Über Dienen und Leiden in schweren Zeiten

Mensch und Diktatur, Mensch und Krieg: Die Entwicklung in Europa und weltweit verleiht diesen Themen von Ernst Wiecherts Werk neue Aktualität. Am 24. August jährt sich sein Todestag zum 75. Mal. Wiechert verbrachte seine beiden letzten Lebensjahre in Stäfa am Zürichsee. Die Lesegesellschaft Stäfa gedenkt seiner am 30. August, gemeinsam mit der Internationalen Ernst-Wiechert-Gesellschaft.

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Bis weit in die 1950er Jahre zählte Ernst Wiechert zu den meistgelesenen deutschen Autoren. (Bild: zvg)

«(…) Der schon vor 1933 mit manchen Preisen ausgezeichnete und von einem grossen Leserkreis geliebte Dichter hat von den Machthabern im Dritten Reich keine Ehrung begehrt und auch keine empfangen. Sein unerschütterlicher Glaube an ein Leben in humanen Ordnungen wurde ihm unter einer dem Humanen entfremdeten Herrschaft bald zum Verhängnis. (…) Nach dem Kriege siedelte der Dichter in die Schweiz über, in der er, nach seinem eigenen Wort, eine Heimat gefunden hat, nicht äusserlich, sondern in dem ernsteren Sinn, dass ihm dort Menschengesichter begegneten, über die die Hand der Dämonen nicht geglitten ist, die ihre Sorge, ihr Leid, ihre Traurigkeit tragen wie jedes Menschengesicht, aber was sie tragen, tragen sie nach dem alten Gesetz der Erde, und dahinter steht unsichtbar Gottes Hand und nicht die Hand der Dämonen. (… .)», schreibt Werner Weber, Feuilleton-Leiters der NZZ noch an Wiecherts Todestag auf der Frontseite der NZZ übger Ernst Wiechert, der bis in die 50er Jahre zu den meisteglesenen deutschen Autoren zählte.

Ernst Wiechert war wegen einer Stellungnahme für Pastor Martin Niemöller von der Bekennenden Kirche und wegen anderen Äusserungen, die den Nazis missfielen, 1938 in Polizeihaft genommen und dann ins Konzentrationslager Buchenwald gebracht worden. Niemöller war Vorsitzender des «Pfarrernotbunds», der sich gegen die Ausgrenzung von Christen jüdischer Herkunft aus dem kirchlichen Leben und gegen die Verfälschung biblischer Lehre durch die nationalsozialistischen «Deutschen Christen» wehrte. Daraus ging die «Bekennende Kirche» hervor. 1937 wurde Niemöller im Konzentrationslager Sachsenhausen inhaftiert.

Als Wiechert aus dem KZ entlassen wurde, bedrohte ihn Propagandaminister Joseph Goebbels persönlich mit dem Tode, falls er sich nochmals öffentlich gegen die Nazis bemerkbar mache. Die Jahre bis zur Befreiung Deutschlands verbrachte Wiechert in der inneren Emigration. Werke, die er in dieser Zeit schrieb, bezeugen seine unüberbrückbare Distanz zu den Machthabern.

1947, im Jahr vor Wiecherts Übersiedelung in die Schweiz, hielt er an einer Feier zum 150. Jahrestag von Goethes Aufenthalt in Stäfa die Festrede. Er stellte sie unter den Titel «Das zerstörte Menschengesicht». Wiechert brachte seine Verbundenheit mit einer von Krieg und Besetzung verschonten Schweiz zum Ausdruck, in der europäische Zivilisation und Kultur überleben konnten. Aber er idealisierte die Schweiz nicht: «Angst lag über der ganzen Welt, und kein Land ist verschont geblieben von dieser Angst, auch das Ihrige nicht. Und sollte noch jemand unter Ihnen sein, der geneigt wäre, zu richten und zu verurteilen, so sollte er sich der Züge der Todgeweihten erinnern, die an Ihre Grenze kamen und die an der Grenze zurückgeschickt wurden.» Und Wiechert mahnte: «Lassen Sie uns nicht denken, dass die Dämonen zurückgetrieben worden seien in ihr Reich der Höhlen und der Finsternis. Dass ein Land wie die Schweiz nicht nötig hätte, sich um zerstörte Menschengesichter zu kümmern.»

Anhand dreier Werke sei angedeutet, was Wiechert zur Herausforderung des Menschen durch politische Fehlentwicklung und Krieg zu sagen hat.

