Eine Erschöpfungsdepression auf der Comedy-Bühne?
Eine Newcomerin aus der Spoken-Word-Szene zeigt, wie das gehen kann. Ein Hochseilakt zwischen Humor und Horror, Verzweiflung und Mitgefühl.
Sie ist wahrlich kein Kind von Traurigkeit, studiert zuerst soziokulturelle Animation, anschliessend Schauspiel und Gesang. Dass immer viel gleichzeitig läuft, ist bei ihr der Normalzustand. In der Poetry-Slam-Szene macht sie sich schon früh einen Namen, tritt im Final der Schweizer Meister:innenschaft auf, moderiert Veranstaltungsreihen in der Roten Fabrik und in Millers Studio, der bekannten Zürcher Comedy-Bühne. Mit «Das kleine Mädchen» kreiert Rhea Seleger 2017 das erste Spoken-Word-Musical der Schweiz.
Aber dann schlittert diese quirlige, kluge und lebenslustige junge Mutter Knall auf Fall in eine veritable Erschöpfungsdepression. Von einem Tag auf den andern geht gar nichts mehr. Der Körper streikt und will nur noch Ruhe. Überwältigt vom überrasanten Leben, breitet sich eine diffuse Trauer und Leere in ihr aus.
Jetzt wagt sich die Künstlerin genau mit diesem einschneidenden Moment ihres bisherigen Lebens auf die Bühne, auf die Comedy-Bühne. Wie soll das zusammenpassen? Das brutal Lähmende und das locker Leichte und Freche, das uns idealerweise zum Schmunzeln und Lachen bringen soll? Hochgradig intim - und das schutzlos ausgesetzt auf offener Bühne?
«Genau darum geht es», sagt Rhea Seleger entschieden. «Man muss diese verdammte Scham überwinden – und sie mit anderen teilen.» Wie geht sie dabei vor? Was hat ihr geholfen? Wo kommt sie an ihre Grenzen? Und wie stemmt sie als Newcomerin die ganze Last einer One-Woman-Show, ohne gleich wieder in einer neuen Erschöpfung zu landen?
Oft mache der Humor, vor allem der absurde, das Unerträgliche erst zugänglich, betont Seleger. Grundsätzlich vertraue sie sehr auf die Lust am Spiel mit Sprache und Körper. Das wird, so darf man annehmen, eine mutige Erkundung von vermintem Gelände. Ein künstlerischer Entwicklungsprozess, der schwer aushaltbare Gegensätze ausloten und für andere vermittelbar machen soll.
Phönix – mehr als ein Mythos?
Am 26. Oktober steigt im Millers die Solo-Premiere. Ausbrennen, Asche werden, Wiedergeburt. «Phönix», so der sprechende Titel: ein hoffnungsvolles Versprechen oder doch verzweifelte Illusion? Mehr als ein schöner Mythos? Das Geheimnis wird sich an diesem Sonntag lüften. Anschliessend wird das Solo-Programm durch die Kleinkunstszene der Schweiz touren. Es ist ein Hochseilakt zwischen Humor und Horror, Verzweiflung und Mitgefühl. Wie das Publikum diesen ungewohnten Spagat goutieren wird, darauf ist die Bühnenkünstlerin selber am meisten gespannt.
«Ich trage dieses Projekt seit fünf Jahren in meinem Kopf herum», erklärt die Performerin im Gespräch zwei Wochen vor der Premiere. Zum wichtigen Zünder wird die Coachingplattform Double, ein Fördermodell von Migros Kulturprozent. In zehn Coaching-Terminen über mehr als ein Jahr verteilt habe sich das Projekt stark konkretisiert, erläutert die Stückautorin (übrigens, die Anmeldefrist für die neue Förderungsphase läuft bis zum 25. November!). Ganz zentral sei für Seleger auch der tragende Support durch zahllose Gespräche mit bereitwilligen Menschen gewesen, die zum Teil selber von ähnlichen Erschöpfungs-Erfahrungen betroffen sind.
