Die vom Theater Besessenen

Seit anderthalb Jahren ist Zürich um ein mutiges und experimentelles unabhängiges Theater reicher: das 3rd Echelon Theater. Die Gruppe mit wechselndem Ensemble inszeniert im Untergrund, an geheimen Orten, die erst nach der Anmeldung mitgeteilt werden. Das Geheimnisvolle ist Teil des Charmes, auch wenn es der Notwendigkeit entspringt.

La Man To 1 (c) Florian Hafner 2(1)
Impression aus «LA-MEN-TO1» (Bild: Florian Hafner)

Überall im osteuropäischen und postsowjetischen Raum begegnet man dem Do-it-yourself-Geist. Kein Geld, kein Raum, kein Publikum? Kein Problem, dann erschafft man sich das einfach, entgegen aller Widrigkeiten. Künstlerischer Unternehmergeist in Reinform. Im Geschäftsleben nennt man das Bootstrappen. Man wartet nicht auf Investoren, sondern startet ein Projekt aus eigener Kraft. Auf diese Weise hat das 3rd Echelon Theater vier Produktionen und ungefähr 30 Aufführungen realisiert. Zwei neue Stücke kommen in den nächsten beiden Monaten dazu.

Das Ensemble traut sich, die Grenzen des für das Publikum Akzeptablen auszuloten. Die Inszenierungen kippen manchmal ins Ritualistische, Extreme, lassen sich aber auch von aktuellen philosophischen Diskursen inspirieren. Für diesen Mut wurde das 3rd Echelon Theater bereits von der NZZ am Sonntag als eines der kulturellen Highlights 2024 gelistet. In der NZZ folgte diesen Oktober ein Porträt.

Daniil Posazhennikov, 31, stammt aus Sibirien. Er hat Komposition studiert und in Moskau sowie in ganz Russland als Regisseur und Komponist eine Vielzahl an Theater- und Performanceproduktionen realisiert, bevor er mit einem Exzellenzstipendium für das Masterstudium Theater an der ZHdK angenommen wurde. Regina Raimjanova, 25, wurde in Taschkent, Usbekistan, geboren und hat dort und in Moskau Schauspielkurse absolviert, bevor sie für ihren Schauspiel-Bachelor ebenfalls an die ZHdK kam. Angenommen wurde sie als Nicht-Muttersprachlerin, ihr Deutsch ist mittlerweile akzentfrei. Und ihre breite Ausdrucksfähigkeit ist eine, die viele Schauspieler:innen erst im fortgeschrittenen Alter erreichen.

Der Name 3rd Echelon Theater ist ironisch gemeint: «Ja, wir arbeiten mit unserer Identität. Ein Echelon ist ein Zug, der sich immer in Bewegung befindet. Die Ironie besteht darin, dass es eigentlich keine Rolle spielt, in welchem Wagen man sitzt», sagen sie. Migrantentheater wollen sie ausdrücklich nicht machen.

cültür sprach mit Daniil und Regina über ihre Arbeit, ihre Ästhetik, ihre erstaunliche Produktivität und darüber, was Theater heute bewirken kann.

La Man To 1 (c) Florian Hafner 3
Impression aus «LA-MEN-TO1» (Bild: Florian Hafner)

cültür: Eure Arbeiten sind exzeptionell. Wie kommt ihr auf eure Ideen?

Daniil: Wir entwickeln die Stücke gemeinsam. Ich sammle permanent Ideen und habe zehn bis zwölf mögliche Konzepte parallel im Hinterkopf. Sobald etwas «reif» wird, beginnen wir, daran zu arbeiten. Wir bauen aber nie ein Ensemble für die Ewigkeit auf. Jede Struktur entsteht für jedes Projekt neu. Wir wollen, dass unser Theater absolut gegenwärtig ist. Ein institutionelles Theater plant Jahre im Voraus, wir dagegen nicht. Unsere Stücke wachsen wie Spinnennetze: Wir probieren aus, holen Feedback ein und verändern bei jedem Durchgang etwas. Vieles ist unvorhersehbar, also müssen wir flexibel bleiben. Das Publikum tut uns ein wenig leid, denn sie lernen uns bei einem Stück kennen, haben dann Erwartungen und kommen zum nächsten, wo wir aber etwas komplett anderes machen.

Regina: Ich mache inzwischen auch mehr dramaturgische Arbeit. Wir arbeiten gerne mit starken Kontrasten. In der Inszenierung «Die Zecke» taucht mitten in einer Gewaltszene ein Kochrezept meiner Mutter auf. Wir machen kein Traumatheater, nichts Autobiografisches. Wir abstrahieren aber persönliche Elemente. Alles Persönliche tarnen wir, wir wollen keine direkten Bekenntnisse. Manche unserer Stücke haben eine Mockumentary-Ebene. «Solaris1994» zum Beispiel arbeitet mit Familienarchivvideos von Daniil aus den 90er-Jahren, als kämen sie von einem fremden Planeten. «Die Zecke» ist sehr körperlich. Da wir derzeit noch nicht in der Lage sind, eine grosse Anzahl an Proben vollständig zu bezahlen, erledigen wir die gesamte Vorbereitungsarbeit zu zweit. Wir laden andere Künstler:innen erst dann ein, wenn wir die grundlegende Struktur ausgearbeitet haben, um ihre aufgewandte Zeit so weit wie möglich zu minimieren.

