Der Landwirtschaft den Prozess gemacht
Wie finden wir die Freude am Debattieren wieder? Im Palais de Rumine in Lausanne wurde diese Frage in einem inszenierten Gerichtsprozess vom Publikum verhandelt.
Am 2. November ging in der Aula des altehrwürdigen Palais de Rumine in Lausanne ein Prozess über die Bühne, der eine grundlegende Streitfrage der Schweizer Politik zum Thema machte: die Landwirtschaft mit all ihren Pro- und Contras.
Dieses Mal waren es 300 Personen, die dem Prozess beiwohnten und zum Schluss in der Rolle der Jury den Schuld- oder Freispruch zu fällen hatten. Hybrid kann man diese Art Schauspiel nennen, weil richtige Anwälte und Anwältinnen die präsidierende Richterin, den Staatsanwalt und den Verteidiger spielten und der Präsident der waadtländischen Jungbauern die Angeklagte, «die Landwirtschaft», darstellte. Bei allem Ernst der angesprochenen Sachverhalte bot das Spiel den Akteuren auf der Bühne Raum zum publikumswirksamen Improvisieren. Am besten bewährte sich in diesem performativen Improtheater dieses Mal Maître David Raedler als Staatsanwalt, der alle Register einer zugkräftigen Gerichtsrede zu ziehen verstand.
Aber auch wenn die Bühnenwirksamkeit der Spielenden im fiktiven Prozess noch wichtiger ist als im realen Gericht, sie ist letztlich doch nur ein Mittel, die Besucherinnen und Besucher für das zu gewinnen, was eigentlich angestrebt wird: die Klärung strittiger Grundsatzfragen, hier jene der Landwirtschaft, die die von ihr betroffenen Menschen zu spalten drohen: Konsument:innen gegen Produzent:innen, Stadt- gegen Landbewohner:innen.
Die fiktiven Prozesse, die von der Vereinigung Disputons-nous organisiert werden, zielen darauf ab, Streitigkeiten in konstruktive Debatten umzuwandeln. Vor einem Jahr sassen «das Auto», «das Spital», «die Grenze» und «das Wachstum» auf der Anklagebank, diesmal war es «die Landwirtschaft». Dass diese Prozesse «über die Bühne» gehen, ist nicht nur eine Redewendung. Denn tatsächlich werden sie möglichst bühnenwirksam in Szene gesetzt. Und deshalb ziehen sie auch ein grosses Publikum an. In der nächsten grosse Disputation in dieser Form wird am 16. November der Medizin der Prozess gemacht. Mit Hippokrates als dem Angeklagten. und der zu verhandelnden Frage, ob sein Arztgelöbnis noch in der Lage ist, die Verfehlungen der heutigen Medizin im Zaum zu halten? |
Anklage und Verteidigung
Der Ankläger konzentrierte sich durchgehend auf zwei Streitfragen und sprach dabei mehrmals in rhetorischer Zuspitzung von «toxischen Liebschaften». Die eine derselben bestehe im «oft unverhältnismässigen Gebrauch von gewissen toxischen Produkten und Substanzen, deren schädliche Auswirkungen allgemein bekannt sind», die andere im Schulterschluss der Landwirtschaft mit bestimmten Vertretern der Politik und der Behörden, denen sie ihre Unterstützung zusichere, um Direktzahlungen von mehreren Milliarden pro Jahr zu erhalten. Diese förderten nicht die Arbeit der einzelnen Bauern und Bäuerinnen, sondern den Kauf von Produkten der Chemie- und Maschinenindustrie, was die Übel der industriellen Agrarwirtschaft nur verschlimmere. Verteidiger und Angeklagte erwiderten, die Entwicklung laufe gerade in die Gegenrichtung, denn dank der mit den Direktzahlungen verbundenen Auflagen sei die Schweizer Landwirtschaft heute im Vergleich mit jener anderer Länder deutlich umweltfreundlicher. Pestizide blieben den Bauern jedoch unverzichtbar, wenn sie dem Verfassungsauftrag nachkommen sollten, der Schweizer Bevölkerung eine ausreichende Nahrungsmittelversorgung zu gewährleisten. «Toxische Liebschaften» pflegten aber weniger die Landwirte als vielmehr die Konsument:innen, die grossmehrheitlich konventionell produzierten Lebensmitteln aus allen Ländern die Treue hielten und die wachsenden Angebote von Bio- und Umstellprodukten aus der Schweiz zu wenig wahrnähmen.
