Eine Hommage des Zufalls an den Verlust
Die posthume Veröffentlichung des ersten Romans von Laurence Boissier.
Un «hommage du hasard à la perte», eine Hommage des Zufalls an den Verlust. So bezeichnet Rodolphe Petit vom Verlag art&fiction in seinem knappen Geleitwort zum posthumen Roman «Londres 13h30» von Laurence Boissier dessen Publikation.
Diese Charakterisierung lässt aufhorchen in einer Zeit, wo ein Buch des Gesellschafts- und Kulturwissenschaftlers Andreas Reckwitz den Verlust als «Grundproblem der Moderne» darstellt. Doch Boissier hat das Manuskript ihres Romans schon 2008 bei art&fiction eingereicht. Und mit «Verlust» meint Petit den Tod der Autorin vor drei Jahren, mit «Zufall» den Fund des Manuskripts 2023 im Keller des Verlags. Es war dort während fünfzehn Jahren liegengeblieben, weil es bei art&fiction auf andere als die erwartete Art verlegt worden war.
Nach fünfzehn Jahren wiederentdeckt
Der Kunstverlag hatte 2008 noch wenig Interesse an rein literarischen Texten. Das hat sich in den letzten zehn Jahren gerade dank Boissier verändert, die mit den Erfolgen ihrer Bücher zur wichtigsten literarischen Autorin von art&fiction wurde.
2023, als die Verlagsräume gründlich geputzt und entrümpelt wurden, fand die Projektkoordinatorin Marie Walpen im Keller eine Schachtel mit einem Manuskript in blauem Umschlag: den ersten, unveröffentlichten Roman von Laurence Boissier. Laurence habe nie danach gefragt, was mit dem Manuskript nun sei, sagte der Verleger Stéphane Fretz im Interview mit Radio RTS anlässlich dessen Publikation zum dritten Jahrestag ihres Todes. «Oublie l’autre truc que je vous ai amené», vergiss das andere Dings, das ich zu euch brachte, habe sie zu ihm gesagt, als sie 2009 ein weiteres Manuskript einreichte, das art&fiction 2010 unter dem Titel «Projet de salon pour Madame B.» veröffentlichte. Ein Büchlein, das Boissier selbst grafisch gestaltet und gebunden hat.
Das Büchlein, das die Autorin selbst grafisch gestaltete und band und in einer Auflage von nur 50 Stück publizieren liess, hat heute Seltenheitswert.
Comment dire? Wie soll ich sagen?
Boissier war ihren eigenen Texten gegenüber immer sehr kritisch. Als der Autor und Journalist Julien Burri sie 2018 nach ihrem ersten Buch fragte, sagte sie: «Oh mon dieu… Le texte n’était pas assez bien…», ach mein Gott … der Text war nicht gut genug.
Burri hingegen lobte das Büchlein in der Literaturbeilage von Le Temps als Werk einer Künstlerin, die einen köstlichen Text in verschiedenen Siebdruck-Farben und damit in unterschiedlichen Stimmungen präsentiere, um auf ironische Weise den unwiderstehlichen Sexappeal einer angeblich erfüllten Frau in Szene zu setzen. «Aujourd’hui. Aujourd’hui une femme se sent différente, elle se sent plus… comment dire ?», heisst es einmal: «Heute. Heute fühlt eine Frau sich anders, sie fühlt sich mehr … wie soll ich sagen?»
Um dieses «wie soll ich sagen» kreisen alle Texte dieser Autorin. Ihre Sprachskepsis, die mit der Skepsis gegenüber der eigenen Person und ihrem Tun, aber auch der ganzen Welt einhergeht, findet ihren Niederschlag in unnachahmlich präzisen und zugleich verfremdenden Beobachtungen der Wirklichkeit, getragen von einem angelsächsisch unterkühlten Humor.
Der Zweifel am eigenen literarischen Talent war vielleicht der Grund, warum die 1965 Geborene erst mit über vierzig Jahren als Autorin an die Öffentlichkeit trat. Sie hatte zunächst an der Genfer Kunstgewerbeschule das Metier der Innenarchitektin erlernt, war danach zwei Jahre Delegierte für das IKRK gewesen, bevor sie zehn Jahre lang als Gebäudeingenieurin für den Kanton Genf tätig war.
2005 beschloss sie, an der Haute Ecole d’Art et de Design (HEAD) in Genf den Bachelor in bildender Kunst zu machen. Die HEAD hat die herkömmliche Aufteilung der Künste nach Medien durch inter- und transdisziplinäre Strukturen ersetzt, so dass Boissier im Schwerpunkt Art/Action auch Kurse in literarischem Schreiben besuchte und darin ihre eigentliche Berufung fand. Im Jahr ihres Studienabschlusses wurde sie 2009 für ihre unveröffentlichten Texte mit dem Prix Atelier Studer/Ganz ausgezeichnet und besuchte die entsprechende Literaturwerkstatt, die damals von Antoine Jaccoud und Noëlle Revaz geleitet wurde.
