Basler Guerilla-Kunst der ersten Stunde

Seit den 90er-Jahren taucht der schwarze Koffer immer wieder an Vernissagen auf. Er ist das Kennzeichen der Guerilla-Künstlergruppe «Protoplast», die entgegen der allgegenwärtigen Selbstvermarktungskultur anonym agieren. Katia Sophia Ditzler traf ein Mitglied der Gruppe zum Gespräch.

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Der schwarze Koffer weist an Vernissagen auf die Anwesenheit der Mitglieder von «Protoplast» hin. (Bild: Katia Sophia Ditzler)

Niemand weiss so genau, wer sich alles hinter dem Künstlerkollektiv verbirgt. Das ist Absicht: Die Mitglieder spielen mit dem Mysteriösen. Bei Vernissagen erscheint der ikonische Protoplast-Koffer aus dem Nichts. Das bedeutet, dass zumindest ein Teil des Kollektivs anwesend ist. Dieser gibt sich jedoch nicht zu erkennen. Dann verschwindet der schwarze Koffer plötzlich, was bedeutet, dass die anwesenden Mitglieder wieder verschwunden sind. Niemand soll wissen, wer eigentlich zu Protoplast gehört. Passend dazu geben die verschleierten Fenster des ebenerdigen Studios in der Basler Erlenmatt keine Einblicke preis. Wir von cültür freuen uns daher ganz besonders, eines der Gründungsmitglieder dort besuchen zu dürfen.

Katia Sophia Ditzler: Danke für die Einladung Protoplast. Wir springen sofort ins kalte Wasser: Protoplast legt Wert auf seine Anonymität, die Teil eures Mythos geworden ist. Warum diese Selbstmythologisierung?

Protoplast: Wir möchten nicht im Vordergrund stehen und die Sicht auf unsere Werke, die Artefakte, versperren. Der jahrhundertealte Drang zur Selbstinszenierung der Künstlerpersönlichkeit trägt unserer Ansicht nach wenig dazu bei, die Kunst selbst zu stärken. Wahrscheinlich begann diese Entwicklung um 1500, als Albrecht Dürer seine Werke eigenhändig zu signieren begann. Zuvor galt insbesondere in der religiösen Kunst, dass es weniger auf den ausführenden Künstler ankam, sondern auf das Werk, das als von Gott inspiriert verstanden wurde. Ganz anonym sind wir allerdings nicht – wir sind nicht wie Banksy, für den völlige Anonymität Teil des künstlerischen Konzepts ist. Uns geht es vielmehr darum, diskret zu arbeiten. Wenn man eine Künstlergruppe mit einem eigenen Namen gründet, muss man die einzelnen Mitglieder schließlich nicht mehr erwähnen oder kennen.

Das erinnert mich an den Naumburger Meister, einen der begnadetsten Bildhauer des Mittelalters. Seine berühmtesten Werke ziehen noch heute Touristenscharen in den Naumburger Dom. Doch niemand weiss, wer er war. Ist das nicht schade?

Selbst wenn man seinen Namen, seine Körpergrösse oder Frisur kennen würde, wären seine Werke ja weder besser noch schlechter.

Aber es wäre doch spannend, zu wissen, wie sein Leben verlaufen ist, bei wem er gelernt hat, wen er beeinflusst hat, wie seine Karriere auch in Anbetracht der sozialen und politischen Bedingungen seiner Zeit verlaufen ist.

Das mag sein, und sicherlich hat er nicht beabsichtigt, dass sein Name in Vergessenheit gerät. Für uns ist es jedoch wichtiger, dass unsere Werke für sich selbst sprechen und unsere individuellen Egos zurücktreten. Wir haben uns bewusst entschieden, dem Trend des persönlichen Selbstmarketings eine Absage zu erteilen.

Fast wie Roland Barthes in seinem Essay «Tod des Autors». Wie sieht euer künstlerischer Prozess aus?

Wir planen die jeweils nächste Ausstellung und zeigen in der Regel ganz neue Arbeiten. Oft realisieren wir in der jeweiligen Stadt auch eine situative Arbeit auf einer Betonwand, um unseren Wurzeln in der Guerilla- und Streetart treu zu bleiben. Wir arbeiten mit den unterschiedlichsten Medien. Angefangen haben wir mit Papier und Kleister, dann kamen Ölgemälde und Transferdrucke auf Blech hinzu. In Zukunft wollen wir auch Textilkunst und Holzschnitt in unsere Arbeit integrieren. Alles bleibt aber in unserer bekannten protoplastischen Bildsprache.

