«Non, la culture n’est pas juste là pour décorer nos vies.»

Ist Kunst politisch? Und wie! Das beweist die Cellistin und Nationalrätin Estelle Revaz bei ihrer Arbeit auf der Konzertbühne und im Bundeshaus.

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(Bild: PD, © Copyright Estelle Revaz 2019)

«Kunst in der Politik bleibt eine immerwährende Aufgabe», schreibt Stefan Howald in der WOZ vom 19. Dezember zum Schluss seiner Besprechung des Büchleins 10 Jahre Kunst+Politik von Beat Mazenauer und Felix Schneider. Auf welch unterschiedliche Weise diese Aufgabe angegangen werden kann, dokumentiert dieser Dictionnaire des méthodes – so der Untertitel dieses Bändchens in der Reihe essais agités – mit über 125 Stichworten von A bis Z sowie mehreren Texten von Autor:innen, die im Verein Kunst+Politik aktiv waren.

Für Howald ist 10 Jahre Kunst+Politik so «in gewisser Weise ein Rechenschaftsbericht» über die Aktivitäten des Vereins, kann als Dictionnaire des méthodes aber auch «als ein Alphabet von Anleitungen dienen, eine Arsenal von Aktionsformen». Aber der kleine Dictionnaire ist noch mehr als das: Er bietet Anregungen zur grundsätzlichen Reflexion über den Bezug zwischen Kunst und Politik. Deshalb würde er eigentlich denselben Zusatz «raisonné» verdienen wie der ganz grosse, der 1751 bis 1772 unter der Leitung von Denis Diderot herauskam.

Denn offensichtlich knüpfen Mazenauer und Schneider an die Tradition dieses grossen Dictionnaire ebenso an wie der Verein Kunst+Politik von 2010 bis 2020 an jene der Aufklärung insgesamt.

Wie wichtig das Festhalten an dieser Tradition ist, macht der NZZ-Gastbeitrag von Konrad Paul Liessmann sichtbar, der kaum zehn Tage nach der Besprechung von Howald in der NZZ erschienen ist. Unter dem Titel «Die Wahrheit ist hässlich – und die Kunst dazu da, daran nicht zugrunde zu gehen» will Liessmann die Kunst auf «eine Form der Ablenkung, der Flucht, des Eskapismus» beschränken. «Wer nach Paris oder New York reist, um Museen und Ausstellungen zu besuchen», schreibt er, oder «jeden Sommer zwischen Bayreuth und Salzburg, also zwischen Wagner und Mozart, pendelt – ja sogar, wer sich einer Performance von Marina Abramovic aussetzt, ornamentiert damit sein Leben.» Mit seiner Zweckbestimmung, dass uns die Kunst ornamentierend «über die Misslichkeiten des Daseins hinwegtröstet», geht er hinter die Aufklärung zurück und will den Künsten das zeitkritische utopische Moment austreiben, das ihr von jeher eigen ist.

Dass Kunst auf eine einfache Spiegelung der Realität reduziert werden könnte, wie Liessman heutigem Kunstschaffen vorwirft, kann wohl auch er selbst nicht ernsthaft glauben. Im Als-ob der Kunst folgen auch engagierte Künstler:innen jenseits der jeweils vorherrschenden Kategorien von wahr und falsch, gut und böse, schön und hässlich ihrer eigenen Logik. Wer die Logik dieses Als-ob mit Flucht vor der Wirklichkeit gleichsetzt, verkennt das politische Moment, das in ihr liegt. Denn die Kunst kann über mögliche politische Haltungen der Kunstschaffenden hinweg in der Weise radikal kritisch wirken, dass sie im Vollzug des Schaffens und des Rezipierens das beinhaltet, was nach Hanna Arendt das eigentlich Politische ausmacht: nicht Machterhaltung sondern die Freiheit, «etwas in die Wirklichkeit zu rufen, das es noch nicht gab, das nicht vorgegeben ist, auch nicht für die Einbildungskraft, und zwar deshalb, weil es als Gegebenes noch gar nicht bekannt ist.»

In diesem Sinn politisch kann Kunst sein, weil sie die Künstler:innen im Prozess des Kunstschaffens und ihr Publikum in jenem der Kunstrezeption von der Notwendigkeit befreit, unter vorherrschenden moralischen und politischen Gesichtspunkten wirklichkeitsorientierte Entscheidungen zu treffen.

