Vom Familientraum zum internationalen Hochschulprojekt

Die Accademia Teatro Dimitri in Verscio feiert dieses Jahr ihr 50. Jubiläum. Der international anerkannten Schule für Clownerie, Pantomime, Artistik und Bewegungstheater ging die Gründung des Teatro Dimitri voraus – ins Leben gerufen von Dimitri Jakob Müller alias Clown Dimitri (1935–2016). Heute umfasst der Dimitri-Kosmos neben dem Theater und der Akademie auch ein kleines Museum, eine Villa mit einem Park und ein Zirkuszelt.

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Dimitri war in den 70er Jahren mit dem Circus Knie unterwegs, trat mit seinem Soloprogramm und der La Famiglia Dimitri auf und fand im Tessin seine Wirkstätte und Lebensmittelpunkt. (Bild: zvg)

Spaziert man zur Mittagszeit vom Tessiner Dörflein Cavigliano auf der Via Cappella Nuova nach Verscio, tun sich rechter Hand hellgrüne Rebfelder auf, grosszügig eingerahmt von den weit dahinter ruhenden, stolzen Centovalli-Riesen. Brennt die Sonne, findet man in der kleinen, offenstehenden Cappella Nuova am Strassenrand ein schattiges Stehplätzchen. Zieht man weiter, taucht schon bald das Museo del Legno auf. An warmen Tagen dringt klassische Musik aus dem Fenster einer benachbarten Villa. Über die Strasse Bosc'ètt – dem Wäldchen – gelangt man wenig später auf den Bahnhofsplatz von Verscio.

Entlang des steilen Steinwegs Caraa du Teatro Dimitri erhebt sich das berühmte Teatro, das Herzstück des mehrgliedrigen Kulturzentrums. Im ersten Stock des Teatros erwartet einen das Museo Comico. Hinter dem Teatro tut sich der Torbogen zur Casa und zum Parco del Clown auf, eine durch eine Schenkung dazugekommene alte Villa, umgeben von einem Park, in dem ein grosses weisses Zirkuszelt steht. Zusammen mit der Accademia Dimitri vorne auf dem Dorfplatz bilden diese Immobilien den Inhalt der Fondazione Dimitri. Unter der Leitung von Dimitris Sohn David bewahrt die Stiftung das Vermächtnis der Künstlerfamilie und stellt sicher, dass die Gebäudenutzung auch in Zukunft in deren Sinn erfolgt.

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Das Teatro Dimitri in Verscio versrpicht poetische Inszenierungen und gemütliches Beisammensein. (Bild: Anna D. Alessi)

Ein Kulturzentrum in Entwicklung bereichert die Fachhochschule

1971 gründete Dimitri Jakob Müller alias Clown Dimitri (1935–2016) zusammen mit seiner Partnerin Gunda und dem Künstler und Pädagogen Richard Weber das Teatro Dimitri. Vier Jahre später öffnete die Scuola Dimitri ihre Tore. Die seit 2017 den neuen Namen führende Accademia Teatro Dimitri wurde im Jahr 2006 in die Scuola universitaria professionale della Svizzera italiana (SUPSI) integriert. Seitdem bietet sie als Teil dieser Fachhochschule akkreditierte Studiengänge an, darunter einen Bachelor- und einen Masterstudiengang in Theater mit verschiedenen Spezialisierungen wie Körper- und Bewegungstheater, Figurentheater und angewandte Theaterpraxis.

Über die Jahrzehnte hat sich die Scuola zu einer öffentlichen, multidisziplinären Fachhochschule gewandelt. Im Sinne der Gründerfamilie Dimitri modernisiert das internationale Dozierendenteam den Unterricht im Kontext der aktuellen Herausforderungen der Kunstwelt und der Gesellschaft. Im Laufe der Jahrzehnte bildete die Accademia fast 700 Kunstschaffende aus, die im Kanton Tessin, der übrigen Schweiz oder international tätig sind. Nicht nur die Accademia profitierte von der Angliederung an die Fachhochschule, sondern auch die SUPSI gewann eine Institution mit Perspektiven und Kompetenzen dazu, die diejenigen der Naturwissenschaften ergänzen. Unter den spannenden inter- und multidisziplinären Forschungsprojekten der Akademie findet sich zum Beispiel «TIncontro...via web», ein Projekt, das eine innovative Interventionspraxis für Gruppen von Alzheimer-Patient:innen entwickelt.

