Druckgrafiken von Picasso und Markus Raetz im Museo d’arte in Mendrisio

Zu Besuch im Tessiner Mendrisio, wo das Museo d’arte Druckgrafiken von Pablo Picasso und dem Schweizer Künstler Markus Raetz zeigt. Was beide verbindet und warum Grafiken keineswegs statische Kunstwerke sind.

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Ein Schweizer Künstler neben dem Meister schlechthin: Raetz neben Picasso im Museo d’arte in Mendrisio

Im Museo d’arte in Mendrisio sind bis am 25. Januar 2026 Druckgrafiken von Picasso und dem 2020 verstorbenen Schweizer Künstler Markus Raetz zu sehen. Das 1982 eröffnete Museum befindet sich eingangs der hübschen Altstadt von Mendrisio in den historisch bedeutsamen Baulichkeiten des mittelalterlichen Klosters der Serviten, eines Florentiner Katholikenordens. Zu Fuss ist es in einer knappen Viertelestunde vom Bahnhof aus erreichbar. Das Museum zeichnet sich seit Jahren durch originelle, forschungsbasierte Ausstellungen von Künstler:innen aus dem 20. und 21. Jahrhundert aus. Es werden immer wieder Themenschwerpunkte gezeigt, die sich ins kulturelle Umfeld des Tessins einordnen lassen. So hat Barbara Paltenghi Malacrida, die dem Museum seit Mitte 2022 als Direktorin vorsteht, dem Tessiner Künstler Cesare Lucchini 2023 eine Ausstellung gewidmet. Auch der Kontakt zur Schweizer Kunstszene in der Romandie und der Deutschschweiz liegt ihr am Herzen, was die aktuelle Ausstellung mit Druckgrafiken von Markus Raetz belegt. Zudem stammen die Exponate von Picassos Druckgrafiken allesamt aus Schweizer Museen.

Vereint im Kippeffekt

Was die Ausstellungen zu Picasso und Raetz verbindet, ist unter anderem das experimentelle Interesse, das die Künstler der Druckgrafik entgegenbrachten. Direkte Bezüge zwischen beiden Werken gibt es keine. Jedoch ist die Konfrontation des Meisters, der das ganze 20. Jahrhundert mit seiner ungebrochenen Schaffenskraft geprägt hat, mit dem weniger bekannten Raetz, der Picasso in Bezug auf schöpferische Neugier jedoch in nichts nachsteht, durchaus verlockend. Barbara Paltenghi, die für die Picasso-Ausstellung verantwortlich zeichnet, hat eine Radierung von ihm aus dem Jahre 1968 als letztes Bild ausgewählt. Sie erscheint auch auf dem Titelblatt des entsprechenden Katalogs. Die Zeichnung kann als mögliche Verbindung zwischen den beiden Werken gesehen werden (siehe unten). Im Porträt Picassos damaligen Ehefrau Jacqueline Roque vermischen sich Vorder- und Seitenansicht, was sich am markanten Profil kristallisiert, an dem die beiden Ansichten ineinander kippen. Optische Kippeffekte zwischen innen und aussen, voll und leer, rechts und links haben auch Raetz zeitlebens fasziniert. So kann man das Titelbild des Raetz gewidmeten Katalogs auch als eine Art luftiges Porträt deuten. Zudem winden sich in der 2016 entstandenen Flugfigur kunstvoll Möbiusbänder, in denen Vorder- und Rückseite ständig changieren, in denen Buchstaben, Köpfe und Zahlen spielerisch ineinander übergehen.

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"6.8.1968 II" von Pablo Picasso © Succession Picasso / 2025, ProLitteris, Zurich

Radikale Offenheit bis ins hohe Alter

Die in Mendrisio ausgestellte Druckgrafik Picassos stammt aus der Sammlung des Mäzens Georges Bloch, der im Besitz des beinahe gesamten druckgrafischen Werk Picassos war. 1972 schenkte Bloch der Gottfried Keller-Stiftung über 470 Werke seiner Sammlung. Bedingung war, dass sie als Leihgaben an acht verschiedene Schweizer Museen verteilt werden. So gingen sie unter anderem an die Graphische Sammlung der ETH Zürich, die bis zum 9. November 2025 der Freundschaft zwischen Bloch und Picasso eine Ausstellung widmete.

In Mendrisio sind über 150 Werke von Picasso zu sehen, die verschiedenen druckgrafischen Techniken entsprungen sind. Für Picasso stellten sie ein wichtiges Experimentierfeld dar, was dazu führte, dass er sich auch auf diesem Gebiet einen Namen als Avantgardist machte. Picasso bediente sich nicht nur aller möglichen Drucktechniken, sondern entwickelte sie zum Teil weiter. Die Ausstellung in Mendrisio zeigt eine repräsentative Auswahl aus diesem gewaltigen Œuvre. Thematisch ist sie in verschiedene Stationen aufgeteilt: Porträts, Mythologie, Tauromachie, Stillleben, Eros, Tod und Weitere. Innerhalb der einzelnen Motivkreise werden Werke aus allen Schaffensperioden und Stilrichtungen Picassos gezeigt. Die bedeutendste Serie produzierte Picasso im hohen Alter von 89 Jahren, die Suite 347, zu der auch das bereits erwähnte Porträt gehört.