Protoplast Fotos für cültür
Die Wurzeln von Protoplast liegen in der Guerilla- und Streetart. (Bild: Protoplast)

Was macht die protoplastische Bildsprache aus?

Die Kuratorin Heinke Haberland vom The Pool Art Space in Düsseldorf hat sie einmal als Kaugummi-Kubismus bezeichnet. Wir haben aber immer vermieden, unsere Bildsprache zu beschreiben. Wir können unsere Ergebnisse ja auch nicht hundertprozentig voraussagen, sind selbst oft überrascht davon. Im Grunde stehen wir auf derselben Seite wie das Publikum.

«In der Bibel wird der Protoplast als der ‹erster Mensch› oder Urmensch verstanden. Er steht für die Zeit vor der Trennung in Mann und Frau und symbolisiert das gesamte Menschenwesen.»

Würdest du sagen, ihr seid so etwas wie Katalysatoren für etwas, das sich dann durch euch manifestiert?

Besucher:innen unserer Ausstellungen sagen uns oft, dass sie von unseren Werken angezogen werden. Zwar können sie diese nicht erklären, doch die Artefakte üben eine Sogwirkung aus, die das Publikum immer wieder dazu bewegt, erneut hinzusehen. Offensichtlich spricht unsere Kunst dabei etwas an, das möglicherweise das kollektive Unbewusste berührt.

Ein Protoplast ist in der Biologie eine Zelle, die ihre feste Schale abwirft und verletzlich, durchlässig wird. Sie kann sich verändern, verbinden, wandeln – und dennoch wieder zu einem ganzen Organismus heranwachsen. Dieses Abstreifen nennt man «protoplasting». Warum habt ihr euch so genannt?

In der Bibel wird der Protoplast als der «erste Mensch» oder Urmensch verstanden. Er steht für die Zeit vor der Trennung in Mann und Frau und symbolisiert das gesamte Menschenwesen. Aber auch der Begriff aus der Biologie war für uns interessant. Wir wollten ihn als Metapher in unser Arbeitskonzept übernehmen. Wir gründeten Protoplast damals, um «der Frage nach dem zeitgemässen menschlichen Unternehmen» nachzugehen. In den frühen 90ern herrschte eine Aufbruchstimmung, die durch das Ende des Kalten Krieges, technologische Innovationen sowie eine allgemeine Hoffnung und Neugier auf die Zukunft bedingt war. Zudem war die soziale Plastik von Beuys für uns damals sehr wichtig. Das Wort «Protoplast» klingt zudem gut und einprägsam.

«Die Kunstwelt wirkt heute deutlich zugänglicher und freundlicher als noch vor einigen Jahrzehnten.»

Von 1990 bis 2010 bestand euer Konzept darin, mit «imaginären Produkten» zu arbeiten. Seit 2010 beschäftig ihr euch mit dem «Generieren von Artefakten». Wie kam dieser Programmwechsel zustande?

Wir starteten 1990 mit wechselnder Besetzung. Seit fünf Jahren arbeiten wir mit unserem neuen Programm im öffentlichen Raum und haben uns dabei grundlegend verändert. Seit 2020 sind wir als Dreier-Kollektiv unterwegs, seit 2024 zu viert. Nach 20 Jahren wollten wir unser erstes Programm abschliessen, da wir das Gefühl hatten, vieles bereits erzählt zu haben. Zudem führten personelle Veränderungen in unserem Kollektiv zu neuen Ideen, die wir ausprobieren wollten. Spätestens seit Anfang der 2000er-Jahre zeigte sich, dass verspielt-utopische Zukunftsvisionen kaum noch gefragt waren. Auf diese Entwicklung wollten wir reagieren. Also begaben wir uns auf die Suche nach neuen Wegen. Wir begannen wieder fast bei null, arbeiteten viele Jahre intensiv im Atelier an unserem Prozess, experimentierten und versuchten zu verstehen, warum manches gelang und anderes nicht. Nach und nach entstand eine eigene Arbeitsweise. Schliesslich entschieden wir uns, mit Streetart im Stadtraum sichtbar zu werden. Da uns damals niemand mehr kannte, starteten wir 2020 mit nächtlichen Interventionen. Kurz darauf richteten wir einen Instagram-Account ein, über den immer mehr Menschen auf unsere Arbeit aufmerksam wurden. Auch Galerien, Offspaces und Kunstinstitutionen zeigten zunehmend Interesse. Mittlerweile führen diese Verbindungen regelmäßig zu Ausstellungen, vor allem in europäischen Städten wie Madrid, Düsseldorf, Stuttgart, Timișoara und Antwerpen. Darüber hinaus wurde der Dokumentarfilmer Marcel Scheible auf unsere Projekte aufmerksam. Gemeinsam mit der Produktionsfirma Point de Vue arbeitet er aktuell an einem Film mit dem Titel «Merkwürdige Dreiecke», der das Areal des Autobahnkreuzes Nordtangente beleuchtet. Dieses Gebiet ist vielschichtig und schwer einzuordnen: industriell geprägt, zugleich aber von Tierpark, Natur und Naherholungsraum bestimmt. Da viele unserer Arbeiten dort zu sehen sind, findet er, dass wir diesem besonderen Ort eine eigene Note verliehen haben.

