Zwei exemplarische Geschichten aus dem wahren Leben
Die Fribourger Autorin Isabelle Flükiger hat sich für ihr neues Buch «Gloria. Mohammed.» ein brisantes Thema vorgenommen. Sie erzählt darin von zwei Sans-Papiers und ihrem Leben in der administrativen Lücke. Ihr augenöffnendes Buch ist zeitgleich auf Deutsch und Französisch erschienen.
«Die Meinungen sind immer messerscharf, die Tatsachen hingegen verschwommen.» Isabelle Flükiger kommt gleich auf der ersten Seite zum Kern der Sache. Es ist so viel einfacher, mit Meinungen um sich zu werfen, als Hintergründe zu kennen und Argumente auszutauschen. Mit dem Zwischenruf «Migration! Migration!» kann heute jedes Gespräch abgewürgt und umgepolt werden. Die SVP hat diese Strategie perfektioniert. Wann immer ernsthaft über ökologische Fragen oder öffentlichen Verkehr diskutiert wird, hilft der Ruf «Migration! Migration!» aus der rechten Argumentationsnot. Dabei geht vor allem auch vergessen, dass es bei der Migration zum einen um menschliche Notlagen, zum anderen um volkswirtschaftliche Notwendigkeiten, also Spareffekte geht. Gerade Sans-Papiers verkaufen in der Grauzone des heiligen Marktes billig ihre Arbeitskraft. Der Mensch ist immer das biegsamste Glied in der Verwertungskette. Davon erzählt Isabelle Flükiger.
Wer bringt die Ernte ein, wer betreut die Kinder, wer baut die Häuser? Solchen Fragen nachzugehen, heisst schnell, auf ein System von administrativen Widersprüchen zu stossen, die wirtschaftlich gewollt und politisch instrumentalisiert werden. Per Zufall kam Isabelle Flükiger vor Jahren in Kontakt mit einer Frau, deren Geschichte sie faszinierte.
«Gloria hat keinen Ausweis. Keinen Ausweis B, C, G, L, F, N, ja nicht einmal einen Ausweis S. Sie kommt aus Kamerun. Als ich sie 2016 kennenlernte, hatte sie ihre Söhne seit fünfzehn Jahren nicht mehr gesehen. Sie ist eine Illegale, aber das ist verkürzt ausgedrückt. Man bezeichnet sie eher als eine Sans-Papiers, was ebenfalls falsch ist. Gloria hat Papiere, einfach nicht die richtigen. Sagen wir es so: Gloria hält sich seit über fünfzehn Jahren ohne gültigen Ausweis in der Schweiz auf.»
Gloria, wie Flükiger sie nennt, ist kein Einzelfall, sie ist aber besonders. Sie ist «strukturiert, präzise», sie hat gelernt, sich zu wehren und alle Dokumente säuberlich aufzubewahren. Denn tatsächlich haben Sans-Papiers auch Rechte. Sie können zwar kein Bankkonto führen, aber sie dürfen auf ein persönliches AHV-Konto einbezahlen, eine Krankenversicherung abschliessen, ja sogar Quellensteuern entrichten. All das weiss Gloria. Der Teufel steckt indes im Detail. Weil Gloria wegen des Verstosses gegen das Ausländer- und Integrationsgesetz angeklagt werden könnte, darf sie von den oft begüterten Arbeitgebern mit lächerlichen Löhnen betrogen werden. Kontrolliert wird das kaum je. Der Widerspruch ist ein Webfehler im System – und womöglich mit Bedacht in Kauf genommen.
Intensive Recherchen
Sans-Papiers arbeiten auch auf dem Bau, erfährt Isabelle Flükiger bei ihren Recherchen. So lernt sie Mohammed kennen, einen abgewiesenen Asylbewerber aus Marokko, der Gelegenheitsarbeiten verrichtet. Sein Status ist prekär. Als Abgewiesener müsste er freiwillig ausreisen, doch das tut er nicht – wie keiner seiner Kollegen. Er bleibt und sucht auf dem Schattenarbeitsmarkt Unterschlupf, als unterstes Glied in einer Kaskade von Subunternehmern. Eigentlich ist das Bauwesen über ein feinteiliges Geflecht von Vereinbarungen zwischen Bund, Arbeitgebern und Gewerkschaften gut reglementiert; auch die Sans-Papiers wären miteinbezogen. Bloss hapert es auch hier bei der Kontrolle. «Wir wollen gar nicht wissen, ob die Realität mit dem übereinstimmt, was auf dem Papier steht», zitiert Flükiger einen Arbeitskontrolleur. Der Markt regelt das schon. Der elementare Webfehler besteht darin, dass bei Verstössen nicht das Strafrecht zur Anwendung kommt, sondern ein Sans-Papiers wie Mohammed seinen mageren Lohn zivilrechtlich einklagen müsste …
Isabelle Flükiger fragt nach.
«Warum war es so leicht, sie [Gloria] einzustellen, obwohl sie gar kein Recht darauf hatte, hier zu sein? Und wenn die Gesetze es ihr erlaubten, sich zu versichern, warum war es so schwer, dies zu tun? Wie die Parlamentarier stellte auch ich mir die Frage nach der Kohärenz: Wollte man diese Menschen nun hier haben, oder wollte man sie nicht?»
Die Geschichten von Gloria und Mohammed sind eine Frage der Kohärenz. Diesen Begriff benutzt die Autorin wiederholt, zunehmend mit einem ironisch-lakonischen Unterton.