Die Jury, das heisst das zahlreiche Publikum, bemühte sich im Urteil, beiden Seiten gerecht zu werden: der Anklage, indem sie die Landwirtschaft zu einem Tag Haft und einer längeren Therapie zur Befreiung von ihren «toxischen Liebschaften» verurteilte, der Angeklagten, indem sie die Urteilsvollstreckung aufschob, «um schon laufende Verfahren gegen die Verbraucher·innen, die Grossverteiler und die öffentliche Verwaltung mit dem vorliegenden Fall zu verknüpfen und so die Verantwortlichkeiten aller Beteiligten besser zu bestimmen.»
Begleitende Veranstaltungen
Diesen ausgewogenen Entscheid ermöglichte die Richterin mit einer Reihe von
differenzierten Fragen, vor allem aber waren dem Prozess den ganzen Nachmittag mehrere vorbereitende Veranstaltungen vorausgegangen: Begegnungen mit Bauern und Bäuerinnen zur Klärung ihrer Situation und der Möglichkeiten einer nachhaltigen Landwirtschaft, Gruppendiskussionen über vier Szenarien zur Zukunft der Agrarproduktion, Museumsführungen im Palais de Rumine, die einen im Kantonalen Museum für Archäologie und Geschichte über die Entstehung der Landwirtschaft im Neolithikum, die anderen im Kantonalen Museum der Naturwissenschaften über die Biodiversität.
Ganz wesentlich waren die Beiträge verschiedener Künste zum Thema: die Fotografie war mit einer Ausstellung des Fotografen Benoit Lange über eine Bäuerin und Pflegefachfrau präsent, der Film mit einem Filmporträt eines Bauern und Bauernpolitikers und die Literatur mit der literarisch-musikalische Performance des Autors Blaise Hofman und des Musikers Stéphane Blok. Hofmanns Buch «Faire paysan», in der deutschen Übersetzung von Yves Raeber unter dem Titel «Die Kuh im Dorf» bei Atlantis erschienen, zeigt auf literarisch kunstvolle und sachlich überzeugende Weise die Widersprüche auf, in denen die Landwirte heute leben, und hat in der Performance des Autors auf die wohl treffendste Weise gezeigt, worum es im nachfolgenden Prozess ging und warum einfache Schuldzuweisungen den aufgeworfenen Problemen nicht gerecht zu werden vermöchten.
Vor voreiligen Versöhnungen warnte umgekehrt die musikalisch-theatralische Schlussveranstaltung. Der Autor Antoine Jaccoud und der Theaterregisseur Denis Maillefer inszenierten ein Streitgespräch gegen die folkloristische Verklärung des Bauernstandes im «Ranz des vaches», dem populären Kühreihen in Greyerzer Mundart, kunstvoll vorgetragen mit seinem berührenden «Lioba, lio-o-o-ba» durch den Chor der Waadtländer Parlamentarier·innen.
Als der Gesang verklang, rief eine Frau: «Assez. Assez. Assez!» und führte dann im Streit mit einem Verteidiger des Liedes aus: «Glaubt ihr wirklich, man bringe die nötige Streitlust auf, um den drängenden Fragen der Gegenwart zu begegnen, wenn man sich schon im Morgengrauen mit diesem dürftigen, abgegriffenen Lied zudröhnt? Denkt mal nach.
Es gibt keine Kühe mehr, es gibt nur noch die lukrative und todbringende Rindfleischbranche. Es gibt keine Sennen mehr, es gibt nur noch verschuldete Bauern, die sich einen Strick um den Hals legen, nachdem sie am Fernsehen «Bauer sucht Bäuerin» gesehen haben. Und eine einzige Mundart hat die Welt erobert. Die des grossen und globalen Marktes. Davon müssen wir sprechen. Davon müssen wir singen.» Doch zum Schluss sang der Chor stattdessen «What a wonderful world» von Louis Armstrong, in halb ironischer Verkehrung, halb utopischer Auflehnung gegen die Katastrophen der Gegenwart.
Ein passendes künstlerisches Echo auf die Ambivalenz des Urteils im fiktiven Prozess.
Freude am geordneten Debattieren
Nicht ums Verurteilen gehe es ihm, schrieb Charles Kleiber, der ehemalige
Staatssekretär für Bildung, Forschung und Innovation, als er vor einem Jahr diese Art Prozesse initiierte. Ziel sei es vielmehr, die Freude am geordneten Debattieren wiederzufinden, Auseinandersetzungen um die Wahrheitsfindung zu organisieren – zum Beispiel in fiktiven Gerichtsverfahren – so dass es möglich werde, vernunftbasierte Gemeinsamkeiten aufzubauen. Mit dieser Zielsetzung rief er den Verein «Disputons-nous» ins Leben, der in Zusammenarbeit mit verschiedenen Institutionen und Organisationen die Durchführung solcher Prozesse möglich macht.