«Dazwischen»: Die Literaturen im Dialog

Zum 19. Mal liegt das Jahrbuch von «Viceversa Literatur» des Service de Presse Suisse (SPS) vor, das die vier Landessprachen eint und jeweils auf Deutsch, Französisch und Italienisch erscheint. Nach 17 Jahren verlässt Ruth Gantert als künstlerische Leiterin und damit Verantwortliche von Viceversa Literatur und der gleichnamigen Webseite den SPS.

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Das Jahrbuch «Viceversa Literatur» wird jedes Jahr von einem oder einer anderen Kunstschaffenden illustriert. (Bild: zvg)

«Viceversa Literatur» ist ein Jahrbuch der Schweizer Literaturen, das seit 2007 jedes Jahr unveröffentlichte Texte von bekannten und noch wenig bekannten Autorinnen und Autoren aus den vier Sprachregionen der Schweiz publiziert. Daneben findet man in jeder Ausgabe ausführliche Dossiers mit Essays und Gesprächen. Das Jahrbuch erscheint jeweils auf Italienisch bei Edizioni Casagrande in Bellinzona, auf Französisch bei Éditions Zoé in Genf und auf Deutsch beim Rotpunktverlag in Zürich. Die drei Redaktionen arbeiten eng zusammen. Für das Rätoromanische ist die Dichterin und Kulturvermittlerin Gianna Olinda Cadonau zuständig. Die künstlerische Gesamtleitung liegt bei Ruth Gantert – oder besser, lag bei ihr, denn sie hat nach 17 Jahren unermüdlichen Einsatz für die Schweizer Literatur als künstlerische Leiterin des Service de Presse Suisse, dessen zwei wichtigsten Organe das Jahrbuch «Viceversa Literatur» und die Webseite viceversaliteratur.ch sind, gekündigt. Ihren Rücktritt gab sie an einer Vernissage anlässlich der letzten Solothurner Literaturtage offiziell bekannt, wo sie auch die letzte von ihr betreute Ausgabe von «Viceversa Literatur» präsentierte. Ruth Gantert organisierte im Namen von Viceversa Literatur eine stattliche Zahl von Lesungen in der Schweiz, jeweils auf Deutsch, Italienisch und Französisch, und machte sich stark für die gelebte Viersprachigkeit der Schweiz.

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Die Zeichnungen in der aktuellen Ausgabe von «Viceversa Literatur» stammen von Yves Noyau. (Bild: zvg)

Viceversaliteratur.ch publiziert wöchentlich neue Beiträge in Form von Rezensionen, themenzentrierten Artikeln sowie Interviews. Die Plattform veröffentlicht praktisch in Echtzeit Fakten über Autorinnen und Autoren ebenso wie über Übersetzerinnen und Übersetzer der Schweiz – unabhängig von ihrer nationalen Zugehörigkeit – und animiert so auch zum Austausch über die Sprachgrenzen hinweg. Viceversa übt eine entscheidende Brückenfunktion für das Schweizer Kulturleben in seiner Vielfalt und regionalen Dynamik aus. Auf seiner Plattform kann man viele Rezensionen zu Neuerscheinungen lesen. Auch bietet Viceversa Literatur jungen Leuten Gelegenheit, sich in Literaturkritik zu üben. Es wurde lange Zeit vom Bundesamt für Kultur (BAK) finanziell unterstützt und konnte auf dieser Grundlage zusätzliche Mittel bei Kantonen und Stiftungen generieren. Infolge einer Verordnungsänderung stellte das BAK seine Unterstützung auf Ende 2024 ein. Diese schwerwiegende Entscheidung löste und löst in der Schweizer Kulturszene viel Unverständnis und Kopfschütteln aus. Wäre es nicht gerade am BAK, den sprachübergreifenden Kultur- und Denkraum schweizweit anzuregen und zu fördern? Dasselbe gilt für die Unterstützung der kritischen Kulturberichterstattung, die seit Jahren am Verschwinden ist und die ebenfalls vom Bund keinerlei Unterstützung mehr erhält.