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Idyllische gelegen, aber kein Zuckerschlecken – die Ausbildung an der Accadeima Dimitri. (Bild: Anna D. Alessi)

Physisch und psychisch höchst anspruchsvolles Physical Theatre

«Jedes Jahr werden an der Bachelor-Aufnahmeprüfung maximal 14 Studierende aufgenommen. Im ersten Bachelor-Jahr stehen diese 14 Menschen auf der Bühne, dann nimmt die Zahl ab», so die Kommunikations- und Marketingbeauftragte der Accademia, Susanna Lotz. «Im hiesigen dritten Bachelor-Jahrgang haben wir nur noch sieben Studierende auf der Bühne.» Die einen hätten sich verletzt, die anderen eine Familie gegründet, weitere hätten Arbeit in der Branche gefunden und seien ausgestiegen. Die aktuellen Master-Klassen hingegen besuchen zehn bis 13 Studierende. Um ihr Diplom zu erhalten, müssen sie ein eigenes, 45-minütiges Stück entwickeln. Ist dieses fertiggestellt, folgt auf die praktische Arbeit eine Theoriearbeit, so Mathieu Horeau, Geisteswissenschaftler und Dokumentarfilmer aus Paris. Er lehrt und forscht seit ein paar Jahren an der Accademia auf dem Gebiet Artistic Research.

Keine Schweizer Mindestquote bei den Studierenden

Die 22-jährige Pauline Mozzini ist die einzige Tessinerin im ersten Bachelor-Jahr. Eine Quote für Studierende aus dem Tessin oder aus der Schweiz gibt es nicht. Aus einem internationalen Pool an Bewerber:innen wählt die Jury diejenigen aus, welche über die physischen Bedingungen wie die nötige Muskelmasse, Koordination, Beweglichkeit und Körperspannung verfügen. Nach einem angefangenen Biologiestudium in Basel entschied sie sich für die artistische Ausbildung in Verscio, weil sie das tiefe Bedürfnis verspürte, sich durch Tanz, Gesang, Sport und Akrobatik auszudrücken. Die ersten Monate in Verscio waren für Pauline eine Herausforderung. Auch wenn man sportlich sei, sei die körperliche Umstellung hart, aber notwendig: «Der Körper ist unser erstes Instrument, und es ist wichtig, ihm alles zu geben, was er braucht. Und dazu gehört auch, genau auf ihn zu hören.»

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Pauline Mozzini studiert im Bachelor an der Accademia Teatro Dimitri. (Bild: zvg)

Multidisziplinärer Ansatz

Pauline Mozzini schätzt den multidisziplinären Ansatz der Schule. Im Bachelor übt man basale körperliche Ausdruckstechniken ein: Stimme, Rhythmus, Tanz, Akrobatik und Improvisation werden geschult. «Je mehr Wörter du kennst, desto mehr kannst du ausdrücken», sagt sie – das gilt auch für die Körpersprache.

Für die Zukunft sieht Pauline verschiedene Karrieremöglichkeiten, die ihr dieses Grundstudium bietet: Von der Sozialarbeit mit Kindern und Jugendlichen bis hin zur Gründung einer eigenen Theaterkompagnie. Sie entwickelt auch Ideen, wie man wissenschaftliche Inhalte, zum Beispiel die Biologie oder die Klimatologie betreffend, künstlerisch vermitteln kann.

Das Leben im kleinen Dorf in engem Kontakt mit Studierenden aus ganz Europa und darüber hinaus schafft starke Bindungen. Pauline kennt ihre Mitschüler:innen noch nicht ganz ein Jahr, aber sie kann sich kein Leben mehr ohne sie vorstellen.