Wie habt ihr denn euer erstes Stück auf die Beine gestellt?

Daniil: Unser erstes Stück «GEMÄUER» haben wir in einem Keller getestet, 20 Mal hintereinander. Wir haben alles selbst finanziert und die Technik ausgeliehen.

Regina: Gemäss dem Motto, «wie du das Jahr beendest, so beginnst du das neue», haben wir Silvester 2023 durchgespielt: Eine Aufführung war am 31. Dezember um 22 Uhr, und die zweite Vorstellung begann am 1. Januar um zwei Uhr morgens. Und das hat auch geklappt: Seitdem machen wir pausenlos Theater.

Ihr seid sehr experimentierfreudig und radikal, und oft fällt es schwer, eure Arbeit in Worte zu fassen. Was ist für euch Theater?

Daniil: In der freien Szene muss man sich entscheiden: Performancekollektiv oder Theaterkollektiv. Jede Bezeichnung hat ihren Kontext und ihr Publikum. Wir nennen uns Theater, weil wir gern mit den Klischees und Konnotationen, die Theater hat, arbeiten. Und weil wir archaisch arbeiten müssen: ohne Mittel, ohne Sicherheit, wie eine reisende Theatergruppe aus dem Mittelalter. Jedes Stück braucht eine neue Ästhetik, wir haben da keine Schablonen. Im ersten Sommer spielten wir eine Oper, «LA-MEN-TO1», dann das Dokumentartheaterstück «Solaris1994», dann die «Zecke», die physisches Theater oder gar ein Bodyhorror-Stück darstellt, jetzt die Livefilmperformance «CAST*» und noch ein ganz neues Stück: «@ENDEngel55». Und erst nach vier Stücken sind wir jetzt zur Textarbeit gekommen.

Regina: Wir setzen uns nicht hin und sagen: «Dieses Stück wird radikal.» Wir machen einfach unsere Arbeit, und anscheinend wirkt sie radikal auf andere. Wir ziehen Dinge durch. Wenn wir beispielsweise einen Kampf zeigen, dann können wir ihn nicht nach fünf Minuten abbrechen und mit Text überdecken. Wir müssen bis zum Maximum gehen, so weit, dass es Menschen vielleicht unwohl wird. Sonst entsteht keine Echtheit.

Daniil: Text, Licht, Musik, Körper, alles ist an sich gleichberechtigt. Unsere Stücke sollen visuell, auditiv und konzeptuell funktionieren, man soll sich aber auch nur auf ein Element fokussieren dürfen. Die Zuschauer:innen werden zu Ko-Dramaturg:innen.

Regina: Zunächst haben wir die direkte Arbeit mit dem Text vermieden und andere szenische Mittel erkundet. Jetzt entwickeln wir unseren eigenen Ansatz für textbasiertes Theater.

Die Zecke (c) Mischa Müller 2
Impression aus «Die Zecke». (Bild: Mischa Müller)

Was ist die Zukunft des Theaters in einem Zeitalter, in dem die Darstellenden Künste von Förderungen abhängig sind und um ihre Existenz kämpfen?

Regina: Ich hoffe, das Theater stirbt nicht. Was mir immer hilft, ist, nicht darauf zu warten, dass mir etwas von selbst in die Hände fällt, sondern es selbst zu tun. Menschen, die ins Theater gehen, riskieren etwas, können ja vorher nicht wissen, ob das Stück gut sein wird. Und genau das ist schön. Es bleibt etwas Besonderes, ins Theater zu gehen. Wenn zufällig etwas Grossartiges an einem Theaterabend passiert, ist das ein Fest.

Daniil: Vielleicht müssen Dinge auch sterben. Wenn man sich an konservierter Kunst festhält, wird sie leblos. Solange es ein Bedürfnis fürs Performative, für darstellende Kunst gibt, wird es irgendeine Form von Theater geben, selbst nach einem «Tod».

Mit eurer Arbeit macht ihr riesige Möglichkeits- und Interpretationsräume auf. Was sind eure Themen?

Daniil: Momentan vor allem Gewalt: ihre Natur, ihre Manifestationen und die Frage, wie man aus dem Kreislauf der Gewalt herauskommt. Im übernächsten Stück «ENDEngel55» beschäftigen wir uns mit der Figur des Engels: historisch, popkulturell, philosophisch. Der «digitale Engel» steht für Identitätsmasken, digitale Verzerrungen, fragmentierte Persönlichkeit. Und für ein anderes, zukünftiges Stück wollen wir uns bei der Anime-Ästhetik bedienen: mechanische Piloten, ewige Apokalypse, generationenübergreifende Verantwortung.

