Wer wir sind – oder meinen zu sein
Waseem Hussain schafft mit «Habitus» eine Erzählung, die von einer gescheiterten Identitätssuche erzählt; denn wer wir sind, entscheidet vor allem auch die Gesellschaft, der Habitus, der einen Menschen formt. Den surrealen Text umspielen Fotografien und Illustrationen von Sascha Reichstein aus der Welt der Kristalle.
«Habitus» ist die Geschichte von einem, der eine neue Identität austestet, nachdem ihm gesagt wird, er sei Inder. Zwischen Traum und Wirklichkeit oszillierend macht sich Khemji auf die Suche nach den Spuren seiner Vorfahren, er, der eigentlich das Nichtstun mag.
Waseem Hussains Text beginnt mit den Worten: «Blinder Freund, wieso schickst du mir eine Postkarte von meinem eigenen Haus, gross und leer, wo es mir von toten Tieren träumt? Schreibst mir, ich sei Kapitän in einer Werft, ohne Schiff, ohne Land.» Mantraartig ziehen sich die Ansprachen an den blinden Freund durch den Text, lyrische Fragmente, die für sich selbst stehen, für den Schmerz des Nichtgesehenwerdens.
«Um herauszufinden, wie es sich anfühlt, Khemji genannt zu werden», schreibt der Protagonist einen Brief an ein Diamantenhandelsunternehmen in Bombay. Er möchte die Jubiläumsschrift «Indien von innen» kaufen. Der Direktor des Unternehmens bestätigt die Bestellung des Buches: «Er kennt mich zwar nicht, nimmt mich aber für denjenigen, der ich jetzt bin». Für Khemji eine Ermutigung, die Reise nach Indien anzutreten und nach seinen Vorfahren zu forschen.
Fotografien und Illustrationen von Sascha Reichstein unterbrechen den Text. Sie zeigen kristalline Oberflächen und lassen eintauchen in einen entfernten und unverständlichen Kosmos. Kristalle wachsen unter bestimmten Voraussetzungen. Dabei spielen Temperatur, Salzart, der Druck und die Zeit eine Rolle. Kristalle sind keine Lebewesen, und doch verkörpern sie Veränderung, Wachstum: «Im Reich der Mineralogie gibt es keine Grenzlinien. Mineralien bewegen sich, sie können den Aggregatszustand, die Form, den Ort verändern, ihre Grenzen verschieben, aber untergehen wie ein Kapitän ohne Schiff können sie nicht», so Silvia Henke in ihrem Essay, «Phantasmen der Herkunft», der auf «Habitus» folgt.
Das Trauma der Grosseltern und Eltern
Khemji versteigt sich zunehmend in seinen Träumen, was das Misstrauen seiner Gastfamilie, eines Obsthändlers und seiner Frau, weckt. Mit einem Furunkel am Bauchnabel begibt er sich in ein Krankenhaus, wo ihm Mythomanie, also die Sucht, zu lügen oder phantastische Geschichten zu erzählen, diagnostiziert wird. Die Warnungen des Taxifahrers, der ihn nach S. brachte, scheinen sich immer mehr zu bewahrheiten: «Glauben Sie mir, dies ist kein freies Land. Jeder nennt es eine Demokratie, die grösste auf der Welt. Es stimmt, einst lebte man hier nachbarschaftlich zusammen. Aber diese Leute haben aus unserem Land ein Schlachtfeld gemacht…»
Waseem Hussain rückt ein Thema in den Fokus, das in unseren westlichen Medien kaum Beachtung findet: den Hindu-Nationalismus Indiens, dessen Ursprünge bereits lange vor der britischen Kolonialherrschaft über Südasien zu finden seien, so Hussain. Im Zuge von neohinduistischen Reformbewegungen Ende des 19. Jahrhunderts – als Reaktion auf die christliche Kritik der Kolonialmacht in Bezug auf das Kastensystem – formierten sich auch radikale Kräfte. Das 1923 erschienene Buch von Vinayak Damodar Savarkar «Hindutva: Who is a Hindu?» beansprucht bis heute Gültigkeit. Darin wird die «Hindu-Nation» geografisch, ethnisch und religiös-kulturell definiert. Seit elf Jahren erhält der Hindu-Nationalismus unter Narendra Modi wieder Aufschwung.
