseits kultureller Zuschreibungen bestimmen zu können.»

Diese Freiheitssuche zeichnet Deans Essays aus. Sogartig lässt uns der Autor immer wieder aus anderer Perspektive auf Vertrautes blicken und die eigenen Echokammern ausdehnen, wenn er beispielsweise durch Marseille flaniert oder in Porto die Folgen des Massentourismus beschreibt.

Das könnte dich auch interessieren

stauffer

FRANÇAIS, EXAMEN ORAL

Seit zehn Jahren stagniert Michaels Französisch auf einem bestimmten Niveau. Noëlle vermutet, dass Michael eventuell sogar denkt, dass alle, die Französisch lernen, ein bisschen durcheinanderreden sollten – und so dem ernsten Französisch etwas Fantasie einzuhauchen. Gegen diese Verdreckung des Französischen wehrt sich Noëlle.

Von Revaz/Stauffer |
generated-image (1)

Von Flacheiern, Jugendherdbeeren und auditivien Verteidigungsmitteln

Noëlle Revaz und Michael Stauffer beleuchten in ihrer Kolumne die Vor- und Nachteile einer multilingualen Beziehung. In dieser Folge verrät Michael, warum er Noëlle nicht öfters korrigiert.

Von Revaz/Stauffer |

Kommentare