Rettung vor den Taliban – durch tatkräftige Solidarität

«Wege durch finstere Zeiten»: Unter diesem Titel erschien ein Buch, das dokumentiert, wie eine Aktion des Deutschschweizer PEN-Zentrums 91 afghanischen Schriftstellerinnen und Schriftstellern, anderen Intellektuellen und Oppositionellen die Flucht vor den Taliban und ein neues Leben in der Schweiz ermöglichten.

Wege_1
Sabine Haupt, Schriftstellerin, Literaturwissenschaftlerin und Menschenrechtsaktivistin initiierte die Aktion. (Bild: Jan Bolliger)

24 afghanische und 27 schweizerische Autorinnen und Autoren dokumentieren in kurzgefassten Erlebnis- und Erfahrungsberichten, reflektierenden und kritischen Beiträgen die Machtergreifung, die brutale Gewaltherrschaft der Taliban und den Hergang, die Ausführung und die Hindernisse einer einzigartigen, vorbildlichen Einzel- und Gemeinschaftsleistung, um bedrohten Menschen ein neues, sichereres Leben mit Entfaltungsmöglichkeiten zu erschliessen. Erschütternd und empörend wird uns die Zerstörung der Lebensperspektiven der Frauen unter den Taliban vor Augen geführt.

Marzia Amiri arbeitete vor ihrer Flucht als Hebamme in einer Geburtsstation von «Ärzte ohne Grenzen». Aus ihrem Bericht unter dem Titel «Zeugnis ablegen»:

«(…) Am Morgen des 12. Mai 2020 gab ich wie immer am Ende der Nachtschicht meine Aufgaben an die Kolleginnen der Tagesschicht ab. Alles schien normal. Doch nachdem ich zuhause ein bisschen geschlafen hatte und wieder aufwachte, hörte ich die schreckliche Nachricht vom Terroranschlag auf unsere Geburtsstation. (…) Der Angriff auf die Entbindungsstation war der Grund dafür, dass ‹Ärzte oihne Grenzen› ihre Tätigkeit in der Klinik beendeten. Auch Mariam Noorzad, eine meiner Kolleginnen, war unter den Opfern. (…) Die Kolleginnen erzählten, sie alle seien, als die bewaffneten Terroristen in die Klinik stürmten, auf Weisung der Sicherheitsabteilung in die Schutzräume gerannt, nur Mariam Noorzad sei wegen einer gebärenden Patientin im Kreisssaal geblieben und habe sich nicht in Sicherheit gebracht. Und so wurde Mariam, die Mutter zweier Kinder, dort durch die Hand von Terroristen zur Märtyrerin. (…)»

Aus dem Beitrag der Literatur- und Kunstwissenschafterin Farahnaz Bawar unter dem Titel «Gerettet»:

«(…) Nie werde ich den Tag vergessen, an dem die jungen Mädchen unserer Schule mit Tränen in den Augen vor verschlossenen Türen standen und nachhause geschickt wurden. (…) Das war der Tag, an dem unsere Mädchen das tausend Jahre alte Leid, in dieser Gegend eine Frau zu sein, erfuhren und ihr Schicksal beweinten. Es war nichts zu machen. Ich war gefangen unter einer Last von Verzweiflung und Verzweiflung und Schmerz. (…) Die einzige Waffe, die mir zur Verfügung stand, war die Schreibfeder. Doch auch das Schreiben war nicht mehr erlaubt. Dutzende von Frauen wurden wegen verbotener Proteste ins Gefängnis geworfen, während ihre für Freiheit kämpfenden Männer wegen Aufruhr und Rebellion hingerichtet wurden. Diese Dinge geschehen bis heute. Überall griff Panik um sich. Immer wieder wurden die Häuser der Menschen durchsucht, Musikinstrumente zerstört, zentnerweise gute Bücher verbrannt. Die, die nicht verbrannt wurden, sind verboten, und die strenge Gesinnungskontrolle der Menschen geht weiter. Die kulturellen Aktivitäten von mir und meinem Mann, sowie der Unterricht, den wir erteilten, wurden gestoppt. Wir hatten keinen Ort mehr, an dem wir hätten bleiben können. (…)»

Wege_6
Impressionen von der Vernissage von «Wege durch finstere Zeiten». (Bild: Jan Bolliger)

Kulturelles und kulturwissenschaftliches Schaffen, das die Taliban aus dem Land verbannt haben, pflegen nun diejenigen weiter, die im Westen einen neuen Lebens- und Wirkensraum fanden. Ein Beispiel: Die Politologin Najibah Zartosh stellt die von ihr betriebene Website «Afghanistan Women’s Voice» vor.

