«Natur ist auch ein Glaube»

Manfred Koch verknüpft Rainer Maria Rilkes Lebensstationen mit Interpretationen seines Werkes. Bettina Gugger sprach mit dem Autor über Rilkes spirituelle Auffassung.

Manfred Koch. Aufgenommen am 11.5.2025 in Sent. Foto Mayk Wendt
Manfred Koch lebt seit vielen Jahren in Sent, wo er zusammen mit Angelika Overath eine Schreibschule führt. (Bild: Mayk Wendt)

cültür: Rainer Maria Rilke ging es um die Überwindung der Angst in der Welt – ohne das «Telephon Christus». Hat Rilke sein Werk seiner Angst zu verdanken?

Manfred Koch: Rilke richtete sein ganzes Leben auf gelingendes Schreiben aus. Alles andere bezeichnete er als zweitrangig. In dem Masse, wie die Angstzustände sich verschlimmerten, gewann seine Sprache. Ihm ging es darum, die Kreativitätspotenziale von Angst, ja von psychoseähnlichen Zuständen, fruchtbar zu machen. Auch in seinen schlimmsten psychischen Krisen unterzog er sich keiner Therapie. Im Gespräch mit Freunden, vor allem mit der ausgebildeten Psychoanalytikerin Lou Andreas-Salomé, betonte Rilke diese Verwandlung von furchtbaren Bewusstseinszuständen in Literatur, so sagte er: «Meine Kunst ist ein Dinge-Machen aus Angst.»

Rilke wuchs katholisch geprägt bei seiner Mutter auf. In Briefen beschreibt er sie als übergriffig. Wie steht dieses Kindheitstrauma im Zusammenhang mit der Abwendung vom traditionellen christlichen Glauben?

Rilkes Katholizismus ist eine merkwürdige Angelegenheit. Er lehnte die kirchliche Religiosität ab. In Briefen an die Mutter äussert er sich jedoch heuchlerisch, als ob er immer noch der Gläubige im Sinne ihres Katholizismus wäre. So «kehrt er an Heiligabend jeweils um 18.00 Uhr geistig bei ihr ein». Zwischendurch versucht er, ihr beizubringen, dass sich seine Religiosität grundlegend von der ihrigen unterscheidet, und da fällt der grandiose Satz: «Natur ist auch ein Glaube.»

Er geht davon aus, dass der Mensch in Abhängigkeit von Kräften steht, die er nicht kontrollieren kann. Rilke glaubt in gewisser Weise an einen Pantheismus, den er lange unter dem Namen Gott verbirgt. Im «Brief eines jungen Arbeiters» spricht er dann von «Allkräften». Im Gedicht «Ach wehe, meine Mutter reisst mich ein» bedient er sich sogar des christlichen Vokabulars, um sich von der Mutter abzugrenzen. Und seine Kunstlehre arbeitet wiederum mit religiösen Begriffen wie «Gott bauen».

Im «Stundenbuch» geht es um das Ganze der Welt, wobei Gott als angesprochenes Du auftaucht. Ist das die langsame Verabschiedung vom traditionellen Glauben?

Das ist noch die traditionelle Fassade in der Form eines Gebetsbuches, im Gewand des orthodoxen Christentums. Im Bild des russischen Mönchs, der in der Wirkung der Naturkräfte steht, steckt bereits diese Naturreligiosität. Später fällt das Etikett Gott zunehmend weg.

Mit «Neue Gedichte» verlagert Rilke die Energien in die Dinge hinein und verortet den Schöpfungsakt im künstlerischen Prozess. Wie klingen diese Gedichte?

In den «Neuen Gedichten» will er diese Kräfte, denen der Mensch ausgesetzt ist, häufig durch wahre Wirbel von Vergleichen, in denen die konkrete Bedeutung untergeht, abbilden, möglichst an einzelnen Phänomenen. Die «Neuen Gedichte» sind mit sprachlicher Energie so aufgeladen, dass der Gegenstand schon mit der ersten Nennung zerbirst.

