«Die Liebe ist die eigentliche Wirkader in unserer Existenz»

Dieses Jahr wäre der Schweizer Psychiater und Psychoanalytiker C. G. Jung 150 Jahre alt geworden. Cültür sprach mit dem Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und evangelischen Theologen Michael Pfaff über Jungs Begrifflichkeiten und ihre Anwendbarkeit aufs Heute. Ein Gespräch über das kreative Schöpfungspotenzial des Menschen und die drohenden Gefahren durch KI, Effektivitätssteigerung und Verdrängen kollektiver Traumata.

Michael_Pfaff
Michael Pfaff in seiner Praxis in Zürich. (Bild: zvg)

Zunächst war C. G. Jung ein enger Mitstreiter von Sigmund Freud, bis sich ihre Wege 1912 aufgrund unterschiedlicher Auffassungen des Libido-Begriffs trennten. Jung begründete 1913 die Analytische Psychologie und prägte Begriffe wie «das kollektive Unbewusste», «Archetypen», «Individuation» oder «Synchronizität», die später auch die New-Age-Bewegung beeinflussten. Im Gegensatz zu Freuds Tiefenpsychologie spielt in Jungs Lehre die Kreativität und Spiritualität eine wichtige Rolle. Michael Pfaff, Facharzt für Psychiatrie und Psychotherapie und evangelischer Theologe, zeigt im Gespräch mit cültür auf, was uns Jung heute in Zeiten von Effektivitätssteigerung und globalen Krisen noch zu sagen hat.

cültür: Michael Paff, im Roten Buch verarbeitet C. G. Jung den Bruch mit Freud. Die kreative Auseinandersetzung mit seiner eigenen psychischen Krise lieferte ihm die Inspiration für sein Lebenswerk. Was war Ihre erste Reaktion auf das Buch?

Michael Pfaff: Ich war 2009, als das Buch erschien, gerade erst mit der Ausbildung am C. G. Jung-Institut fertig und Assistenzarzt in der Neurologie, da sagte mir das Buch noch nicht viel. Es landete dann erst 2013 im Sinne eines Kunstbuches in meinem Wohnzimmer. Für einen Psychotherapiestudenten, der am Jung-Institut in Küsnacht sein Handwerk als Psychotherapeut lernen will, ist die Analytische Psychologie ein grosser Dschungel mit sehr vielen eigenen Begrifflichkeiten, die sich in Bezug auf die Psychopathologie und Krankheitslehre schwierig systematisieren. Die Psychotherapie nach C. G. Jung ist ein offener Prozess, der auch in der Lehre viele Blüten oder Blasen austreibt. 2013 habe ich mich noch lange nicht als einen fertigen jungianischen Psychotherapeuten empfunden. Daher schreckte mich das Rote Buch anhand der Fülle des mythologischen und ethnologischen Materials und der Symbolkraft der Bilder erstmal ab. Es deckte mir auf, was ich alles noch nicht weiss, und dass man sich Vieles auch aneignen und sich inspirieren lassen muss.

Wie ordnen Sie heute das Rote Buch ein?

Die Geschichte der Veröffentlichung ist ja auch ein bisschen problematisch. Die Psychoanalytikerin Verena Kast findet etwa, man hätte das Buch nicht veröffentlichen müssen. Es ist ein privates Arbeitsbuch von C. G. Jung, in dem er mit sich einen Selbstversuch lebte, was ja auch der Herausgeber, Sonu Shamdasani, hervorhebt. Das Rote Buch zeigt C. G. Jung, wie er geliebt und gelebt hat. Es ist kein Lehrbuch, sondern eine Begegnung mit dem Menschen C. G. Jung, der über eine sehr starke introvertierte Funktion verfügte und ein starkes bildlich-kreatives Potenzial in sich trug. Es wird nicht jeder von uns in der Lage sein, auf dem Kanal der bildlichen Darstellung seine Gefühle und inneren Eindrücke so darstellen zu können. C. G. Jung hatte auch die Zeit, sich einem mythologischen und ethnologischen Studium zu widmen. Das entspricht natürlich nicht mehr unserer heutigen Lebenswelt.