«Wege durch finstere Zeiten» setzt zwei starke Gegengewichte zum vorherrschenden defensiven, negativen Diskurs über die Menschen, die nach Europa fliehen, um der brutalen Unterdrückung durch die Taliban zu entkommen: Es handelt von Schweizerinnen und Schweizern, Europäerinnen und Europäern, die aus eigenem Bedürfnis und Entschluss diesen Verfolgten und Bedrohten helfen, legal in einen Rechtsstaat zu gelangen und sich in ihm niederzulassen, und von tüchtigen, leistungswilligen Afghaninnen und Afghanen, die sich hier integrieren, teils allein, teils mit Familie. Herausgeberin dieses im Verlag «Die Brotsuppe» erschienenen Buches ist Sabine Haupt, die Initiantin und wichtigste Trägerin dieser Aktion.

Zur Tat geschritten

Roger de Weck schrieb das Vorwort unter dem Titel «Das Allmenschliche»: «Der Schritt vom Entsetzen, vom Zorn oder Mitgefühl zu einer beherzten Tat ist nicht selbstverständlich», stellt er fest. «Oft fehlt es an Tatkraft, und blosse Empörung ist Passivität. Die afghanischen Autorinnen und Autoren dieses Buches aber sind heute in der Schweiz oder sonst wo in Europa, weil ein Individuum die Initiative ergriff und gegen die Gleichgültigkeit, die Bürokratie, die kühl organisierte Abwehr von Geflüchteten kämpfte. Dieser Mensch ist Sabine Haupt, Herausgeberin des vorliegenden Bands. (…) Zur Tat schritten ihrerseits die Afghaninnen und Afghanen, die ein Albtraum ins Exil schlug. Sie taten jenen Schritt, der das Herz zerreisst und oft das Leben aus seiner Bahn wirft, um überhaupt das Leben und das der Nächsten zu bewahren. Sie verliessen eine Heimat, in der Gewalt, Willkür und Menschenverachtung zum Gesetz erhoben wurden.»

Überwindung bürokratischer Hürden

Die bürokratischen Hürden waren hoch. Der Jurist Michel Brülhart, Co-Leiter von AsyLex, welcher die Aktion rechtlich unterstützte, bezeichnet die Kriterien für die Vergabe humanitärer Visa als «äusserst intransparent» und kritisiert die lange Verfahrensdauer, die dazu führe, «dass «Menschen, die sich in akuter Gefahr befinden, unnötigen Risiken ausgesetzt werden, was wiederum eine Beeinträchtigung ihrer Grundrechte zur Folge hat».

Harte Kritik an der Missachtung seiner Fluchtgründe durch das Staatssekretariat für Migration (SEM) übt Ekramuddin Barez, vormals leitender Staatsanwalt bei der afghanischen Generalstaatsanwaltschaft, Generalsekretär der Kommission zur Verhütung der Folter und Spezialist für internationale Terrorbekämpfung. Infolge dieser Funktionen drohte ihm Rache der Taliban. Aber erst das Bundesverwaltungsgericht erteilte ihm das humanitäre Visum. Auch aus anderen Beiträgen geht hervor, wie mühsam für die Aktion und wie aufreibend für die Betroffenen die Überzeugungsarbeit zur Erlangung eines humanitären Visums war. Dennoch dankt die Schriftstellerin Jahan A. Afroz Qaem den «Schweizer Behörden, die durch die Ausstellung humanitärer Visa zahlreichen Immigrant:innen, darunter auch mir und meinen unterdrückten und verfolgten Landsleuten, einen Platz und ein neues Zuhause in ihrem Land eingeräumt haben und so grosszügige Hilfe und Unterstützung zur Verfügung stellen.»