Dieser idealen Zielsetzung des Politischen kommt Kunst in dem Masse näher als die Politik selbst, wie sie das ästhetische Vermögen ihrer Rezipient:innen erweitert und sensibilisiert und sie so zu noch nicht gegebenen Sicht- und Wahrnehmungsweisen auf die Wirklichkeit befähigt.

In diesem Sinn politisch kann Kunst sein, weil sie die Künstler:innen im Prozess des Kunstschaffens und ihr Publikum in jenem der Kunstrezeption von der Notwendigkeit befreit, unter vorherrschenden moralischen und politischen Gesichtspunkten wirklichkeitsorientierte Entscheidungen zu treffen. In dieser Freiheit nehmen beide, Kunstschaffende und -rezipierende, aber durchaus auf die Ambivalenzen und Dilemmata der Wirklichkeit Bezug, sehen sich dabei jedoch von der Notwendigkeit entlastet, unmittelbar Stellung nehmen zu müssen. Die so konstituierte Öffentlichkeit der Kunst geht über die bestehenden politischen Gräben hinaus, sie steht quer zu den Parteiungen in der Öffentlichkeit der etablierten Politik. Politik und Kunst miteinander verbinden heisst somit auch, Schnittmengen von zwei voneinander unabhängigen und verschieden orientierten und funktionierenden Öffentlichkeiten zu finden.

Solche Schnittmengen hat der Verein Kunst+Politik darin gesucht, dass er in der Öffentlichkeit der Kunst das wirksam machen wollte, was sie in dem ihr eigenen politischen Moment für die Politik leisten könnte. Es ist aber auch möglich, in der Öffentlichkeit der Politik, das wirksam zu machen, was diese dank der in ihr präsenten Affinität zum Ästhetischen für die Kunst zu leisten imstande wäre.

Diesen zweiten Weg ist in den vergangenen vier Jahren die aus dem Wallis stammende und in Genf lebende Cellistin Estelle Revaz gegangen. Sie geniesst in der Musikwelt weit über die Schweiz hinaus grosses Ansehen und hat seit 2020 auch in der Politik immer mehr Wertschätzung gefunden.

Der Werdegang einer grossen Künstlerin

In ihrem Buch La Saltimbanque, das 2023 bei Éditions Slatkin in Genf erschien, erzählt sie ihren Werdegang zur Musikerin und später auch zur Politikerin. Auf exemplarische Weise gibt das Buch Einblick in die Erlebniswelt und die Haltungen einer grossen Musikerin der Generation Y. Es kann lohnend sein, sich ihren Entwicklungsgang kurz vor Augen zu führen.

Die heute 35-Jährige ist im Walliser Bergdorf Salvan aufgewachsen, kommt durch ihre Mutter, eine Opernsängerin, schon mit zwei Jahren mit Musik in Berührung und begeistert sich mit fünf für das Cello, das im Lauf der Jahre zum lebensbestimmenden Medium für sie wird.

Auf ihrer schulischen und musikalischen Laufbahn sieht sie sich in ihrer Charakterstärke mehrmals massiv herausgefordert. In der Dorfschule erlebt sie als Kind einer kosmopolitisch orientierten Familie, der die Dörfler mit Misstrauen begegnen, ein fortdauerndes Mobbing durch ihre Mitschüler:innen. Als ihr Vater, Theaterwissenschaftler, ein Habilitationsstipendium in Paris erhält, zieht die Familie aus dem Bergdorf in die französische Weltstadt, ein radikaler Bruch im familiären und schulischen Leben der Neunjährigen, aber auch eine grosse Chance für sie, ihr musikalisches Talent mit fachlich ausgezeichneten Lehrkräften zu entwickeln.

Als sie vierzehn ist, muss ihr Vater aus beruflichen Gründen in die Schweiz zurückkehren, während die Mutter mit den Kindern in Paris bleibt, um ihrer Tochter eine musikalische Fortbildung zu ermöglichen, die in der Schweiz nicht möglich ist. Mit fünfzehn bleibt Estelle alleine in Paris, konzentriert sich voll auf ihre musikalische Ausbildung und bereitet sich nur noch im Fernstudium auf das Baccalauréat vor. Mit siebzehn wird sie auf dem Weg zum Konservatorium und nach Hause mehrmals von einem jungen Mann belästigt und schliesslich gar vergewaltigt. Sie wagt nicht, darüber zu sprechen oder gar Klage zu erheben, weil sie fürchtet, die Eltern würden sie in die familiäre Obhut nach Genf holen und sie verlöre die Möglichkeiten zur musikalischen Entfaltung, die Paris ihr gewährt.