Jung_1
C. G. Jung erforschte im Roten Buch während 13 Jahren sein Unbewusstes. (Bild: zvg)

Wir träumen nicht mehr von Drachen…

Wir träumen nicht mehr so archaisches Material. Und doch, wenn man sich die Grundtechnik der «Aktiven Imagination» zu eigen macht, beim Entdecken von Bildern oder Sequenzen unserer Innenwelt genau hinschaut und nicht die schnelle Information abgreifen will, sondern zum Beispiel in der Deutung eines Traumes diesen Raum nochmals aufgehen lässt, kann das auch heute noch zu vielem symbolischen Material führen. Beschäftigt man sich mit Jung, wird in einem selbst unter Umständen etwas aktiviert. Andererseits finden wir in den Schichten des tieferen Unbewussten, die Jung entdeckte, auch gewisse Urschichten, die archaisches Material beinhalten. Das finde ich auch heute in der Arbeit mit meinen Patienten immer noch. Ethnologisches Material kann helfen, diese Symbole im heutigen Therapieprozess mit heutigen Menschen zu vertiefen. Dadurch entstehen Assoziationen zur Lebenswelt. Diesen Prozess wollen wir im Jungianischen anstreben: die Hinwendung zu sich selbst. Die eigentlichen kreativen Möglichkeiten des persönlichen Lebens sind innerlich aus einem selbst zu holen und nicht aus dem Verstehen und Abschauen des Lebens anderer Menschen.

Die «Aktive Imagination» beschreibt demnach den eigentlichen kreativen Prozess, indem man in ein spontanes Bild reinzoomt und ihm nachspürt.

Ja, Jung betont ja immer wieder, auch in den Zitaten im Roten Buch, dass es eben darum geht, sich von den Dingen ansprechen und auf sich wirken zu lassen. Es geht wie im Zen-Buddhismus, den Jung ja auch rezipierte und mit dem ich mich seit einigen Jahren beschäftige, darum, einfach wahrzunehmen, ohne gleich sich selbst darüberzustülpen. «Sein» anstatt «haben» wie Erich Fromm es ausdrückte. Sich seiend erleben und einfach die Stimmung spüren, dafür stehen auch Jungs Bilder im Roten Buch. Jung wollte nicht den Drachen malen, sondern hatte eine Bestimmtheit in sich, die diesen Drachen irgendwie als stimmiges Seins-Element gemäss seiner aktuellen Verfassung hervorbrachte.

Jung_3
Eine Zeichnung von C. G. Jung aus dem Roten Buch. (Bild: zvg)

«Das kollektive Unbewusste ist, wie es Jung mal in einem Interview sagte, die Essenz des Menschseins»

Anhand der Bilder sieht man auch, wie viel Konzentration in diesem Prozess steckt. Jung huschte nicht skizzenhaft von einem Gegenstand zum anderen.

Die Arbeit am Buch war für ihn eine Art heilige Tätigkeit gewesen. Das Buch stand ja immer auf einer Staffelei. Dabei durften auch mal die Kinder zuschauen, die später berichteten, dass das jeweils etwas ganz Besonderes gewesen sei.

Wie initiieren Sie im besten Fall in Ihrer Praxis einen solchen Prozess?

Das Rote Buch entspricht dem frühen C. G. Jung – wir leben heute in einer ganz anderen Zeit. In der frühen Phase ermunterte Jung seine Patienten, selbst ihr eigenes Rotes Buch zu gestalten. Später sagte C. G. Jung, dass die wenigsten Patienten wirklich eine Tiefe erreichen wollen, und so ist es auch in meiner Praxis. Die Quote an Patienten, die im Psychiater einen weisen Menschen sehen und von ihm einfach eine Art Coaching oder einen guten Ratschlag in ihrer Not haben wollen, nimmt zu. Ich bin mit etwa einem Drittel meiner Patienten in einem wirklich intensiven Prozess, in dem die Patienten Träume liefern und Bilder malen. Ich nehme auch gerne das kreative Schreiben dazu. Aktive Imagination beginnt aber bereits dann, wenn wir ein Traumbild in der Therapie entstehen lassen und uns das genauer anschauen. In der Stunde durchdringt der Analysand das Bild nochmals tiefer, wenn er Fragen vom Therapeuten zulässt. So entsteht eine Lebendigkeit des vormals unbewussten Materials. Es sind eigentlich immer wieder Symbole, um die sich im Gespräch eine Energie bildet, der man folgt. Und das schafft beim Patienten eine schrittweise Anreicherung seiner Selbstwerdung als eines Gefühls, mit sich selbst in Kontakt zu sein.