Ihre Begegnung mit Jaccoud wurde entscheidend für ihre weitere Entwicklung als Autorin. Der Theaterautor und -regisseur, Drehbuchautor und Script Doctor, aber auch Spokenworder und als solcher das Standbein von «Bern ist überall» in der Suisse romande, gewann sie 2011 zur Mitwirkung in diesem Autor:innen-Ensemble. So begeisterte sie dann während zehn Jahren auch das Deutschschweizer Publikum mit ihrem leicht linkischen Auftreten und ihren verhalten komischen, immer träfen Texten, die mit grosser Ironie und Selbstironie auf die Absurditäten der Wirklichkeit aufmerksam machen.
Ausdrückliche Verortungen
In «Safari», der Sammlung der Texte, die sie für «Bern ist überall» schrieb, 2019 zweisprachig auf Französisch und Berndeutsch veröffentlicht, dekliniert sie ausnahmsweise auf Italienisch verschiedene Reaktionen auf ihr Mitwirken in einem Ensemble dieses seltsamen Namens: «Bern ist überall, mia cara, con un tale nome è certamente una banca!», sagt ihr Mann. «È il popolo di Berna che vouole invadere gli altri cantoni», meint ihr Sohn. Ihre Mutter klagt: «Oh! No! Non il dialetto bernese! Ma vuoi traumatizzare i tuoi bambini!» Und ihr Verleger in Lausanne warnt: «La tua carriera è finita, Bern ist überall, ma dove sono andati a trovare un tale nome? Sono buffoni, menestrelli!» Ihr Psychoanalytiker sagt gar nichts – und das sagt alles.
Boissier wusste, dass ihr Ensemble mit seinem Namen darauf aufmerksam machen will, dass jede Sprache, auch die kleinste und lokal begrenzteste, als Literatur- und Kultursprache Anerkennung verdient, lässt in ihrem Text aber einen Chor verschiedener Stimmen laut werden, die gerade zudecken, worum es geht, in einer ironischen Vielstimmigkeit, einer der weiteren Qualitäten ihrer Texte.
Zwischen 2009 und 2020 veröffentlichte sie acht Bücher und wurde mit fünf Preisen ausgezeichnet, darunter dem Schweizer Literaturpreis 2017 für «Inventaire des lieux», einer Textsammlung, die unter dem Titel «Inventar der Orte» 2023 auch auf Deutsch erschien.
Die Laudatio der Jury sprach «von der schwungvollen Energie und dem trockenen Humor einer bissigen Moralistin», die «ein Inventar von 61 öffentlichen oder privaten, alltäglichen oder exotischen und bisweilen gar ein wenig albernen Orten» präsentiere. Tatsächlich prägt die Aufmerksamkeit der einstigen Innenarchitektin und Bauingenieurin für die materiellen Umstände unseres Denkens, Fühlens und Phantasierens ihr ganzes literarisches Schaffen, fast jeder ihrer Texte ist auch eine ausdrückliche Verortung der Menschen und Dinge, von denen er spricht.
Das gilt gerade auch für ihren nun posthum veröffentlichten ersten Roman, der im Untertitel «Roman d’aéroport» heisst, Flughafenroman. Der Verlag entschied sich für diesen Untertitel, als sich auch im Familienarchiv der Verstorbenen eine Fassung des Textes fand, wohl eine frühere, die so betitelt war. Tatsächlich bildet der Flughafen Genf in diesem Roman die Einheit des Ortes, nicht mit seinen Pisten und Flugzeugen, sondern mit dem Innern seines Hauptgebäudes, den Warteräumen und den vorbeiziehenden Wellen von Wegfliegenden und Ankömmlingen auf dem Weg zum oder vom jeweiligen Terminal, ein weitläufiges Huis Clos mit offenen Türen.
Radikale Verlusterfahrung
Die Einheit der Zeit bildet die Angabe «Londres 19h30» auf den Anzeigetafeln, deretwegen Émilienne, die Protagonistin des Romans, täglich Stunden im Flughafengebäude verbringt. Sie hat einst auf die Heimkehr ihres Vaters gewartet, dessen Flug von London mit dieser Ankunftszeit angekündigt war. Er kam nie an, sein Flugzeug stürzte im Ärmelkanal ab, der Vater blieb unauffindbar. Deshalb bleibt Émilienne auf «Londres 19h30» fixiert, auf den Moment, wo sich etwas anderes einstellen könnte als der grosse, ihr Leben bestimmende Verlust.