2013 initiierte die Gruppe «Kunst+Politik» ein Projekt namens «an deiner statt / à ta place». 25 Autor:innen hörten Sans-Papiers zu und protokollierten das Erzählte in deren Namen. Jeder und jedem der Sans-Papiers wurde so eine Geschichte zuteil. Isabelle Flükiger geht einen anderen Weg. Auch sie hört ihren Protagonist:innen zu, um aber modellhaft die Essenz ihrer Notlage herauszuarbeiten und im gesellschaftlichen Umfeld zu verorten. Es geht ihr um das volkswirtschaftliche, sozialpolitische System, das vom Zwischenruf «Migration, Migration!» verschleiert wird. Alle von der Autorin angefragten Experten zeigen Verständnis für Interesse und sind der Autorin behilflich, im Wissen darum, dass sie selbst bis hinauf zum Generalunternehmer in einem Geflecht aus Sachzwang und Routine festsitzen. Im Namen von Arbeitsmarkt und Gewinnmarge verzichten sie getrost auf die Kohärenz und lassen Gloria und Mohammed billig für sich arbeiten. Schliesslich sind Kinder zu betreuen, Häuser zu bauen, Ernten einzubringen. Ein Kleinunternehmer gibt unumwunden zu: «Alle wissen, dass man unterhalb von gewissen Preisen nicht legal arbeiten kann.»
Der Markt – ein Dschungel
Isabelle Flükiger deckt langsam, Schritt für Schritt diesen «Dschungel, zu dem der Markt geworden ist», auf. Sie hört wachsam, mit Geduld und Feingefühl zu, nimmt ihr Gegenüber ernst und leitet daraus Fragen ab, die jeweils ein neues Kapitel eröffnen. Darin bleibt sie ganz und gar kohärent. Sie befragt die Unternehmer, die Subunternehmer, die Polizei, die Kontrolleure, die Arbeitsversicherungen, die Behörden, ohne vorab zu wissen, was sie von ihnen erfahren wird.
Ihr Buch ist, eine Seltenheit in der Schweiz, gleichzeitig auf Französisch («Une Suisse au noir», Editions Antipodes) und in der Übersetzung von Ruth Gantert («Gloria. Mohammed.», Rotpunktverlag) auf Deutsch erschienen. Sans-Papiers gibt es in allen Regionen der Schweiz, auch wenn in der Westschweiz die Sensibilität für sie etwas grösser sein mag. Legalisierungen von Sans-Papiers geschehen vornehmlich in den Kantonen Genf und Waadt. So unentbehrlich sie auf dem Arbeitsmarkt sind, so verschattet leben Sans-Papiers im legalen Graubereich. In der migrationspolitischen Diskussion werden sie allerdings missachtet oder bestenfalls als Schmarotzer angeklagt. Wer will denn schon wissen, dass die «Illegalen» im Migrationssaldo der Schweiz eine Minderheit sind. Gut 70 Prozent der Einwanderung fällt auf Menschen aus Europa.
Isabelle Flükigers «Rechtsroman», wie sie ihn selbst nennt, ist indes doppelt wichtig. Er legt den Finger auf einen bürokratischen, sozialen und politischen Skandal und schärft das Bewusstsein dafür. Er bringt aber auch frischen Wind in die Literatur, in der die Arbeitswelt ein eher unterbelichtetes Thema ist. Gloria, Mohammed oder der Arbeitskontrolleur Michaud sind gleichermassen real wie erfunden – zu ihrem eigenen Schutz. Ihre Geschichten sind ebenso individuell wie exemplarisch. Ebenso ist auch das Villenresort im waadtländischen Riaz, in dem ihre Geschichten zusammenkommen, ein fiktiver, modellhafter Ort. Mit Peter Bichsel: «Es ist gut möglich, dass einer die Geschichte erfunden hat. Wahr ist sie trotzdem.»
«Die Logik hat ihren Preis. Einen Preis, den weder die Arbeitgeber noch die Versicherungen bezahlen werden, sondern die Allgemeinheit. Wir werden dafür bezahlen, dass man diejenigen, die den Profit einstreichen, nicht zur Kasse bietet. Vielleicht liegt sie ja darin, die viel zitierte Kohärenz?»
Gloria kämpft sich mit Beharrlichkeit und Mut aus dem Widerspruch heraus. Sie erhält eine Aufenthaltsbewilligung. Mohammed aber bleibt am unteren Rand des Arbeitsmarkts auf «der dunklen Seite des Glücks» zurück. Für ihn hat Isabelle Flükiger immerhin eine kleine ironische Pointe übrig. Der Generalunternehmer spart beim Bau des Villenresorts, indem er einen Subunternehmer anheuert, der beim Material und bei den Löhnen spart. Der schlecht bezahlte Arbeiter aber trägt die minderwertigen Farben so auf, dass die Gewinnmarge in Form eines ökologisch bedenklichen Farbanstrichs im Wohnzimmer auf die Villenbewohner zurückfällt. Ein echter Trost ist das nicht.
Isabelle Flükiger: Gloria. Mohammed. Eine Erzählung von der dunklen Seite des Glücks. Aus dem Franz. von Ruth Gantert. Rotpunktverlag, Zürich 2025.
–: Une Suisse au noir. Editions Antipodes, Lausanne 2025.