Das betäubende Schweigen über diese schreckliche Scham
«Am Anfang steht das Versinken in diese schreckliche Scham: Warum ich? Warum gerade jetzt?», erinnert sich Rhea Seleger. Und verrückt sei gewesen, dass zu Beginn der Krise die Symptome ganz ähnlich gewesen seien wie während ihrer Schwangerschaft. Der Austausch mit anderen habe geholfen, zu erkennen: «Ich bin nicht allein. Und ich bin wegen dieser beschissenen Überforderung nicht einfach selber scheisse.»
Als höchst bedenklich empfindet Rhea Seleger allerdings, dass wir als Gesellschaft in keiner Weise auf solche Situationen vorbereitet sind. Und dass darüber kaum geredet wird. «Es herrscht ein beschämtes, betäubendes Schweigen.» Eine Tabuisierung, die zusätzlich belastet.
Eine Art Abhilfe verschaffte auch die breite Recherche für den Theaterabend: in Fachliteratur, Studien und Statistiken ging Seleger den strukturellen Gründen von Erschöpfungssituationen wie der ihren nach. Ein herausragendes Beispiel: Die eindrückliche Studie «Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit» der Schweizer Soziologin und Geschlechterforscherin Franziska Schutzbach. Das Sachbuch mit seiner feministischen und kapitalismuskritischen Analyse wurde im deutschsprachigen Raum schnell zum vielbesprochenen Bestseller, und Rhea Seleger hat ihn natürlich sofort auch verschlungen.
Die analytische Theorie als Stütze für die spielerische Praxis
Frauen sind in Schutzbachs Analyse nicht einfach erschöpft. Sie werden erschöpft, durch ein destruktives ökonomisches System, das Sorge und Beziehungen zur ausbeutbaren Ressource degradiert hat. «Die Erschöpfung der Frauen ist die Basis unserer Wirtschaft», schreibt sie. Das beginne mit der ständigen emotionalen und sexuellen Verfügbarkeit, setze sich fort in der systemischen Unterminierung des weiblichen Selbstwertgefühls und kulminiere in einem unglaublichen Druck zu körperlicher Konformität, der unweigerlich zu Körperscham führe. Hinzu komme die extrem ungleiche Verteilung der Care-Arbeit, die in Familien mit Kindern zu 80 Prozent von Frauen übernommen werde. «Frauen schieben Doppel-Schichten», so Schutzbachs Fazit.
Ohne einen ganz grundlegenden Wandel des gesellschaftlichen Zeitregimes wird sich die (Selbst-)Ausbeutung von Frauen in Familien und Pflegeeinrichtungen nie auflösen. Schutzbach schlägt deshalb als Orientierungspunkt die „4-in-1-Perspektive“ der Berliner Soziologin und Philosophin Frigga Haug vor. Diese sieht vor, die 16 Stunden, die Erwachsene am Tag wach sind, zu gleichen Teilen für Erwerbstätigkeit, kulturelle Regeneration, Sorge- und Hausarbeit sowie für ehrenamtliches Engagement zur Verfügung zu stellen. Selbstverständlich für Männer und Frauen.
«Zu erkennen, dass diese abgrundtiefe Erschöpfung nicht einfach mein individuelles Problem ist, sondern dass es eine ganze Menge struktureller Gründe gibt, die dafür mitverantwortlich sind, war für mich enorm hilfreich, um wieder produktiv und kreativ zu werden», betont Rhea Seleger. Sie habe damit begonnen, schlimme Situationen möglichst genau aufzuschreiben. «Es ist verrückt, wie absurd und zum Schreien komisch vieles wird, wenn man es mit etwas kritischer Distanz betrachtet», stellt die Performerin fest. So ergaben sich Anregungen für Spielszenen fast wie von selbst.
Natürlich komme ein solcher Absturz nicht von einem Tag auf den andern. Das schleicht sich an, wird verdrängt, geleugnet, bagatellisiert. Blindes Weitermachen ohne Pausen – bis es «Päng!» macht. Seleger hat mehr als ein halbes Dutzend Tiefeninterviews mit anderen Betroffenen geführt. «Krass, wie stark die Parallelen sind! Alle konnten die entscheidenden Momente bis ins Detail erzählen, mit allen körperlichen Symptomen und Ausweichaktionen.» Dafür müsse sie nun selber ein Narrativ finden, um es auch für andere erzählbar zu machen.
