Eine Kunst-Oase der Superlative

Im Kosmos der Villa Panza in Varese, Hauptstadt der gleichnamigen Provinz im Nordwesten der Lombardei, kommt man aus dem sinnlich-fröhlichen Staunen nicht heraus. Ein heisser Kurzreise-Tipp für einen bunten Herbst – auch für alle, die glauben, mit moderner Kunst nicht viel am Hut zu haben.

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Das Gartengewächshaus mit den vielfarbigen Glasbildern von Sean Scully. (Bild: Daniela Giuliani, Beat Koch, Alfred Schlienger)

Natürlich ist es erlaubt – und manchmal sogar geboten – , etwas skeptisch zu bleiben, wenn Kunst-Aficionados ins Schwärmen geraten. Seien Sie also vorgewarnt. Aber Hand aufs Herz: Die Villa Panza Collection in Varese ist, um es im Michelin-Jargon zu sagen, wirklich eine Reise wert. Exakt zwischen dem Lago Maggiore und dem Comer See gelegen, ist es nur ein Katzensprung über die Südgrenze unseres Landes. Von Mendrisio aus erreicht man die lombardische Universitätsstadt Varese mit ihren knapp 80 000 Einwohnern per Zug in 21 Minuten, von Lugano aus in 41 Minuten. Und man wird, versprochen, reich belohnt.

Ein Tempel des Lichts, der Farbe, der Kontemplation

Die Villa Panza ist mehr als ein Museum. Sie war ursprünglich der geerbte Landsitz des Mailänder Juristen Giuseppe Panza (1923–2010), in dem er mit seiner Frau und seinen fünf Kindern während vieler Jahrzehnte lebte und wirkte. Im Laufe der Jahre hat er als Kunstsammler daraus einen Tempel des Lichts, der Farbe, der Kontemplation – und der korrespondierenden Gegensätze – gemacht. Umgeben ist die Villa aus dem 18. Jahrhundert von einem herrlichen, 33 000 Quadratmeter umfassenden Park, in dem allein schon der grossartige alte Baumbestand bezaubert.

Im Jahr 1996 schenkt Giuseppe Panza die Villa, den Park und seine gesamte Kunstsammlung, die über 2550 Objekte zählt, der gemeinnützigen Stiftung Fondo Ambiente Italiano (FAI). Seit dem Jahr 2000 ist der Landsitz mit seinen hochkarätigen Kunstwerken für die Öffentlichkeit zugänglich.

Besonders spannend ist diese Villa Panza auch, weil sich in ihr verschiedene Fragen und Tendenzen der modernen Kunstgeschichte spiegeln:

  • Wie viel von der Exzellenz einer Kunstsammlung liegt am so sensiblen wie wagemutigen Blick eines intuitiv künstlerisch engagierten Sammlers, der mehr als nur etwas Geld im Portefeuille hat?
  • Wie haben sich Kunstgeschichte, Kunstmarkt und Ausstellungsmethoden unter dem Einfluss von grossen Sammlern entwickelt?
  • Wie soll der Staat (z.B. als Regulator und Steuernehmer) umgehen mit solchen Sammlungen und dem nicht seltenen Bedürfnis dieser Sammlerpersönlichkeiten, ihre Kunstgüter an die Öffentlichkeit zu verschenken?

Aber zuerst will man natürlich diese Sammlung selbst sehen und erleben. Die Villa Panza Collection gehört ohne Zweifel zu den weltweit wichtigsten und einflussreichsten Kunstsammlungen des 20. Jahrhunderts. Ihr Hauptfokus liegt auf zeitgenössischer amerikanischer Kunst, auf abstraktem Expressionismus, Pop Art, Minimalismus, Konzeptkunst und ökologisch inspirierter Environmental & Land Art.

Ein Rausch des Minimalismus

Tritt man in den Innenhof der Villa Panza, wird man als Erstes von Meg Websters riesigem umgekehrten Wasserkegel empfangen, in dem sich der Himmel, die Gebäude und die Gesichter der Besuchenden spiegeln. Alles ist Reflexion.

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Cone of Water (2015) von Meg Webster im Innenhof der Villa Panza.

Die Bel Etage im Erdgeschoss der Villa lebt vom faszinierenden Kontrast der historischen Möblierung samt Spiegeln, Lüstern, Stuckaturen und den grossen, meist monochromen, avantgardistisch-abstrakten Bildern an den Wänden. Es ist – um es paradox zuzuspitzen – ein wahrer Rausch des Minimalismus. Das entwickelt eine Magie, der man sich kaum entziehen kann. Je nach Blickrichtung schillern auch die einfarbigen Bilder in ganz verschiedenen Tönungen.

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Die monochromen Bilder, Untitled (1985–1992), von Phil Sims im Billardraum der Villa Panza.

