Grosse Spielfreude und unerschöpflicher Wissensdurst
Spielmuffel, die sich für Strategiespiele nicht erwärmen können, werden möglicherweise bei Urs Hostettler fündig. Seit über 40 Jahren entwickelt der studierte Mathematiker u. a. Spiele. Sein kreativer Lebensweg begann allerdings in den 70er-Jahren als Liedermacher.
Im Wohnzimmer der Hostettlers stapeln sich die Spiele. Regelmässig trifft sich die Familie zum gemeinsamen Spiel. Ein Spiel muss Witz haben und die Vorstellungskraft befeuern, damit es den Spielerfinder Urs Hostettler in seinen Bann zieht.
Laut Spielwarenverband Schweiz machten 2024 in der Schweiz Gesellschaftsspiele und Puzzles 15,5 Prozent des Gesamtumsatzes im Spielwarenmarkt aus. Das sind knapp 81 Millionen Schweizer Franken. Klassische Gesellschaftsspiele wie Schach oder Uno Extreme erleben eine Renaissance. «Dies deutet auf eine Rückbesinnung auf gemeinsames, analoges Spielen hin. Das kann als eine Gegenreaktion zur digitalen Dominanz gedeutet werden», so der Verband.
Gerade hat Hostettler sein jüngstes Spiel, die Neuauflage von «Wie ich die Welt sehe» fertiggestellt, eine Co-Produktion des Berner Spielverlages Fata Morgana und des deutschen Verlags «Abacusspiele». Die zwei bis neun Spielenden wählen jeweils zu einer «Weltkarte» wie zum Beispiel «ES kommt im Inneren einer Kathedrale besonders gut zur Geltung» aus ihren «Es-Kärtchen» die humorvollste, poetischste oder originellste Antwort aus. Dabei wird auch immer ein «Es-Kärtchen» vom Stapel unter die Antworten der Spielenden gemischt. Die Gruppe entscheidet in jeder Runde über die beste Antwort, wobei die Sieger-Antwort einen Punkt erzielt. Wer auf die Antwort aus dem Stapel tippt, verliert einen Punkt.
Vom Liedermacher zum Spielautor
Hostettlers Spielwut nahm ihren Anfang in den 80er-Jahren, als er zusammen mit dem Kabarettisten Joachim Rittmeyer die Spiele «Wahlspiel», «Schicksack» und «Veto» entwickelte. In den 70er-Jahren ist Hostettler mit seinem Trio Hostettler-Diem-Mentha u. a. zu Gast am Folkfestival Lenzburg, das 1972 zum ersten Mal über die Bühne geht, und 1977 am Internationalen Folkfestival Bern, dem ersten Gurtenfestival. Das Trio spielt berndeutschen Blues und alte Volkslieder. 1979 gibt Hostettler «Anderi Lieder» heraus, eine Sammlung mit 120 historischen Schweizer Liedern, Balladen und Arbeitsgesängen, die er aus Archiven und Bibliotheken zusammenträgt. Hier zeigt sich bereits der grosse Wissensdurst, der hinter all seinen Gesellschaftsspielen steckt. «‹Anderi Lieder› enthält viele Lieder über alte Sagen, historische Begebenheiten, Frauenlieder, traurige Lieder von sozialen Missständen, Auswandererlieder und auch Lieder aus dem 20. Jahrhundert, die im ‹Röseligarte› fehlen», so Hostettler. Herausgegeben hatte den «Röseligarte» der Berner Schriftsteller und Sprachforscher Otto von Greyerz (1863–1940), der ab 1906 sechs Liederhefte mit 166 Liedern herausgab. Diese Sammlung ist Hostettler zu sehr «bluemets Trögli». Seine fortwährenden historischen Recherchen münden 1991 im Buch «Der Rebell vom Eggiwil», das vom schweizerischen Bauernkrieg handelt.
Vom Platten- zum Spielverlag
Aus einem schweizweiten Liedermacher- und Musiker-Treffen kristallisiert sich 1982 schliesslich der Plattenverlag Fata Morgana heraus, als Reaktion auf den Zytglogge-Verlag, der zu dieser Zeit kaum mehr Mundartplatten verlegt. 1982 erscheint bei Fata Morgana posthum «Wohäre geisch?» von Chlöisu Friedli (1949–1981), dem Mundartpionier, der auf dem Piano den Blues spielte, während er salopp-surreal von seinem Alltag als Aussenseiter erzählte. 1985 verlegt Fata Morgana die erste Platte von Andreas Flückiger und die Alpinisten, der Urgewalt des Berner Mundartrocks: Endo Anaconda.