Sie sind keine Einzelfälle. Depression ist in den letzten Jahren die am häufigsten auftretende psychische Erkrankung in der Schweiz und die dritthäufigste überhaupt, Tendenz steigend. Fast ein Drittel der Kinder und Jugendlichen zeigt gemäss einer Studie von Pro Juventute zum Thema Stress überhöhte Ausprägungen von Stress in ihrem Leben. 17 Prozent der Menschen in der Schweiz haben bereits ein Burnout erlebt, 25 Prozent sehen sich als gefährdet, wobei junge Frauen zwischen 16 und 39 die grösste Gefährdungsgruppe darstellen. «Phönix» will genau solche Aspekte sichtbar und nachfühlbar machen.
Erneuerbare Energien – auch im Menschlichen
Authentizität und Tiefe im Spiel sind für die Arbeit von Rhea Seleger zentral. «Der Abend ist nicht pointengeil, ich suche nicht den Schenkelklopfer, ziele mehr auf ein «inneres Schmunzeln», meint sie. Vom Poetry-Slam sei sie es gewohnt, dass das Ganze sehr persönlich werde, da habe sie keinerlei Bedenken: «Ich fühle mich safe, weil ich weiss, ich bin durch das alles durch.» Ihre wichtigste Fragestellung sei: «Wie können wir Erfahrungen aus Erschöpfungsdepressionen nutzen, um eine Welt mitzugestalten, in der auch menschliche Energie erneuerbar ist?»
Ein verlässliches Gegenüber
Welche menschliche Begegnung war für die Theaterfrau in diesem ganzen Projekt die wichtigste? Die Antwort kommt wie aus der Pistole geschossen: «Die mit meiner Regisseurin Nicole Knuth! Das war the point of no return!» Ein verlässliches Gegenüber war dadurch in den Prozess fest eingebunden, eine ganz tolle, anregende Person, wie Seleger betont, die ihr einen Mega-Antrieb gebe, ihre Ideen verstehe und sie mit unglaublich guten Inputs stütze und weitertreibe. «Und alles ganz auf Augenhöhe – ein absoluter Glücksfall!» Theater ist immer Teamarbeit, auch wenn man am Schluss ganz alleine auf der Bühne steht.
Was hat ihr im Arbeitsprozess am meisten Mühe gemacht? «Das Selbstmarketing», sagt Seleger lachend. «Das Zugehen auf mögliche Spielorte und das Betteln und Feilschen um Spieldaten, das raubt ganz viel Energie und Zeit. Für diesen unverzichtbaren Teil der Arbeit würde ich bei einem nächsten Mal unbedingt eine Person zuziehen, die sich um alles Organisatorische kümmert, damit ich Kopf und Herz und alle Energiereserven ganz für die Stückentwicklung und das Spiel freihalten kann.»
Das Solo-Programm «Phönix» ist zweifellos mutig und riskant zugleich. Was möchte Rhea Seleger damit bewirken? Es ist auf eine schöne Weise offensichtlich: Sie will mit Ernsthaftigkeit und Humor eine Brücke bauen zum Überwinden der Scham – und zum Herstellen von Verbundenheit und Empathie mit schwierigen Lebenssituationen. Sie will einen sicheren Raum schaffen für Selbstreflexion, sie will mit Offenheit und Verletzlichkeit die Gesprächskultur inspirieren und zur Enttabuisierung psychischer Krankheit beitragen. «Und vielleicht», schmunzelt sie in sichtlicher Vorfreude, «wird dieser Abend in unserem oft so grässlich überfüllten Alltag auch einfach eine kleine, entspannte Auszeit, die uns nicht ganz unberührt lässt.»
Bücher von Franziska Schutzbach:
- Die Erschöpfung der Frauen. Wider die weibliche Verfügbarkeit. Droemer, München, 2021/2024
- Revolution der Verbundenheit. Wie weibliche Solidarität die Gesellschaft verändert. München, 2024