Einen zusätzlichen Reiz bietet in manchen Räumen die Konfrontation der monochromen modernen Bilder mit den urwüchsigen Skulpturen der aztekischen Kultur aus Mexiko oder afrikanischer Kunst aus Mali, Kamerun und Nigeria. Die gegensätzlichen Objekte treten in einen überraschenden Dialog und durchbrechen unsere üblichen Wahrnehmungsmechanismen. In den gewohnten White Cubes der modernen Museen würde sich der Reiz des Monochromen in der Fülle wohl bald erschöpfen.

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David Simpson (*1928), Gold Violet Shift (1992), davor afrikanische Skulpturen der Bambara Art aus Mali.

Der Zauber der Licht- und Raumkünstler

In den direkt angrenzenden ehemaligen Stallungen hat Giuseppe Panza einen ganzen Gebäudeflügel mit einigen seiner besonders geschätzten Lichtkünstler bestückt. Der Neonlicht-Zauberer Dan Flavin (1933–1996) erlebt hier einen beeindruckend raumgreifenden Auftritt in elf magisch und vielfarbig flirrenden Zimmern. Alles aus Material gefertigt, das der Künstler schlicht aus dem Baumarkt bezieht – und damit solch fulminante Raumtransformationen herbeizaubert. Eine hypnotische Imagination.

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Dan Flavins hypnotische Licht- und Rauminstallationen.
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Innovative Installationen am Bau

Eine wegweisende Besonderheit von Giuseppe Panzas Kunstleidenschaft besteht darin, dass er einzelne Künstler zu sich einlud und sie in der Villa ihre Projekte verwirklichen liess, die jetzt in der baulichen Struktur des Hauses fest eingeschrieben sind. Der Pazifist, Licht- und Land-Art-Künstler James Turrell (* 1943) hat so einen Raum geschaffen, der auf geheimnisvolle Weise von Luft und Licht geflutet wird. Man schaut unwillkürlich nach oben und versucht zu enträtseln, wie das Tageslicht, mehrfach gebrochen, den Raum zum Schweben bringt.

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Der geheimnisvoll schwebende Licht-Raum Virga, Varese (1976) von James Turrell.

So radikal wie sanft überraschend hat der Installationskünstler Robert Irwin (1928–2023) gleich ein ganzes Fenster in die Aussenmauer geschlagen und eröffnet damit einen ausgesuchten Blick in den Park – es wirkt wie ein Bild an der Wand. Panza hat damit einen Installations-Trend vorweggenommen, der inzwischen auch in den grossen etablierten Museen der Welt praktiziert wird.

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Robert Irwin, Varese Portal Room (1973): Ein Bild an der Wand – oder ein Blick in die wirkliche Natur?

Panzas Tochter Giuseppina berichtet in Interviews gerne davon, wie es für sie und ihre Geschwister als Kinder ganz selbstverständlich war, dass sie in ihrem Wohnhaus so rundum mit Kunst und schaffenden Künstlern, die über Monate hinweg zu einem Teil der Familie wurden, aufgewachsen sind. Kunst als ständiger Lebensraum.

Mit der Kunst die Natur feiern

In seiner letzten Lebensphase wandte sich Giuseppe Panza zunehmend einer ökologisch inspirierten Environmental & Land Art zu. Der umgebende Park der Villa Panza bietet dafür einen idealtypischen Rahmen. Der belgische Künstler Bob Verschueren (* 1945), der mit Blättern, Ästen und ganzen Baumstämmen arbeitet, hat hier mit The Slope eine Art ewiges Natur-Rad geschaffen.

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Bob Verschueren, The Slope (2014).

Der afroamerikanische Bildhauer Martin Puryear (* 1941) arbeitet seinerseits vornehmlich mit Holz, Rohleder, Stein und Teer. Die Villa Panza zeigt in einer grosszügigen Halle sein filigranes Werk Desire (1981).

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Martin Puryear, Desire (1981), aus Kiefer, roter Zeder, Pappel und Sitka-Fichte.

Im wundervollen Gartengewächshaus der Villa Panza fliesst alles zusammen: ein hoher verglaster Raum, ausgewählte Pflanzen allüberall und die reduzierte Ästhetik der vielfarbigen, fröhlich-besinnlich schillernden Glasfenster des gebürtigen Iren Sean Scully (* 1945).

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Das Gartengewächshaus mit den vielfarbigen Glasbildern von Sean Scully von innen.

Eine Sammlerpersönlichkeit mit spiritueller Ader

Giuseppe Panza war diese umfassende Liebe zur Kunst nicht unbedingt in die Wiege gelegt. Er wird 1923 als Sohn eines reichen Weinhändlers geboren. 1943 flüchtet er mit seinem älteren Bruder in die Schweiz, um der Einberufung in die von Deutschland kontrollierten faschistischen Kräfte auszuweichen. Er studiert Jurisprudenz, promoviert über ein rechtsphilosophisches Thema und wird nach dem Krieg im Immobilienhandel tätig.