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Im Dazwischen spiegelt sich die Zerbrechlichkeit des Lebens. (Bild: zvg)

Die Grundidee der Jahrbücher ist einerseits die eines Lesebuchs. So kann man in der diesjährigen Ausgabe 20 kürzere und längere Texte in der jeweiligen Sprache der Ausgabe lesen, Texte in der Originalsprache und Übersetzungen. In der deutschen Ausgabe erscheint beispielswesie «Meer im Bauch» von Carin Caduff auf Rätoromanisch: «Mar el venter», womit sich in den Klang der Sprache eintauchen lässt. Oder von Pierrine Poget ist «Elle le dit sans mépris» übersetzt – von der Autorin Annina Haab. Gerade für Schulen und Gymnasien wird dieses Überstzungsangebot rege genutzt. Andererseits erfüllen die Jahrbücher eine Archivfunktion. Geht man die Liste der Namen von Autorinnen und Autoren durch, die seit den Anfängen ins Jahrbuch Eingang gefunden haben, so gewinnt man einen eindrücklichen Überblick über die Schweizer Literaturszene der letzten 20 Jahre. Zudem arbeitet Viceversa eng mit den grossen Schweizer Literaturfestivals, wie etwa «Chiasso/Letteraria», «Babel» in Bellinzona, «Le livre sur les quais» in Morges, den Solothurner Literaturtagen sowie dem Schweizerischen Literaturinstitut in Biel, zusammen.

Hin und her zwischen den Sprachen

Die letzte, von Ruth Gantert betreute Nummer trägt den Titel «Dazwischen», «Entre-deux», «In bilico», «Tranteren». Er passt sehr gut zum Namen «Viceversa Literatur», der ein ständiges Hin und Her zwischen den Sprachen und den verschiedenen Literaturgattungen anzeigt. Die fruchtbare Begegnung zwischen den Sprachen und den Literaturen, die Viceversa Literatur im viersprachigen Kulturraum der Schweiz pflegt, ist wesentlich, weil durch die Sensibilisierung auf die feinen Unterschiede der Denk- und der Lebensweisen der verschiedenen Sprachregionen ein gegenseitiges Verständnis gefördert wird. Diese feinen Unterschiede können durch das globale Englisch gerade nicht vermittelt werden. Literatur zeigt generell auf, dass Sprachen nicht nur als funktionale Instrumente der Mitteilung dienen. Ohne Literatur würden Sprachen verwaisen. Die Wörter würden nur noch auf eine blosse Abfolge von Zeichen reduziert, die auf etwas scheinbar allgemein Gegebenes und weltweit Austauschbares hindeuten. Vor allem die mehrsprachige Literatur schärft den Blick auf die Eigenheiten der Sprachen, auf ihre besonderen Weisen des Sagens, die nicht die Beliebigkeit austauschbarer Zeichen haben. Zu diesem fruchtbaren Hin und Her zwischen den Sprachen gehört auch die literarische Übersetzung, die in allen Nummern des Jahrbuchs einen wichtigen Platz einnimmt. Es bleibt nur zu hoffen, dass Viceversa Literatur nach Ruth Ganterts Ausscheiden überlebt und weiterhin seine wichtige Funktion in der Vermittlung zwischen den Sprachregionen der Schweiz erfüllen kann.

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Die Menschliche Entwicklung ist stets ein Dazwischen. (Bild: zvg)
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Ruth Gantert

... wurde 1967 in Zürich geboren, wo sie heute lebt. Sie studierte Romanistik in Zürich, Paris und Pisa. Sie war Dozentin für französische Literatur an der Pädagogischen Hochschule St. Gallen. Heute ist sie Literaturvermittlerin, Redaktorin und Übersetzerin. Sie war 17 Jahre künstlerische Leiterin des Service de Presse Suisse und Redaktionsleiterin des dreisprachigen Jahrbuchs der Schweizer Literaturen Viceversa und der Internetplattform www.viceversaliteratur.ch. Ruth Gantert ist Geschäftsführerin der Fondazione Casa Atelier Bedigliora. 2022 gewann sie den internationalen Übersetzungswettbewerb «M'illumino/d'immenso» (DÜF, Traduxit, Biblioteche di Roma). 2024 erhielt sie für ihre Übersetzung von Alexandre Lecoultres Roman Peter und so weiter (Der gesunde Menschenversand) eine literarische Auszeichnung der Stadt Zürich.

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