Der Schritt zum Künstler nach der Schule

Der 36-jährige Igor Mamlenkov absolvierte vor sieben Jahren in Verscio seinen Master an der Accademia. Dafür entwickelte er eine Clown-Performance. Es gibt jedoch an der Schule keinen «Master in Clownerie» zu erwerben. Die Auffassung, dass die Accademia eine Clownschule sei, gehöre zu einem weit verbreiteten Vorurteil. Interessierte arbeiten für ihr Diplomstück im Master «Physical Theatre» mit einer selbst entwickelten Clownfigur oder clownesken Elementen. Das sei etwas anderes. Das Ziel des Master-Diploms si es, ein eigenes Forschungsprojekt auf dem Gebiet des Physical Theatres zu entwickeln, bestehend aus einem Bühnenstück und einem theoretischen Teil. Die Studierenden sollen sich dabei gemäss ihren eigenen Forschungsinteressen weiterentwickeln. Gerade probt Igor an Stück «KTO TAM? (QUI EST LÀ?)», die er diesen Juli am Festival Off Avignon 2025 zeigen wird. Igor wohnt derzeit in Genf und kommt ursprünglich aus Bryansk in Russland.

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Igor Mamlenkov im Teatro Foce in Lugano mit seinem Ein-Mann-Stück «Bardak» aus dem Jahr 2023.

Geborgen zwischen Clownblumen und Pappmaché-Elefanten

Über dem Innenhof des Teatro thront das Museo Comico. Dimitri eröffnete es im Jahr 2000 in Zusammenarbeit mit dem Schweizer Museumsleiter und Kurator Harald Szeemann. Es enthält über 600 Ausstellungsstücke, die Dimitri im Laufe seiner langen Karriere aus aller Welt zusammentrug. Der Anblick von Elefanten, Clown-Requisiten, vielen kleinen Artisten und Artistinnen, Clowns aller Arten, Velo fahrenden Bären und Seehunden mit einem roten Jonglierball auf der Schnauze lässt einen wieder in die Welt der Kindheit eintauchen.

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Das Museo Comico lädt zum Träumen ein. (Bild: Anna D. Alessi)

Das Teatro als Begegnungsort

Der Innenhof füllt sich mit jungen Menschen, viele davon sind Studierende. Aber auch Familien sind da, ältere Menschen, ein intergenerationelles, mehrsprachiges Publikum kommt zusammen. Unter freiem Himmel findet die Performance Corde (Seile) statt. Sie besteht aus Live-Musik und dem Tanz dreier Bühnenkünstlerinnen mit verschiedenen Seil-Elementen. Das Publikum zieht zu Stückbeginn unter Gitarrenklang und urchig-beschwörendem, spanischem Gesang durch die Gassen, zuerst zum Fluss und dann in den Parco del Clown. Es kommt zur Partizipation der Zuschauenden. Ein Teil des Publikums ergreift die Seile, schwingt sie hoch hinauf und wieder hinunter gemäss den spontan erlernten Anweisungen der Live-Musik. Der Mond wacht über dem Spektakel, noch ist es nicht ganz dunkel, die Luft riecht nach Heu und Bergsommer.

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Das Stück «Corde» von Juri Cainero und Beatriz Navarro erzählt von zwischenmenschlicher Unterstützung und von Abhängigkeiten. (Bild: Anna D. Alessi)

«Sein Leben zu ergreifen wie ein Seil»

Das Konzept des Regie-Duos Juri Cainero und Beatriz Navarro von der multidisziplinären Kompanie Onyrikon war es, das Seil als blosses performatives Objekt ins Spiel zu bringen, aber auch als Gegenstand mit der ganzen, ihm zugeordneten Symbolkraft. «Wir stützen uns gegenseitig, geben uns Kraft, sind aber auch voneinander abhängig und begrenzen uns nicht selten», meint die aus Mexiko stammende Beatriz Navarro, und fügt hinzu: «Wir müssen das Leben wie diese Seile mit beiden Händen wahrhaftig und vollumfänglich ergreifen, und gerade auch körperlich annehmen, sonst lebt man nicht wirklich!» Das wollten sie dem Publikum mit ihrer partizipativen Performance, die ein Paradebeispiel an zeitgenössischem Bewegungstheater ist, vor Augen führen. Regelmässig lädt das Teatro Dimitri Stücke wie Corde ein und bereichert so den Dialog zwischen Dorfbewohner:innen und Kulturzentrum, aber auch zwischen den Studierenden und den Dozierenden.

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