Bei der Unabhängigkeit Indiens 1947 verfügte die britische Kolonialmacht über die Teilung Britisch-Indiens in Indien und Pakistan, «ein bitteres Abschiedsgeschenk der Briten», so Hussain. «Gemäss dem Prinzip von «Teile und herrsche» wurden Muslime, Hindus und Sikhs gegeneinander aufgehetzt, als klar wurde, dass Indien die Unabhängigkeit erlangen würde», so Hussain. 7 Millionen Muslime wurden aus Indien und 10 Millionen Hindus und Sikhs aus Pakistan vertrieben. Unter den vertriebenen Muslimen waren auch Waseem Hussains Grosseltern, die mit ihren Kindern auf dem Seeweg nach Karachi flüchteten. «Sie waren an Leib und Leben bedroht und mussten ihr Vermögen zurücklassen. Die Frauen waren gezwungen, ihren Schmuck zu verkaufen, um sich in Bombay die Unterkunft in einem Flüchtlingsheim, die Überfahrt nach Karachi und dort eine kleine Wohnung finanzieren zu können», so Hussain.
Schweizer Postkolonialismus
Waseem Hussain kam 1967 mit seiner Familie in die Schweiz. Sein Vater hatte als Bankier den Auftrag, in der Schweiz die Niederlassung einer pakistanischen Bank aufzubauen. Er sei ein einfacher Bankangestellter gewesen, über dessen Tisch Handelsfinanzierungsdossiers der Gebrüder Volkart AG gegangen seien. «Mein Vater hat das Schweizer Kolonialmodell verstanden; dass Handelswarenpapiere anderswohin gehen als die Papiere der Finanzströme», so Hussain. Bis 1999 war die Gebrüder Volkart AG der viertgrösste Baumwollhändler weltweit, wobei «Baumwolle nur in seltenen Fällen Winterthur erreichte». Mit der Niederlassung in der Schweiz wollte die Bank näher am Kunden sein. Und der angenehme Nebeneffekt: «Der Landadel in Pakistan konnte durch die Schweizer Niederlassung die Steuern umgehen», so Hussain. «Mein Vater hatte sich den Habitus eines Bankiers zugelegt. Als Mensch war er indischstämmiger Pakistaner, wechselte von einem Habitat ins andere, von Indien nach Pakistan und von Pakistan in die Schweiz».
Diese frühe Sensibilisierung für die Fluidität von Rollen und die Brüchigkeit von Identitäten hat Hussain geprägt. In der Kindheit sei er aufgefallen mit einer Mutter, die einen Sari trug, und einem Zuhause, das nach Gewürzen gerochen habe. Er sei aber nie in eine Überanpassung gegangen. «Aus der Frage nach meiner Herkunft wurde ein lebenslanges Projekt».
Er habe oft auf dem Balkon am Zürichsee gestanden und der Mutter rapportiert, was sich auf der Strasse abspiele, bis die Mutter, mit dem Haushalt beschäftigt, dem Buben gesagt habe, er solle seine Beobachtungen aufschreiben. So seien die Weichen für seine spätere berufliche Laufbahn gelegt worden: Waseem Hussain wurde Journalist und aus der inneren Zerrissenheit, die ihn zwischen 20 und 30 plagte, wurde ein Sowohl als auch. Heute sei er alles gleichzeitig. «Ich bin nebst Schweizer und Pakistaner auch Inder, selbst wenn Indien der Ansicht ist, dass ich das nicht sei», so Hussain.