Wege_8
Jahan A. Afroz (links) und Gulcan Kiyanosh an der Buchvernissage. (Bild: Jan Bolliger)

Radweltverband gab Beispiel

Man könnte versucht sein, zu denken, es handle sich um eine Aktion von Intellektuellen für Intellektuelle. Aber Ermutigung kam, wie Sabine Haupt gegenüber der WOZ berichtete, aus dem Sport: Sie hörte «am Radio die Nachricht, dass das SEM aufgrund eines Gesuchs des Radweltverbands mit Sitz im waadtländischen Aigle 38 afghanischen Radsportler:innen ein humanitäres Visum ausgestellt habe. «Was die Radsportler:innen können, können wir Schriftsteller:innen doch auch!», habe sie sich gedacht. Gemeinsam mit dem PEN-Vorstand sowie mit Arvand und Simia erstellte sie ein Gesuch für die Ausreise von 26 afghanischen Autor:innen und ihren Familien.» (Kaspar Surber» «Ein Mail aus Kabul», WOZ 27.Oktober 2020.)

Weitere mutige und kreative Initiativen zu wünschen

Demian Cornu, Ko-Präsident des Deutschschweizer PEN-Zentrums, würdigt die Aktion und ihre Dokumentation «Wege durch finstere Zeiten» so:

«Die von unserem ehemaligen Vorstandsmitglied Sabine Haupt initiierte Aktion war ein beeindruckender Erfolg – dank ihres Engagements und dem Einsatz vieler Mitstreiter*innen konnten rund hundert gefährdete Schriftsteller*innen, Journalist*innen, etc. aus Afghanistan dabei unterstützt werden, in der Schweiz und anderen europäischen Ländern Schutz zu finden. In einer Zeit, in der migrationspolitische Hürden stetig wachsen und sich die humanitären Spielräume verengen, zeigen solche zivilgesellschaftlichen Initiativen, was möglich ist, wenn Menschen Verantwortung übernehmen und handeln.

Gleichzeitig dürfen wir nicht vergessen, dass viele andere Schutzsuchende – aus Afghanistan und anderen Konfliktregionen – weiterhin unter prekären Bedingungen leben und keinen Zugang zu solchen Netzwerken haben. Das ist ein drängendes Problem, das unsere Aufmerksamkeit und unser Handeln erfordert.

Als DeutschSchweizer PEN Zentrum wünschen wir uns deshalb weitere mutige und kreative Initiativen – auch über die Literaturszene hinaus.

Die Anthologie «Wege durch finstere Zeiten» bietet einen facettenreichen Einblick in diese Aktion: Persönlich, literarisch, politisch. Die versammelten Stimmen spiegeln nicht nur die Herausforderungen unserer Zeit, sondern auch den Mut und die Solidarität, die ihr entgegengesetzt werden können.»

cornu_II
Demian Cornu, Ko-Präsident des Deutschschweizer PEN-Zentrums.

Sabine Haupt (Herausgeberin): «Wege durch finstere Zeiten. Afghanische und Schweizer Texte über Flucht und Asyl». Verlag Die Brotsuppe. 360 Seiten. Fr. 36.00.

Das könnte dich auch interessieren

Flückiger_1

Zwei exemplarische Geschichten aus dem wahren Leben

Die Fribourger Autorin Isabelle Flükiger hat sich für ihr neues Buch «Gloria. Mohammed.» ein brisantes Thema vorgenommen. Sie erzählt darin von zwei Sans-Papiers und ihrem Leben in der administrativen Lücke. Ihr augenöffnendes Buch ist zeitgleich auf Deutsch und Französisch erschienen.

Von Beat Mazenauer
Ber_1

Der Kommunist, den fast alle liebten

Aktuell ist in den Kinos der Film «Berlinguer. La grande ambizione» zu sehen, der die politisch und privat bewegten Jahre des Kommunistenführers Enrico Berlinguer von 1973 bis 1978 in den Fokus nimmt. Der Film bietet einerseits eine anschauliche und menschlich anrührende Geschichtslektion, und verweist auf grundsätzliche gesellschaftliche Fragen.

Von Alfred Schlienger
Keller_1

Alfonsinas Zukunftsmusik

Hildegard E. Keller, Herausgeberin und Übersetzerin der deutschen Werkausgabe von Alfonsina Storni und Autorin der zweibändigen Storni-Biografie erzählt in diesem Essay über den Zauber von Stornis Texte und wie sie bei der Bergung und Übersetzung dieses literarischen Vermächtnisses vorgegangen ist.

Von Hildegard E. Keller

Kommentare