Das prägende Schlüsselerlebnis kommt 1954: Der 31-Jährige macht eine grosse Amerikareise und wird in New York und Los Angeles mit dem Kunstvirus der modernen Avantgarde infiziert. Jährlich reist er nun mit seiner Frau für einen Monat in die USA, besucht Galerien und vor allem die Künstlerinnen und Künstler direkt in ihren Ateliers. Er ist fasziniert von den jungen abstrakten Expressionisten und Pop-Art-Künstlern, die man damals weder in Amerika noch in Europa wirklich kennt, geschweige denn schätzt. Man hält sie für Verrückte.

So wird Giuseppe Panza zu einem der ersten Entdecker von Mark Rothko, Franz Kline, Robert Rauschenberg, Claes Oldenburg, Roy Lichtenstein, Donald Judd und vielen anderen. Er erwirbt viele dieser Werke für unter 1000 Dollar, wie seine Tochter Giuseppina berichtet. Er habe eine eiserne Regel gehabt und nie über 10 000 Dollar für ein einzelnes Kunstwerk bezahlt.

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Giuseppe Panza (Mitte) mit dem Galeristen Guido Le Noci (links) und dem einflussreichen Kunstkritiker Pierre Restany (rechts) an der Kunst-Biennale 1958 in Venedig.

Was die Sammlung Panza auszeichnet, ist ihr Fokus auf Werke, die diesen entschiedenen Zug ins Reduzierte, Unendliche, ins Absolute haben. Giuseppe Panza scheint genau diese ästhetisch-spirituelle Dimension der minimalistischen Avantgarde-Künstler gesucht zu haben. Kunstgeschichtlich war er selber ein Autodidakt. «Ich hatte ursprünglich den Quattrocento (das 15. Jahrhundert), die Renaissance und die Impressionisten studiert», sagt er über sich, «aber es war für mich anregender, die Gegenwart zu verstehen, mich am Neuen zu orientieren.» So haben radikal subjektive und wagemutige Sammler manchmal eine Funktion, die auch der Kunstgeschichte und den grossen Institutionen neue Wege weisen kann. Giuseppe Panza kaufte mit sensiblem, prophetischem Geschmack die Zukunft. Bei ihm trifft sich die Avantgarde mit einer Art von säkularer meditativer Andacht.

Kalkül oder Grosszügigkeit?

Es hat sich in letzter Zeit eingebürgert, dass reiche Sammler einzelne ihrer Objekte in wichtigen Museen platzieren – und damit sukzessive das Renommee und vor allem den Wert ihrer eigenen Sammlung in die Höhe treiben. Auf den ersten Blick könnte es so erscheinen, als hätte Giuseppe Panza eine ähnliche Strategie verfolgt. 1984 verkauft er 80 Werke aus seiner Sammlung für 11 Millionen Dollar an das 1979 neu gegründete MOCA (Museum of Contemporary Art) in Los Angeles, ergänzt durch eine spätere Schenkung von 70 weiteren Werken. Sechs Jahre später klopft das New Yorker Guggenheim-Museum an und erwirbt für 30 Millionen 211 Werke und erhält zusätzlich 105 Werke von Panza geschenkt. Das füllt klaffende Lücken im eigenen Bestand der beiden Museen. Um das ganze Paket zu stemmen, verkauft der damalige Guggenheim-Direktor einen Kandinsky.

Ein zweiter Blick zeigt: Bereits in den Siebzigerjahren hat sich Giuseppe Panza mehrfach darum bemüht, seine Sammlung italienischen Museen zu schenken. Alle Verhandlungen scheiterten, nicht zuletzt wegen bürokratischer Hürden und staatlicher Steuerauflagen. Um von solchen Beschränkungen befreit zu sein, übersiedelt Panza 1992 nach Lugano und schenkt dem dortigen Kunstmuseum 200 Werke aus seiner Sammlung.

Heute sind die Werke der Panza-Collection in vielen wichtigen Museen der Welt präsent, neben dem MOCA Los Angeles und dem Guggenheim in New York und Bilbao auch im MOMA von San Francisco, im Hirshhorn Museum Washington, in der Reina Sofia Madrid und in den italienischen Museen von Verona, Sassuolo, Rovereto oder Gubbio. Gut zehn Prozent der rund 2550 Objekte umfassenden Kunstsammlung bleiben aber fest in der Villa Panza und werden dort in wechselnden Arrangements gezeigt.

Giuseppe Panza sagte mal über sich und seine Frau: «In 45 Jahren haben meine Frau und ich den riesigen Wertzuwachs der meisten Werke erlebt, die wir viele Jahre zuvor für wenig Geld gekauft hatten. Wir wählten diese Stücke aus, weil sie ‹wunderschön› waren, besser als andere. Wir sind keine Propheten, und so hatten wir keinerlei Vorstellung von ihrem künftigen Wert. Wir vertrauten nur in ihre Schönheit.»

An anderer Stelle betont er, an der Kunst habe ihn immer am meisten interessiert, wie sie sich auf den Alltag auswirke. Kunst im realen Leben.

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