Kranksein auf Französisch

Noëlle Revaz und Michael Stauffer sind bekannt für ihre bilingue Literaturperformances. Auch privat gehen sie seit langem gemeinsame Wege. Für cültür geben sie einen Einblick in ihren Alltag, in dem die jeweilige Zweitsprache nach Jahren immer noch zum Stolperstein oder Anlass zur Erkenntnis werden kann...

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Noëlle Revaz und Michael Stauffer haben den Röstigraben überwunden. (Bild: zvg)

Am Wochenende habe ich mir beim Mountainbiken das Knie verletzt, respektive dachte ich, ich sei der Downhillking, und rutschte in einer Kurve aus. Das Knie schwoll an wie eine Melone, also habe ich am Montagmorgen ab sieben Uhr mehrere Nachrichten auf die Mailbox meiner Ärztin gesprochen. Noëlle machte sich über meine Wehleidigkeit lustig. Da fragte ich mich, ob es einen Röschtigraben gibt, was den Umgang mit Gesundheit angeht. Ehrlich gesagt, hatte ich noch nie darüber nachgedacht und wir haben auch nie darüber geredet. Wir leben seit Langem zusammen, und die Jahre vermögen es nicht, diese Unterschiede unserer Mentalitäten auszulöschen? Sie ist in einem kleinen Dorf, ich würde eher sagen: Kaff im frankophonen Unterwallis aufgewachsen. In der Ebene. Ich stamme aus Frauenfeld, das ist, wie jeder weiss, eine unglaublich bedeutende Metropole der Ostschweiz. Ebenfalls in einer Ebene. Nur die Flüsse heissen anders: Thur oder Rhône.

Noëlle war in der Küche und kandierte Zitronen. Ich trat näher und stellte ihr ein paar Fragen. Warum hast du so reagiert? fragte ich. Gehst du nie zum Arzt, wenn du Schmerzen hast?

Sie lachte mir ins Gesicht. Bien sûr que non! Le médecin c'est le tout dernier recours. Zum Arzt gehen wir erst, wenn wir Blut husten oder einen Monat 40 Grad Fieber haben und Paracetamol keine Wirkung mehr zeigt. Im Ernst? Ich wusste nicht, dass du so denkst. Tu n’as jamais remarqué que je ne vais pas souvent chez le docteur? Doch, aber ich dachte, das sei, weil du hypochondrisch bist und dein Arzt dich auf eine schwarze Liste gesetzt hat und deine Krankenkasse auch.

Noëlle tat so, als würde sie sich unter der Achsel kratzen. Haha. Ich lache mich kaputt, sagte sie. Mein Knie tat immer noch höllisch weh. Ich setzte mich auf einen Stuhl. Leg’s auf Eis, sagte Noëlle, ohne sich umzudrehen. Sie holte eine Packung Erbsen aus dem Gefrierfach und klatschte sie mir direkt aufs Knie. Aua, spinnst du! Ich wickelte die Eiserbsen um mein geschwollenes Knie. Es tat noch mehr weh als vorher.

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Deutschschweizer:innen scheinen viel anfälliger für Krankheiten zu sein als unsere welschen Nachbar:innen. (Bild: zvg)

Denkst du, dass es daran liegt, dass du Welsche bist und ich Deutschschweizer, dass wir so unterschiedlich mit dem Körper umgehen? Noëlle zuckte mit den Schultern: Das glaube ich nicht. C'est plutôt la manière de parler du corps qui est différente. Wir sprechen anders über unsere Körper. Zum Beispiel sagen wir: j'ai un chat dans la gorge, und ihr sagt: j'ai une grenouille dans la gorge. Nein, sagte ich, ich würde eher sagen: Ich habe eine Kröte im Hals nicht einen Frosch. Aber gut, ist doch egal. Es sind beides Tiere, und ich finde, im Grunde meint das dasselbe.

Da hast du recht, sagte Noëlle. Sie wusste nicht mehr, ob sie Zucker oder Salz für ihr Rezept brauchte, und begann, alle Küchenschränke zu durchwühlen. Weisst du, wo die Kochbücher sind?, fragte sie. Nein… Ich traute mich nicht zu sagen, dass ich die alle aussortiert hatte – man findet ja eh alles im Internet.

Hast du meine grosse Kochbibel gesehen, die von Onkel René, Onkel Camille und Onkel Luc signiert war? Ich versuchte abzulenken. Wegen des Körpers – ich meinte: Auf Deutsch ist alles sehr direkt, sehr sachlich, sagte ich. Und Noëlle antwortet : Ich habe das Gefühl, in der Romandie beginnt man mit Gefühlen und Empfindungen, wenn man über den Körper spricht. Und man geht öfter präventiv zum Arzt!

Die Erbsen brannten immer noch höllisch auf meiner Haut. Aber ich hielt durch.

Präventiv? Was hätte ich denn präventiv für mein Knie tun sollen? Das war ein Unfall, den konnte ich doch nicht vorhersehen! Was willst du da präventiv machen, das Mountainbike vorher von einem Pfarrer segnen lassen?

Noëlle hockte sich auf den Boden und suchte hinter dem Mülleimer. Ich war sicher, dass die Bücher da irgendwo waren, murmelte sie.

Prävention! wiederholte ich. Was ist das überhaupt? Redet man da über das, was noch nicht wehtut? Willst du sagen, wenn man einen Romand fragt, was ihm wehtut, zählt er zuerst alles auf, was ihm nicht wehtut?

Noëlle richtete sich auf und brach in Lachen aus. C'est exactement ça! Oui c'est parler d'abord de ce qui va bien.

Tipps aus dem Hause Revaz/Stauffer

Kino:

«Le scaphandre et le papillon» von Julian Schnabel (2007)

«Hippocrate» von Thomas Lilti (2014)

«Patients» von Grand corps malade und Mehdi Ihdir (2017)

«Médecin de nuit» von Elie Wajeman (2020)

Literatur:

Molière: «Le médecin malgré lui», 1666.

P.D.James: «Meurtres en blouse blanche», Fayard 1988.

Martin Winckle: «La maladie de Sachs», Gallimard, 2005.

Gérard Salama: «Confidences d'un gynécologue», J'ai Lu, 2006.

Christian Lehmann: «Patients si vous saviez... : confession d'un médecin généraliste: témoinage, Points, 2007.

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