Protoplast Fotos für cültür
Die Arbeiten von Protoplast speisen sich aus dem kollektiven Unbewussten. (Bild: Protoplast)

Mir ist aufgefallen, dass ihr auf Social Media oft andere Künstler:innen erwähnt und fördert. Wie wichtig ist euch der Community-Gedanke in der Kunstszene?

Die Kunstwelt wirkt heute deutlich zugänglicher und freundlicher als noch vor einigen Jahrzehnten. In den 80er- und 90er-Jahren herrschte ein übermässiger Konkurrenzdruck, und Kulturjournalist:innen fungierten als Gatekeeper. Sie erhielten täglich eine Flut von Einladungen von Künstler:innen und Galerien und entschieden, was Aufmerksamkeit bekam – und was nicht. Wenn über eine Ausstellung nicht berichtet wurde, schien es fast so, als hätte sie nie stattgefunden. Diese Situation führte oft dazu, dass Künstler:innen eher nebeneinander als miteinander arbeiteten. Wenn heute rückblickend gesagt wird, früher sei alles besser gewesen, kann ich das so nicht teilen – im Gegenteil. Heute schätze ich die grössere Offenheit: Künstler:innen gratulieren einander, freuen sich über die Erfolge anderer und suchen eher nach Verbindungen als nach Abgrenzung. Auch wir erleben das so. Auf Instagram folgen uns derzeit rund 75‘000 Menschen. Nachdem unser Account 2022 gehackt wurde, mussten wir damals zwar noch einmal neu anfangen, doch inzwischen ist es für uns selbstverständlich geworden, nicht nur für die eigene Sichtbarkeit zu arbeiten, sondern auch andere Künstler:innen zu unterstützen.

Euer Symbol, oder vielleicht eher euer Totem, ist der bereits erwähnte Protoplast-Koffer. Kannst du seine Funktion beschreiben?

Er steht sinnbildlich für die gemeinsame Reise unseres künstlerischen Kollektivs durch die Welt. Seit 1990 begleitet er uns auf unseren Wegen. Natürlich bringt er Vor- und Nachteile mit sich – doch für uns überwiegen die positiven Seiten. Er ist unverwechselbar und verweist auf unseren handwerklichen Ansatz: Wir arbeiten ausschliesslich manuell, ohne digitale Hilfsmittel, weder mit Photoshop noch mit KI. Gleichzeitig verkörpert er unsere Bereitschaft, aufzubrechen und präsent zu sein. Besonders die jüngere Generation scheint sich von ihm angesprochen zu fühlen und versteht seine Bedeutung unmittelbar. Bei älteren Kurator:innen erleben wir mitunter Zurückhaltung, vielleicht auch Irritation, da er nicht in das verbreitete Bild des exzessiv-genialischen Künstlers passt. Für uns aber liegt gerade darin seine symbolische Kraft.

Wo werden eure nächsten Ausstellungen stattfinden?

Ab dem 21. November zeigen wir Arbeiten im Kunstraum Annahme in Basel, im Februar folgt eine Ausstellung in der Galerie Die Box in Karlsruhe. Im Herbst 2026 sind wir in der FABRIKculture zu Gast. Zudem sind weitere Projekte in Hamburg, Trun und Frankfurt in Planung – die Namen dieser Kunstinstitutionen dürfen wir allerdings noch nicht bekanntgeben.

Sehr mysteriös. Danke für das Gespräch!

Wir danken auch!

Aktuelle Ausstellung: Gruppenausstellung «To be. Or to have.», Fondation WhiteSpaceBlackBox, Neuchâtel, bis 16. November 2025.

Mehr Infos unter: protoplast.ch

Protoplast Fotos für cültür
Protoplast arbeitet mit den verschiedensten Materialien wie Papier, Kleister, Ölfarbe und verwendet Transferdrucke auf Blech und will künftig auch Textilkunst und Holzschnitt in seine Arbeit integrieren. (Bild: Protoplast)

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