Da sich der Geschäftsleiter des genossenschaftlich geführten Verlags aus familiären Gründen aus dem Verlag zurückzieht, springt Hostettler in die Bresche. «Ich bin kein Typ, um auf die Pauke zu hauen», so Hostettler rückblickend. «Mit den 80er-Jahren kam eine neue Bewegung. Wir gehörten mit 30 Jahren damals bereits zum alten Eisen». Damit entwickelt sich Fata Morgana nach knapp drei Jahren zum Spielverlag. Der Erfolg der Spiele führt zur Eröffnung des Spielladens «DracheNäscht», der dieses Jahr sein 40-jähriges Jubiläum feiert. Bei der Gründung des Verkaufsladens, der sich heute an der Rathausgasse in Bern befindet, sind auch «Drächeler» und Spielwütige beteiligt, die sich mit Hostettler regelmässig an öffentlichen Spielabenden im Bierhübeli oder der Compagnie treffen. Die Gruppe streicht die Wände neu, montiert Regale und kauft Spiele ein. Gerade mal sechs Franken zahlt sich das Team aus. Ihr Einsatz wird belohnt: Das «DracheNäscht» ist vom ersten Jahr an ein voller Erfolg.
Ab 1993 veranstaltet Fata Morgana Team regelmässig Mystery Weekends in Hotels, eine Mischung aus Theater, Kriminalroman, Rätsel, Satire und Improvisation wie «Switch Timemobil» (1994), eine Parodie auf das Swatch-Mobil von Nicolas Hayek, oder die Sektenparodie «Der Orden Ford Vox» (1999).
Internationalität versus Wortreichtum
«Unsere ersten Spiele entstanden noch in Handarbeit», erinnert sich Hostettler. Der Spielmarkt hat sich seither radikal verändert. Die Produktion eines Spiels ist zwar technisch einfacher geworden, dafür ist die Konkurrenz international. Im Hintergrund agierten gar internationale Spielfabriken, so Hostettler. «Im Trend sind aufwendige Brettspiele, die ohne viele Worte auskommen». Worte aber sind genau Hostettlers Markenzeichen. Auch Spielmuffel, die mit Strategiespielen nichts anfangen können, kommen bei Hostettlers Spielen auf ihre Kosten. Da ist zum Beispiel das Spiel «Ein solches Ding», das 1989 auf der Auswahlliste zum «Spiel des Jahres» stand und den Titel nur durch einen Stichentscheid verfehlte. Dabei müssen die Spielenden eine möglichst lange Kette von Karten erstellen, die alle auf «ein solches Ding» beschreiben. Ziel ist es, ein Ding zu finden, das mit den vorangehenden Beschreibungen kompatibel ist.
Zu einem Kassenschlager wurde «Anno Domini», das Hostettler 1998 lancierte und seither in über 30 Themensets wie «Natur», «Schweiz», «Gesundheit» oder «VIP» herausbrachte. Bis 2024 verkaufte sich das Spiel über 1 Million Mal. Die Spielenden müssen dabei historische Ereignisse in eine korrekte Reihenfolge einsortieren, wobei die korrekte Jahreszahl auf der Rückseite der Karte steht. Zweifelt der Mitspielende die Reihenfolge an, muss die einsortierte Karte umgedreht und damit die Richtigkeit überprüft werden.
Tichu-Turniere im Jugendclub
In seinen Spielen knüpft Hostettler auch gerne an politische Entwicklungen an. Mit «Wahlspiel» parodiert Hostettler 1983 die Wahlen in der Schweiz. «Kreml» aus dem Jahr 1986 persifliert die sowjetische Politik. In Deutschland wurde es zweimal zum beliebtesten Spiel gewählt. In die DDR durfte es allerdings nicht eingeführt werden, wie später wie später eine Stasi-Akte belegt. Dabei ging es um eine kaum verkaufte Atari-Version, eine elektronische Variante, die allerdings gar nie herausgekommen sei, so Hostettler.
Ein Revival erlebt das von einem chinesischen Kartenspiel inspirierte «Tichu», das Hostettler 1991 auf den Markt bringt. Die Corona-Krise entfacht bei Jugendlichen das Spielfieber. Jugendclubs bieten landauf landab regelmässig Tichu-Turniere an. Die Spielfreude scheint ungebrochen. Auf die Frage, was die Erfolge seiner Spiele ihm bedeuten, zuckt Hostettler mit den Schultern und meint: «Es gab auch viele Missverfolge.» Genau wie im richtigen Spiel.