Regina: In der «Zecke» geht es um Ungeschütztheit und Verletzbarkeit. Viele erwarten klare Botschaften. Wir öffnen stattdessen Prozesse, wir erforschen etwas, und das Publikum erforscht mit uns gemeinsam. Wir haben keine Antworten, wir wachsen gerade, und die Zuschauer:innen wachsen mit.

Was sind eure Pläne für die Zukunft?

Regina: Wir haben eineinhalb Jahre einfach gespielt, um zu prüfen, ob das Publikum in Zürich sich für uns interessiert. Jetzt gibt es Menschen, die zu uns kommen und finden, dass wir die Szene bereichern. Wir beginnen jetzt auch, den Schweizer Kontext zu verstehen und uns hier frei zu fühlen.

Daniil: Wir spüren hier maximale Freiheit und Unterstützung. Institutionelle Kritik ist ein Teil unseres Prozesses, und es ist uns wichtig, offen für den Dialog zu sein. Wir wollen uns weiterentwickeln, und gerne würden wir auch in Zukunft mit etablierten Spielorten zusammenarbeiten. Wir sind unabhängig, aber abhängig von unserem Publikum. Spenden und ein Crowdfunding Mitte dieses Jahres haben uns geholfen. Und wir finanzieren auch weiterhin unsere Arbeit mit unserem eigenen Geld. Langfristig träumen wir von einem eigenen Haus: einem Ort, an dem wir Gastspiele einladen, Workshops geben und eine eigene Institution aufbauen können, die trotzdem unsere Freiheit bewahrt.

Die Zecke (c) Mischa Müller 1
Impression aus «Die Zecke». (Bild: Mischa Müller)

Wie findet ihr eigentlich eure Spielorte?

Regina: Teilweise zufällig, teilweise schreiben wir aber auch die Orte an, die uns gefallen. Im postsowjetischen Raum ist es nicht unüblich, für Aufführungen total unterschiedliche Räume zweckzuentfremden, zum Beispiel kann man Firmen anschreiben, ob sie ihre Räume zur Verfügung stellen wollen. Für die ist das normalerweise gute Werbung. Wir waren ein wenig überrascht, dass das hier nicht so üblich ist. Aber ein Beispiel: Wir stehen aktuell mit einem Kletterzentrum in Kontakt, um vielleicht einmal ein Stück in einer Indoor-Kletterhalle zu zeigen. Wir arbeiten szenografisch mit dem, was da ist, das erschliesst uns auch ein neues Publikum.

Daniil: Um ehrlich zu sein, wir wollen besser planen können. Aber wir arbeiten auch in einem Tempo, das es für uns schwierig macht, mit klassischen Spielorten zusammenzuarbeiten. «CAST*» haben wir für einen Kinoraum geplant, und derzeit befinden wir uns in der Verhandlungsphase mit verschiedenen Kinos in Zürich. Wir bereiten die Premiere vor, und vorerst wird eine Vorabvorführung im Kino Toni an der ZHdK stattfinden, wofür wir sehr dankbar sind.

Mehr Infos unter: https://3rdechelontheater.com/

Nächste Aufführungen:

14. Dezember: «CAST*» (Live-Kino-Performance, Preview) im Kino Toni, ZHdK

20. Dezember: «Die Zecke» (Ort nach Anmeldung)

Ende Januar: «@ENDEngel55» Theater der Künste in der Gessnerallee

Porträt bereits von der NZZ benutzt (c) gusmo
Daniil Posazhennikov und Regina Raimjanova. (Bild: gusmo.ch)

Das könnte dich auch interessieren

Lea Reutimann_Rhea_Seleger_1

Eine Erschöpfungsdepression auf der Comedy-Bühne?

Eine Newcomerin aus der Spoken-Word-Szene zeigt, wie das gehen kann. Ein Hochseilakt zwischen Humor und Horror, Verzweiflung und Mitgefühl.

Von Alfred Schlienger |
Sabine-Melchior-Bonnet_2

Im Lachen vereint

Der Kanton Waadt nimmt sich der Komiker:innen an: In seinen kulturpolitischen Leitlinien für 2024–2027 werden sie als Vertreter:innen einer eigenständigen und förderungswürdigen Kunst anerkannt. Dieser kulturpolitischen Première ging 2020 die Gründung des Berufsverbandes Union Romande de l’Humour (UHR) voraus.

Von Daniel Rothenbühler |
Mikita

Gegen die Unmenschlichkeit

Am Samstag (26.04.) findet im Kulturhaus Helferei in Zürich das Festival russischsprachiger Antikriegsdramatik «Echo Ljubimowka» statt. Szenisch gelesen werden je ein ukrainisches, ein belarusisches und ein russisches Stück, teils in Übersetzung, mit Übertiteln in Deutsch, Englisch und Russisch. Cültür sprach mit dem Initiator Roman Lykov.

Von Katia Sophia Ditzler |

Kommentare