Um nochmals die archaischen Schichten des kollektiven Unbewussten zu veranschaulichen: Was passiert damit, wenn wir beispielsweise an Entwicklungen wie die KI denken? Berauben wir uns unserer Wurzeln?

Das kollektive Unbewusste ist, wie es Jung mal in einem Interview sagte, die Essenz des Menschseins, wie es auch Aristoteles beschrieben hat: das, was den Menschen phylogenetisch zum Menschen macht, die Instinkte, die Grundformen der Seele. Die Orientierung an unserem kollektiven Unbewussten als Grundorientierung in meinem Menschsein ist ein robuster Kontrapunkt zur KI. Das Gespür für mein kollektives Unbewusstes als meine persönliche Existenzgrundlage richtet mich automatisch dahin aus, dass ich die KI für meine Zwecke benutze, sie in mein Menschsein da integriere, wo sie nützlich ist, und nicht einfach aus einem blinden Ehrgeiz Geister aufrufe, die ich nicht beherrschen kann. Ich erlebe mich durch meine durchlaufene Analyse in einer ruhenden, guten Distanz zu diesen Dingen. Dank meiner Kinder weiss ich zwar, was Instagram und TikTok sind, aber es interessiert mich nicht. Da blitzen immer die gleichen glänzenden Heldentaten auf, und der Held als ein Archetyp des Menschseins hat viel edlere Ausgestaltungen in unserer Geistesgeschichte oder in unserer Hollywood-Anschaulichkeit gewonnen als das, was auf Social Media läuft.

Das kollektive Unbewusste hilft vielleicht auch, in der Überflutung durch Informationen in unserem Alltag, die Spreu vom Weizen zu trennen, weil es in jedem von uns durch die Kulturgeschichte auch eine gewisse Anreicherung erfahren hat und sich daher auch nicht so schnell überspülen lässt. Es hilft mir persönlich, mich in meinem Leben auf das Wesentliche zu konzentrieren.

Jung_3
C. G. Jung betonte die spirituelle Dimension des Menschseins. (Bild: zvg)

Die LGBTQ+-Bewegung würde wohl Begriffe wie Animus und Anima, zwei der wichtigsten Archetypen im kollektiven Unbewussten, weit von sich weisen, denn das hiesse, die weiblichen und männlichen Anteile im Inneren zu integrieren und nicht das Glück im Aussen zu suchen.

Die Integration meiner beiden geschlechtlichen Seelenanteile, die in uns allen vorhanden sind, ist ein intensiver und spannender Prozess der Selbstentfaltung, der aber eigentlich sehr intim ist, eventuell im Raum einer Selbsterfahrung oder sogar Therapie stattfinden kann. Viele der Protagonisten der LGBTQ+-Bewegung meiden meiner Ansicht nach, und das ist auch immer eine Déformation professionelle, weil mich Jung auch spirituell ergriffen hat, die eigentliche Auseinandersetzung mit sich selbst und leben die Identitätskrise einfach aus, ohne wirklich an ihr leiden zu wollen. Das Leiden wird in die Welt projiziert, fast in Form eines Hilfeschreis. Die Gesellschaft soll etwas spiegeln, woran der Leidende Halt finden kann. Diese extrovertierte Bewegung kann eigentlich nur zur Verzweiflung führen. Sie sucht in der Welt ihr Echo und erhofft sich dadurch Klärung, anstatt sich in dieser Entwicklungskrise, in der wir uns anhand der überbordenden Möglichkeiten unserer seit Jahrzehnten immer schneller drehenden Konsumgesellschaft befinden, irgendwo auf greifbare Sicherheiten einzulassen. Das hiesse, anzuerkennen, dass mir meine Introvertiertheit eine automatische und wohltuende Begrenztheit auferlegt, ich innerlich einen Raum vorfinde, der mich auch in meiner Einsamkeit lebendig macht und erfüllen kann. Dann brauche ich gar nicht die Anderen als Zeugen meiner Unsicherheit in meiner Identität.