Der Umgang mit der Wahrheit
Seine journalistischen Recherchen führten ihn nach Pakistan, Afghanistan und Indien, wo er mit Politikern und Staatschefs in Kontakt kam. Er interviewte unter anderem die ehemalige pakistanische Premierministerin Benazir Bhutto, deren Regierung aufgrund von Korruptionsvorwürfen zuerst 1990 und, nach einem Interregnum der Opposition, 1996 wieder aufgelöst wurde. 1998 belegte Hussain in einem Artikel in der NZZ, dass sich die pakistanische Regierung unter Vorspiegelung falscher Tatsachen die Schweizer Rechtshilfe sicherte, was Ende 1997 zur vorsorglichen Sperrung Bhuttos Genfer Bankkonten führte. In Pakistan kam es allerdings nie zu einer Anklage, was Voraussetzung für die Beantragung der Rechtshilfe der Schweiz gewesen wäre. Diese Recherche bescherte Hussain auch die Überwachung durch die Schweizer Bundespolizei, welcher bis 2008 auch der Staatsschutz oblag, bevor dieser in den Nachrichtendienst des Bundes transferiert wurde. Im Zuge des Bergier Berichtes, welcher die Aufarbeitung der Vermögenswerte, die während des 2. Weltkrieges in die Schweiz gelangte, zusammenfasste, habe die Schweiz ihr Image aufpolieren wollen und im Falle des Rechthilfegesuches aus Pakistan voreilig gehandelt, so Hussain.
Aus Recherchen wie der eben skizzierten und den vielen prägenden Begegnungen, Beobachtungen und politischen Problemen kristallisierte sich Hussains Erzählung «Habitus» heraus. Vor diesem Hintergrund ist auch der Gerichtsprozess, in dem sich Khemji am Ende der Erzählung wegen «Anmassung» verantworten muss, nicht mehr gänzlich surreal. Die Wirklichkeit selbst ist fragil und nicht immer gründet sie auf der Wahrheit. Um die Wahrheit geht es auch, als sich Khemji im Krankenhaus seinen Abszess operativ entfernen lässt. Er trifft fünf andere Patienten, von denen der erste nach einer Operation am Becken «wieder Worte mit Gewicht sprechen kann». Der zweite, ein Bäckermeister, kann nach einem operativen Eingriff an den Stimmbändern wieder den Teig rezeptgemäss kneten. Ein Zeitungsdrucker ist nach der Operation der Gesichtsnerven wieder fähig, die «Wahrheit in Bleibuchstaben zu setzen», während der vierte an einer umgestülpten Hornhaut litt: «Wahrheit und Wirklichkeit … gerieten eben durcheinander, wenn man kein wachsames Auge habe.» Dem fünften tätowierte der Chirurg indigoblaue Textbänder aus der jahrtausendealten Palmblattbibliothek auf die Haut. «Der gute Chirurg hat eine lausige Schrift … aber die Tätowierungen sind absolut wahr. Jede einzelne», so das Urteil einer der fünf Patienten.
Für Waseem Hussain, der als investigativer Journalist vielfach desillusioniert wurde, kann eine alte Wirklichkeit immer auch neben einer neuen stehen. Das Bollywood-Indien hat genauso Bestand, wie seine Schattenseiten. Diese Gleichzeitigkeit von Widersprüchlichem und Ambivalentem vereint er in «Habitus» in einer surrealistischen Traumwelt, in der der Traum im Traum die behauptete Wirklichkeit verifiziert. So konfrontiert er die Lesenden mit einer archaischen Bilderwelt, die nicht nach wahr oder falsch fragt, einer Welt, die an menschliche Urängste und Hoffnungen rüttelt. «Ich bekomme alle paar Tage Rückmeldungen von Leser:innen, die mir schreiben, dass sie diese Geschichte träumen», so Hussain.
Das Habituskonzept, so Silvia Henke in ihrem Essay, geht auf den französischen Soziologen Pierre Bourdieu zurück. Bourdieu ging davon aus, dass soziale Muster unbewusst unsere Wahrnehmung und damit Klassenzugehörigkeit und Bildungschancen prägen. Wer wir sind – oder meinen zu sein – hängt zu grossen Teilen von unserem Habitus ab, unserer Prägung durch Traditionen, Mythologien, Narrationen und Ideologien.
Hussain schafft mit «Habitus» paradoxerweise eine Erzählung, die vom Umgang mit dem Habitus handelt, aber universell lesbar ist.