Als Motto für seinen sehr lesenswerten Beitrag im zweisprachigen Katalog (italienisch-deutsch) zitiert Matthias Frehner einen Satz von Picasso aus dieser Zeit: «Auch heute weiss ich noch nicht, wohin mich meine Arbeit führt.» Ziel dieser Offenheit sei, so Frehner, nicht «ein wie auch immer beschaffenes Spiegelbild der Wirklichkeit, sondern ein Erkenntnismodell nicht-sichtbarer Gesetzmässigkeiten.» Zuletzt sei noch auf den informativen Aufsatz von Barbara Paltenghi im selben Katalog hingewiesen, in dem sie die Druckgrafik Picassos in den kunsthistorischen Kontext an der Schwelle des 19. und 20. Jahrhunderts einordnet und auf die im Leben Picassos wichtige Rolle des Pariser Sammlers und Verlegers Ambroise Vollard eingeht.

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Die Kataloge zu den Ausstellungen: Markus Raetz links, Pablo Picasso rechts.

Von wegen statisch

Die ausgestellten über 90 Kupferstiche von Markus Raetz umfassen sein gesamtes druckgrafisches Werk. Viele der Exponate sind zum ersten Mal der Öffentlichkeit zugänglich. Auch in der Druckgrafik interessiert sich Raetz, wie wir das von seinen Gemälden, Skulpturen und Installationen her kennen, vor allem für das Phänomen der optischen Wahrnehmung, d.h. unter anderem für Kippeffekte, die aus wechselnden Positionen des Betrachters resultieren – bei denen scheinbar eindeutig identifizierbare Gegenstände in etwas völlig anderes umschlagen können wie zum Beispiel in Croisement aus dem Jahre 1997. In dieser Grafik fordert Raetz den Betrachter auf, in seiner Einbildungskraft zwei verschiedene Positionen bei den Lektüren der auf Papier gedruckten Wortplastik einzunehmen, die aus dem Wort «Nichts» das Wort «Alles» und umgekehrt hervorzaubern. Dadurch führt er uns vor Augen, wie man von verschiedenen Standpunkten aus das scheinbar Gleiche ganz anders sehen und lesen kann. Derartige «Sehspiele» könnten uns ermuntern, ein dynamisches Weltverständnis auszubilden und was wir sehen, nicht einfach als gegeben anzunehmen.

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"Zwei Pole" von Markus Raetz © Monika Rätz - Successione Markus Raetz / 2025, ProLitteris, Zurich (Bild: Cosimo Filippini)

Im auch bei Raetz zweisprachigen Katalog (ebenfalls italienisch-deutsch) ?? weist Kuratorin Francesca Bernasconi in einem Essay darauf hin, dass wir vielleicht unbewusst «dazu neigen, Grafiken als ‹statische› Werke anzusehen, die ein Bild, einen Gedanken endgültig auf Papier festhalten» – dass dem aber keineswegs so sei. So trägt zum Beispiel die Technik des Tiefdrucks die Seitenverkehrung von links nach rechts und den Umschlag von Leere, der aus dem Material herausgestochenen Furche, in Fülle, der in die Furche gegossenen Farbe, in sich. Von diesem dem Tiefdruck immanenten Umschlag war Raetz fasziniert, durch ihn brachte er erstaunliche künstlerische Visionen hervor. Ich möchte in diesem Zusammenhang noch auf eine Arbeit von 2016, Entreacte (Kopf dergestalt dargestellt), hinweisen (Abbildung Katalog, Nr. 88), in der Raetz aus zwei simplen Strichmännchen andeutungsweise ein Gesicht hervorzaubert. Die Striche, die die Gliedmassen der beiden Figuren knapp markieren, deuten zugleich die Umrisse eines Gesichts an. In ähnlicher Weise verwandelt sich auf sprachlicher Ebene «dergestalt» anagrammatisch in «dargestellt».

Rainer Michael Mason, ausgewiesene Kenner von Druckgrafik und im Speziellen der von Raetz, weist in seinem interessanten Essay unter anderem auf eine mit das dünnste Loch betitelte Serie von Stichen hin, in der Raetz eigenartige Landschaften hervorbringt, so zum Beispiel die Grafik Gross und klein, nah und fern (Flaschen) aus dem Jahre 2015 (Abbildung Nr. 74). Mason fordert uns auf, auf ihnen den Blick nach Erkennbarem schweifen lassen. Dabei tauchten «im unbeschreiblichen Niemandsland» oft Figuren auf, wie im vorliegenden Fall Flaschen, Tiere oder Gesichter. In diesen Kupferstichen zeigt sich auch die Nähe zu jenen Rembrandts, die Raetz genau studiert hat. Ebenfalls wird mit den Flaschen sein Interesse an den Stillleben von Giorgio Morandi deutlich. Abschliessend kann man sagen, dass sich ein Ausflug ins Museo d’arte nach Mendrisio auf jeden Fall lohnt.

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