Bis an die Grenzen zu gehen, ist auch ein Element des Roten Buches…

Jung sagte selber: Wenn er diesen wissenschaftlichen Hintergrund nicht gehabt hätte, keine sozial stabilen Verhältnisse, seine Reputation und einen sichernden Wohlstand, dann hätte das auch im Wahnsinn enden können. Er hatte jedoch genügend Ich-Stärke, um diesen Prozess, der ihn doch überrascht hatte, einordnen zu können. Ein derart starker Einbruch des Unbewussten in meinen Alltag kann natürlich auch psychotische Prozesse auslösen, wie zum Beispiel bei einer Schizophrenie. Betrachtet man heutige Ansätze der Psychotherapie, dann setzen sie meistens an einer sogenannten Strukturorientierung an. Die Festigkeit oder der Entwicklungsstand der Ich-Struktur eines Menschen sollte Aufschluss geben, ob jemand zu einer Arbeit am Unbewussten aufgerufen werden kann und dann mit Traumdeutung, Imagination und eventuell auch konfrontierenden Interventionen gearbeitet wird. Oft kann es nur darum gehen, mit jemandem gewisse Irritationen des Alltags zu besprechen, ihm die Sicht eines anderen oder des situativen Gegenübers näherzubringen. Das war Jung damals noch nicht so bewusst, weil er selber in einem sehr starken Prozess eingebunden war.

Jung_6
Mandalas tauchen im Roten Buch immer wieder auf. (Bild: zvg)

«In jedem Guten steckt auch der Keim des Bösen und in jedem Bösen auch der Keim des Guten. Jede Krise hat auch ihre Chance.»

C. G. Jung

Die Corona-Zeit wurde in der Schweiz bis heute politisch nicht aufgearbeitet. Auch künstlerisch fand kaum eine solche Auseinandersetzung statt. Was für Folgen hat das für eine Gesellschaft, wenn solch traumatische kollektive Erfahrungen nicht aufgearbeitet werden?

Aus meiner Sicht kann diskutiert werden, ob nicht die Verarbeitung der Corona-Krise auch eine Folgeerscheinung der Nichtverarbeitung der möglichen psychologischen Hintergründe der zwei Weltkriege sein könnte. Haben die Generation der Kriegskinder und Enkel nicht versucht, das menschliche Grauen, das Böse vor allem durch eine Weisswascherei auszubleichen, ohne dass die Spaltung im Menschen integriert wurde? In ganz Europa trugen die Kleider Blutflecken, und man versuchte einfach, mit viel Chlor diese auszuwaschen, ohne sich zu fragen, wo die Flecken herkommen. Man wollte möglichst rasch wieder weisse Kleidung tragen. Das geschah durch Schlagworte wie «Weltwirtschaftswunder», «Wiederaufbau», «blühende Landschaften». Aus meiner Sicht wurde und wird bis heute übersehen, dass der Mensch dieses destruktive Potential in sich trägt. Jung nennt dies unseren Schatten, unsere je eigene Dunkelheit, die wir meiden. Aber das Bewusstwerden und der Umgang mit dem Schatten führen für Jung zur Versöhnung der Gegensätze – und damit zu einem «höheren Dritten». Wir müssen uns in Europa dringend fragen, ob wir dies bereits geleistet haben. Frei nach Jung könnte man sagen, wir müssen in der Lage sein, den inneren Dialog zu führen, um für den Äusseren motiviert zu sein. Oder in seinen Worten: «Wenn der Mensch lernt, mit seinem eigenen Schatten fertig zu werden, dann hat er etwas Wirkliches für die Welt getan.»