«Das einfache Leben»: Auf das Ende des Ersten Weltkriegs folgen in Deutschland einerseits die «Roaring Twenties». Teile der Gesellschaft geben sich der Vergnügungsbegeisterung, ja Vergnügungssucht hin. Andererseits regen sich politische Tendenzen, die zu Revanchismus und schliesslich in den Nationalsozialismus führen werden. Thomas von Orla, der Korvettenkapitän der kaiserlichen Kriegsmarine war, und sein Obermatrose Friedrich Wilhelm Bildermann setzen sich mit beiden Fehlentwicklungen auseinander und entscheiden sich gemeinsam für ein radikal Anderes: sich bewusst, reflektiert einem bescheidenen, sinngebenden Arbeitsleben als Fischer zu widmen – ein schwerer, zu Konfrontationen und persönlichen Opfern führender Weg, aber ein Weg zu Selbstachtung, ohne dass die Erzählung in die Banalität eines glücklichen Endes münden würde.

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Ernst Wiechert plädierte für radikale Menschlichkeit. (Bild: zvg)

«Missa sine Nomine»: Dieses Werk erschien in Wiecherts Todesjahr und geht der Frage nach, ob Traumata diktatorischer Verfolgung überwunden werden können. Im Mittelpunkt steht Amadeus von Liljecrona, der bis Kriegsende als politischer Dissident in einem Konzentrationslager einsass. Das Werk handelt von dessen Selbstfindung nach seiner Befreiung – in einem Beziehungsfeld, in dem jeder und jede seine, ihre Geschichte mitbringt, von Widerstand, Menschlichkeit, Anpassung, Mitläufertum bis zu Mittäterschaft und Verrat. Liljecrona hat einen KZ-Schergen erschossen und ging gegen junge Mordgesellen vor, die nach dem Kriegsende ihr Unwesen trieben: Ein versprengter Haufen Nazis, «Werwölfe» genannt, sollte 1945 das untergegangene Hitler-Regime rächen («Der Mythos der Werwölfe», «Süddeutsche Zeitung», 5.4.2011). Doch mehr und mehr setzte sich in Liljecronas Denken der Wille zu Vergebung und Versöhnung durch, als Voraussetzung für einen gemeinsamen Neubeginn.

Man mag sich mit solcher Versöhnlichkeit schwertun. Aber man muss sich bewusst sein, dass es nach dem Sturz von Unrechtsregimen beides braucht: Aufdeckung der Wahrheit und Bestrafung einerseits – eine begrenzte Bereitschaft, sich wieder anzunehmen, andererseits. Wohl jedes Land, das von Hitler besetzt gewesen war, musste einen solchen Weg finden. Auch Spanien und Portugal nach dem Ende der Diktaturen von Franco und Salazar und Südafrika nach dem Fall der Apartheid.

«Die Jeromin-Kinder»: Dieses zweibändige Werk handelt von drei Generationen einer bäuerlichen Familie in Masuren, der Heimat des Autors, vom Anfang des 20. Jahrhunderts bis zum Aufstieg der Nationalsozialisten. Beschrieben wird das Leiden unter politischen Fehlentwicklungen, verursacht vor und während des Ersten Weltkriegs durch Kaiser Wilhelm II. und dessen Regierung, und später durch die Nazis und deren verhetzte Massen. Wie schon in «Das einfache Leben« und in «Missa sine Nomine» wird keine Heldengeschichte geschrieben, wohl aber vom Willen und Handeln eines fähigen Menschen erzählt, seine Gaben in den Dienst der Menschen zu stellen, aus deren Mitte er stammt: Jons Jeromin, Angehöriger der dritten beschriebenen Generation seiner Familie, verzichtet auf die ihm offenstehende akademische Laufbahn und wird Armenarzt in seiner Herkunftsgemeinde. Wiechert beschreibt die Bedeutung eines solchen Menschen für die Gemeinschaft: «Ja, er würde wohl mehr hier sein müssen als ein Arzt für Kranke und Sterbende. (…) Einer, der still die Zügel nahm, wenn sie aus den alten Händen glitten. (…) Einer, der zu sorgen hatte, weil sie auf ihn blickten. Und weil sie alle ihn getragen hatten, unbewusst, aber doch getragen». So ist Jons Jeromin mit seiner Entscheidung für ein bescheidenes, aber durch Dienen bedeutendes Leben ein Gesinnungsverwandter des Thomas von Orla.

Eine der Stärken von «Jeromin-Kinder», wie auch der beiden anderen hier beschriebenen Werke, sind die Charaktere, die Wiechert herausarbeitet. Es wäre faszinierend, für diese Figuren Schauspielerinnen und Schauspieler für eine Verfilmung zu casten. Warum wurde keines seiner Werke verfilmt? Wiecherts Werk fiel bald nach Kriegsende in zeitweilige Vergessenheit – zwischen den Stühlen: Den zum Teil weiterhin einflussreichen früheren Nazis war und blieb Wiechert Gegner, anderen war er im Gegenteil zu wenig widerständig. Ihnen ging der Respekt vor der inneren Emigration ab.

* Öffentlicher Gedenkanlass am Samstagnachmittag, 30. August, in Stäfa: lesegesellschaft.ch/home/die-brisanz-einer-anklage

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