Da wirkte die Auseinandersetzung mit Kunst, insbesondere mit Auguste Rodin, wie ein Katalysator.

Rodin umgeht unter anderem durch die Torsi die normalen Bedeutungsträger wie Hände und Gesichtsausdruck und versucht damit, die Ausdruckskraft einer Rippe oder eines Lendenwirbels zu verstärken. Rilke strebt mit den Gedichten ein analoges Verfahren an, indem er periphere Details eines Gegenstandes herausgreift und so Motive weiterentwickelt. Rilke sagt irgendwann: «Bedeutungsvoll ist jedes Komma, jede Präposition, jedes kleine Adjektiv, und darauf kommt es mir an.»

Im Essay «Ur-Geräusch», den er in Soglio schrieb, bringt er die gesamte Umwelt zum Schwingen. Welcher Gedanke steckt dahinter?

Rilke interpretiert in diesem Essay die Welt als Tonträger. Er spielt mit der Vorstellung, wie mit einer Schallplattennadel Linien in der Natur abzufahren und sie in Sprachmusik zu transponieren. Man muss sich bei Rainer Maria Rilke auf die klanglichen und rhythmischen Prozeduren in seinem Werk einlassen.

Es sind Entfaltungsgeschehen, die sprachrhythmisch mitreissen, oft widersprüchlich, vereinigt durch eine ungeheure Sprachmagie. Mit der Abstraktheit der Texte nimmt auch deren Unverständlichkeit zu, wenn die Gedichte weg vom Gegenständlichen in Richtung Vermittlung von Stimmungen und Schwingungskräften des Kosmos gehen. Wichtig dabei ist der Flug von Vögeln durch den Raum wie im berühmten Gedicht «Es winkt zu Fühlung».

Welche Rolle spielte Ragaz in seiner Biografie?

Rilke kommt von der Lebensreformbewegung. Ärzte vermied er nach Möglichkeit. 1923 erkrankte er an Leukämie. Er setzte, verbunden mit ärztlicher Begleitung, auf Kurbäder. Die drei Aufenthalte in Ragaz waren prägend für ihn. Dort entstand eine Serie von Gedichten, die er auf dem Friedhof schrieb. Einer der schönsten Texte ist eine Beschreibung des Gangs durch die Tamina-Schlucht. Rilke beschreibt darin, wie das Gedröhne eines Flusses eine Felsenformation formt. Das ist die Umkehrung von «Ur-Geräusch».

Rilke war ein Heimatloser, der sich durch die Aristokratie schnorrte. Zu seinen Unterstützern gehörten auch die von Salis. Wie gelang es Rilke, trotz der Menschenscheu ein so grosses Netzwerk aufzubauen?

Das ist eines der grossen Rätsel. Rilke muss eine Aura des Geheimnisvollen gehabt haben, die auf andere ungeheuer faszinierend wirkte. Er war trotz seiner Menschenscheu nie aggressiv, sondern stets freundlich.

Er zeigte eine Verletzbarkeit und Empfindsamkeit, die das Alltägliche überstiegen. Bei älteren Frauen löste das so etwas wie ein Helfersyndrom aus. Rilke pflegte durch seinen wahnwitzigen Briefwechsel eine gesellige Ungeselligkeit. Briefe gaben ihm die Möglichkeit, sich die Leute vom Leib zu halten und gleichzeitig Kontakte zu pflegen. Und da war er gesprächig. So entstanden mehr als 10 000 Briefe, von denen etwa 3000 noch immer unveröffentlicht geblieben sind.

Manfred Koch

Der in Stuttgart geborene Literaturprofessor unterrichtete bis 2021 an den Universitäten Giessen, Tübingen und Basel deutsche Literaturgeschichte. Zusammen mit der Schriftstellerin Angelika Overath führt er eine Schule für kreatives Schreiben in Sent, seinem Wohnort im Engadin.

Manfred Koch: Rilke. Dichter der Angst. Verlag C. H. Beck, 2025, 560 Seiten

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