Die Corona-Krise ist ein weiteres Beispiel dafür, dass wir uns weiterhin nicht mit den existentiellen Grundthemen des Todes, der Vergänglichkeit und dem Bösen im Menschen integrativ auseinandergesetzt haben, sondern einfach wieder blind weitermachen. Der Druck, der durch den gefährlichen Virus auf uns ausgeübt wurde, führte vielen von uns vor Augen, wie eine stillere Welt sich anfühlen könnte. Die Folgen der notwendigen autoritären Machtausübung des Staates, welche auch in der Schweiz neben vielem Guten auch zu menschlichem Leid und Elend geführt hat, zu einer Spaltung der Gesellschaft, werden bis heute zu wenig gewürdigt. Ich zitiere dann gerne wieder Jung: «In jedem Guten steckt auch der Keim des Bösen und in jedem Bösen auch der Keim des Guten. Jede Krise hat auch ihre Chance.»

Wie äussert sich diese fehlende Auseinandersetzung?

Wir beschleunigen einfach aus dieser Krise heraus und drücken noch stärker aufs Gaspedal. Als Burnout-Psychiater beobachte ich, dass auch in der Schweiz eine Hire-and-Fire-Mentalität Einzug hält. Wir suchen das Heil in einer weiteren Effektivitätssteigerung – und versuchen mit noch mehr Gier nach materiellem Wohlstand diese Krise zu bewältigen, anstatt die Impulse, die nach Introvertiertheit, Begrenzung und Ruhe rufen, zu beachten und auch danach zu leben. Das war für viele Menschen ja auch das Wohltuende der Corona-Krise, mal nirgends hin zu müssen, Freiräume zu haben, was ganz anderes zu machen. Die negativen Folgen waren Überwältigung durch Einsamkeit; das hätte dazu führen können, sich dieser grundmenschlichen Gegebenheit zuzuwenden. Stattdessen ist eine obskure, psychologisch basierte Haltung entstanden, die Einsamkeit als eine neue Krankheit behandelt. Wie soll diese Einsamkeit in der Welt aufgelöst werden, indem wir zwangsvergemeinschaftet werden? Das ist völlig absurd. Einsamkeit gehört einfach zum Menschsein. Die introvertierte Einstellung führt einen ja in die Einsamkeit dieser Existenz und dadurch auch in die Dringlichkeit dieses Lebens.

Jung_7
Einsmkeit gehört für C. G. Jung zu den Bedingungen des Menschseins. (Bild: zvg)

Dazu passen auch die vielen ADHS-Diagnosen…

Jetzt fliegen wir natürlich sehr hoch. Die ADHS-Diagnosen werden zunehmend gestellt, weil wir Eltern selber völlig unruhig und strebsam sind, keine Pausen mehr machen und keine Grundbestimmungen mehr in uns selbst suchen, sondern nur noch im Aussen galoppieren und wollen, dass die Kinder da parallel mitgaloppieren, um irgendwie noch Kontakt zu halten. Was wir erleben, ist ja analog unseres Erwachsenendrucks eine Beschleunigung des Kindheitslebens. Die Tiefe, dass weniger mehr ist, kommt weniger zum Zug. Die unangenehmen Eigenschaften werden ja dann auch in die Welt projiziert: «Mein Kind ist so unruhig, es nervt mich, ich möchte nur das, was zu mir passt», gemäss dem Modell: Es tropft Blut, es tropft Endlichkeit, es tropfen die Grenzen unserer Erfahrung, aber ich möchte es einfach nur wegwaschen, aber nicht die Bedingungen dieser Existenz übernehmen.