Im Tod einer nahestehenden Person, deren Leiche nie aufgefunden wird, liegt wohl die radikalste Verlusterfahrung überhaupt. Sie bringt ein Zeitgefühl hervor, das jenem der Melancholie eigen ist: Stillstand der Zeit.
Diesem Stillstand wird der Roman gerecht, indem er keine im Zeitablauf sich abspielende Handlung erzählt, sondern in kurzen, oft nur halbseitigen Textstücken eine Vielzahl kleiner Flughafenszenen vergegenwärtigt. Und doch lässt der Text immer deutlicher eine Geschichte bzw. mehrere Geschichten erkennen, die sich im Verlauf eines Jahres im Flughafengebäude abspielen. Sie vollziehen sich mit vier Figuren, die gegenüber der anonymen Masse der An- und Wegfliegenden mehr Kontur gewinnen als einzelne Vorübergehende, die Émilienne in blitzlichtartigen Kurzporträts zur Erscheinung bringt.
Neben Émilienne gehören zu den vier wiederkehrenden Figuren Hadjira, die unsichtbare Toilettenfrau, die mit ausgefallenen Frisuren und tiefen Dekolletés auf sich aufmerksam zu machen sucht. Das gelingt ihr mit Raoul, der weniger aus Berufung als aus Verlegenheit zum Architekten geworden ist und nun verantwortlich für das ganze Flughafengebäude ist. Hadjira überzeugt ihn, einen Hammam für die Reisenden einzurichten, den sie leiten wird. Teodora schliesslich, eine russische Künstlerin, die in Genf unterrichtet, möchte diejenigen fotografieren, auf die niemand wartet, wenn sie aus dem Flugzeug steigen, oder jene, die auf jemanden warten, der nicht kommt, und so macht sie Bekanntschaft mit Émilienne.
Wenn Reckwitz danach fragt, wie wir heute mit dem Verlust als Grundproblem der Moderne umgehen sollten, zeigt Boissier mit «Londres 19h30» einen interessanten Ansatz dazu: Die vier Figuren ihres Romans, gerade auch die im Verlust hängengebliebene Émilienne, entwickeln in einfachen Dingen, quasi an der Basis, ihre Kreativität und finden dabei alle irgendwie zueinander. Das Bild solcher Basisaktivtäten bietet der Text in den Wurmkompostierern, die Raoul in einer Kiste zur Wirkung kommen lassen möchte, schliesslich aber im Wald aussetzen muss, weil sie nur in dessen Humus gedeihen und ihren Kompostdünger hervorbringen und die Erde fruchtbar machen können.
Kreatives Agieren
Dass kreatives Agieren eine Möglichkeit ist mit blockierenden Verlusten umzugehen, hat Boissier selbst erfahren. Ihr Vater ist beim Absturz eines Flugzeugs umgekommen, als sie zehnjährig war, und nie aufgefunden worden. Ihr wurde sein Tod verschwiegen, sie wartete mehrere Jahre vergeblich auf seine Heimkehr. Dieser Verlust ist das zentrale Thema in ihrem mehrfach ausgezeichneten Roman «La rentrée des classe» von 2018, dessen Hauptfigur Mathilde sich nach dem Verschwinden ihres Vaters ins Basteln vertieft, so wie die Autorin als neunjähriges Kind.
Der Tod von Laurence Boissier hat mehrere Autorinnen und Autoren zu kreativem Agieren veranlasst, um dem Verlust mit eigenen Texten zu begegnen. «Bern ist überall» ist mehrmals mit einem ganzen Programm zu ihrem Gedenken aufgetreten. Corinne Dezarsens hat mit dem Buch «Projet d’un salon pour Laurence B.» in Boissiers Todesjahr auf «Projet d’un salon pour Madama B.» Bezug genommen und sich von ihrem Stil voll Eleganz, trockenem Humor und Feingefühl leiten lassen. Und die beiden Kollegen Boissiers in «Bern ist überall», Antoine Jaccoud und Guy Krneta, haben der Verstorbenen je einen Text gewidmet, Jaccoud das Poem «Laurence Backstage» in einem Büchlein, das der Verlag dem Roman «Londres 13h30» beilegt, Krneta mit dem Mundarttext «Zipfumütze» im Buch «Hüener lachen angers», in dem er die Texte der Verstorbenen sehr passend mit der Feststellung charakterisiert, «dass me ne nid cha troue. Nie gnau weiss, was wie gmeint isch. U wo si säuber schteit in däm ganz merkwürdige Laurence-Boissier-Kosmos.»