Oder sich stattdessen ganz verkriechen wie die Asperger-Betroffenen…

Es gibt ja die These, dass die zunehmenden Asperger-Diagnosen mit einer Art Umweltvergiftung einhergehen können. Aber der Asperger ist nicht der Introvertierte. Beide Funktionen, extrovertierte und introvertierte, sind in allen Menschen vorhanden. Jung betont, dass es diese Wechselphase in der Mitte des Lebens gibt. Der extrovertiert angelegte Mensch hat die Aufgabe, in der zweiten Lebenshälfte die introvertierte Haltung in sich zu entdecken, und umgekehrt. Der immer Introvertierte darf in der zweiten Lebenshälfte das Echo im Aussen suchen, mehr Spontanität leben. Aber Asperger-Patienten haben ein krankhaftes Leiden. Die Betroffenen verfügen über eingeschränkte Fähigkeiten, sich in dieser Welt kommunikativ zu orientieren. Sie haben Schwierigkeiten, gewisse Kollektivmuster wahrzunehmen und darauf zu reagieren. Das sind aus meiner Sicht hirnorganisch bedingte Einschränkungen des Menschseins, die als Extreme dann auch eine Betreuung benötigen. Der hochfunktionale Autist, der zum IT-Spezialisten wird, ist ein Grenzphänomen.

Dass aber sogar manche sehr gesunde Menschen meinen, sie seien Autisten und bräuchten Hilfe, um in ihrer Sensibilität wahrgenommen zu werden, ist in der Regel kein Autismus. Auch wenn gewisse Fragebögen darauf hindeuten, geht es da meist um andere Bedürfnisse. Das sind vielleicht introvertierte Charaktere, die sich in dieser sehr stark extrovertiert fordernden Welt nicht mehr zu Hause fühlen. Sie können sich mit ihren introvertierten Funktionen nur noch notdürftig orientieren, weil diese Welt halt keine introvertierten Räume mehr bietet. Introvertierte haben immer weniger Akzeptanz und es sind doch viele, die so leben.

«Wir leben in einer selbstauferlegten Beschleunigungskultur»

Zum einen gibt es einen Therapiehype, und zum anderen gibt es diese Berührungsangst vor den schwerwiegenden psychischen Erkrankungen wie Schizophrenie und Psychosen.

Das ist ja auch der grosse Verdienst von Jung, dass er sagte, dass auch die Psychose, das Schizophrene irgendwo einen Sinn hat. Das ist ein Versuch eines menschlichen Wesens, einen sinnhaften Zusammenhang in seiner Existenzmöglichkeit zu schaffen. In der allgemeinen Beschleunigung und Effektivitätssteigerung haben wir keine Zeit mehr dafür, uns auf so komplexe Prozesse einzulassen. Wir leben in einer selbstauferlegten Beschleunigungskultur. Die Folgen auf unseren Bioautomaten sind ein Kampf-und-Flucht-Syndrom wie im Song von Deichkind: «Geradeaus». Mit KI kommt der rasende Stillstand auf uns zu. Nicht wenige Menschen steuern, ohne es zu wissen, auf einen Zustand zu, wo sie nur noch vor ihrem Bildschirm sitzen und sich mit riesiger Geschwindigkeit in Datenautobahnen bewegen, und Gefahr wittern, wenn sie in die Migros gehen müssen. Uns droht eine zunehmende Entmenschlichung, eine Beschneidung dessen, was sich in uns zeigen will, was gelebt werden kann. Wir bedrohen uns selber und wissen eigentlich gar nicht genau, warum.

Am Ende werden die menschlich bleiben, die wirtschaftlich gut gebettet sind und auch einen gewissen kulturellen und sozialen Hintergrund im Sinne von Pierre Bourdieu mitbekommen haben. Alle anderen bleiben auf der Strecke.

Die Vision, die in den Mad-Max-Filmen dargestellt ist, dass nur noch wenige Menschen über eine freie Geistigkeit und die Möglichkeit des Denkens verfügen und eine grosse Menge in Form von entleerten und abhängigen, selbst sinnentleerten Wesen vor sich hinvegetiert, ist schon denkbar heutzutage, – dass wir uns selber unter einem selbst auferlegten Druck abschalten.

Michel Houellebecq beschrieb in seinem Roman «Die Möglichkeit einer Insel» vor 20 Jahren eine solche Science-Fiction-Dystopie, in der die Menschen am Computer nur noch ihre Lebensberichte verfassen und von ihren Klonen abgelöst werden, bis ein Protagonist plötzlich die Sehnsucht nach Liebe verspürt und sich auf die Suche nach diesem Gefühl macht.

Das Rote Buch ist im Kern ja ein grosser Ausdruck für die Liebe zum Leben, eine Liebe, sich diesem Leben auszusetzen, Bilder zu gestalten, Deutungen von sich zu geben. C. G. Jung entblösst sich ja auch in diesem Buch. Das ist ja immer etwas Ambivalentes – ein höchstpersönlicher Prozess, aber er bannt ihn doch auf Papier. Das Rote Buch beinhaltet einen Reichtum. Jung hätte wahrscheinlich jeden Tag fünf Bilder malen können, wenn er die zeitliche Kapazität dafür gehabt hätte. Und das ist das, was Houellebecq ausdrücken will: Anstatt zu leben, bleibt in einer solchen postpostmodernen Gesellschaft nur noch ein Bericht über das jeweilige Leben. Der Einzelne ist nicht mehr sein Leben, bis einer diesen Zustand durchbricht und die Liebe in ihm aufkeimt. Die Liebe will ja mehr, sie will die Vergemeinschaftung, den Kontakt. Sie will eine Qualität in dieser Welt, die im Verfassen eines Berichtes nicht auftaucht. Und das will im Kern ja auch Jung. Er will diesen Mehrwert des Lebens irgendwo ausleben, diese Tiefendimension. Das Rote Buch ist eine ständige Grenzerfahrung in der Unendlichkeit. In dieser Welt bildet jedoch der Tod den Rahmen. Daraus ergibt sich eine gewisse Dringlichkeit, die unsere Liebe, zu dem, was wir bewegen, was wir vorfinden, verstärkt. Ein Zitat, das dem Reformator Martin Luther zugeschrieben wird, hat diese Leidenschaft für das Leben einmal treffend zusammengefasst: «Und wenn ich wüsste, dass morgen die Welt unterginge, dann würde ich heute noch ein Apfelbäumchen pflanzen.» Die Liebe ist die eigentliche Wirkader in unserer Existenz.

Jung
Das Rote Buch versprich eine Reise ins kollektive Unbewusste. (Bild: Verlagsgruppe Patmos)
Jung_2
(Bild: zvg)
Jung_4
(Bild: zvg)
Jung_4
(Bild: zvg)

Das könnte dich auch interessieren

03b_Merz_Welt_Litar_2025_Porträt_Klaus_Merz_quer

Der existenziellen Fremdheit entgegentreten

Drei Veranstaltungen widmen sich dem Werk des Deutschschweizer Schriftstellers Klaus Merz, der im September seinen 80. Geburtstag feiert. Eine Ausstellung in der Galerie Litar stellt den Roman «Jakob schläft» ins Zentrum.

Von Marco Baschera
Der Chuchi Tisch: Ein aussergewöhnliches Durcheinander, eine überraschende Mischung, ein Ort, wo man alles und sein Gegenteil findet.

Der Blick über den Chuchi Tisch

Auf beiden Seiten des Röstigrabens heisst es gerne mal küchenpsychologisch über die andere Seite: Liegt das nicht vielleicht daran, dass er Deutschschweizer ist? Doch Michael ist mehr, man betrachte den Küchentisch.

Von Revaz/Stauffer
Matthias Zschokke. Aufgenommen am 7. Oktober 2023 in Poschiavo. Foto Mayk Wendt

Matthias Zschokke: von der schroffen Ablehnung zur einhelligen Zustimmung

Mit seinem jüngsten Prosawerk, «Der graue Peter», erlebte der preisgekrönte Schriftsteller Matthias Zschokke ein Wechselbad der Rezeption. Nachdem beide Verlage Zschokkes eine Publikation schroff abgelehnt hatten, erhielt die Erzählung in der Literaturkritik allgemeine Zustimmung und wird nun 2026 in einem grossen Pariser Verlag publiziert.

Von Daniel Rothenbühler

Kommentare