Mit achtzehn kann sie ihr Musikstudium an der traditionsreichen und sehr prestigeträchtigen nationalen Musikhochschule in Paris fortsetzen, die mit namhaften Lehrkräften und zahlreichen internationalen Partnerschaften die besten Möglichkeiten für ihre Karriere als Cellistin garantiert. Doch sie bekommt einen Lehrer, der fachlich zwar bestens ausgewiesen ist, unter seinen Schüler:innen aber ein Klima der Angst verbreitet, indem er auf brutale und willkürliche Weise völlige Unterwerfung von ihnen verlangt. Als sie die Möglichkeit sieht, zu Maria Kliegel an die Hochschule für Musik Köln zu wechseln, widersetzt sie sich diesen Methoden zum ersten Mal und macht sie dann auch der Hochschulleitung bekannt – ohne dass diese irgendetwas unternimmt. Es gehört zur Tradition der Prestigehochschule, die Schüler:innen durch autoritäre und brutale Methoden gefügig zu machen, angeblich, um sie für das harte Leben in der Elite der Musikwelt fit zu machen. Beim Abschied sagt ihr der tyrannische Lehrer, er verstehe nicht, warum sie von ihm wegwolle, gerade zu ihr sei er doch weniger hart gewesen als zu den Übrigen.

Dank ihrer grossen Durchhaltekraft, aber auch dank psychologischer Hilfe ist Revaz zu einer international begehrten und gefeierten Cellistin geworden, die in zahlreichen Ländern Europas, Asiens und Südamerikas auftreten konnte und ein breites Repertoire von Werken aus der ganzen Musikgeschichte beherrscht, von Bach bis zu Ligeti und auch zu ihrem Genfer Musikkollegen Xavier Dayer.

Die Lektüre ihres Buches vermittelt einen wertvollen Einblick in das Leben, das dem Erfolg einer heutigen jungen Musikerin zugrundliegt: nicht nur Leidenschaft, Talent und strenge Disziplin, sondern auch fortwährendes neugieriges Lernen und Forschen, sei es in der vertieften Auseinandersetzung mit frühen oder zeitgenössischen Werken, sei es in den Begegnungen und Kooperationen mit Kolleg:innen und Berühmtheiten aus der ganzen Welt.

Die politische Rebellion einer Musikerin

Vor diesem Hintergrund verwundert es nicht, dass Revaz in der Covid-Krise zur politischen Rebellin wird, weil sie als freischaffende Musikerin konkret erfährt, dass sie als Angehörige einer Branche, die als nicht essenziell betrachtet wird, nicht nur auf ihre Auftritte verzichten muss, sondern für diesen Verzicht auch nicht auf Verdienstausfall zählen kann. Unabhängige und deshalb intermittierend arbeitende Künstler:innen wie sie haben in der Schweiz nicht wie zum Beispiel in Frankreich ein anerkanntes eigenes Statut. Und auch jene Unterstützungsleistungen, die der Bundesrat zu Beginn der ersten Covid-Welle beschliesst, werden vielen selbst nach einem Dreivierteljahr noch nicht überwiesen – der Spagat zwischen Notbeschlüssen auf eidgenössischer Ebene und Massnahmen zur Ausführung auf kantonaler Ebene ist zu gross.

Revaz legt ihre Not dem Altbundesrat Couchepain vor, denn dessen Frau kennt und schätzt sie als Cellistin. Couchepin spricht Klartext: In der Politik werde nur auf massiven Druck reagiert, sagt er, die Kulturschaffenden seien viel zu diskret, und wenn sie etwas erreichen wolle, müsse sie in Bern auf dem BAK vorsprechen und an alle Instanzen der Kultur gelangen. Revaz, die im Organisieren ihrer eigenen Arbeit und der Aktivitäten mit anderen Musiker:innen schon einige Erfahrung hat, beginnt, alle Hebel in Bewegung zu setzen – und erfährt, wie mühsam und zeitraubend das Ganze wird, wie unsolidarisch zum Beispiel der Dachverband der professionellen Orchester mit den Intermittierenden ist, wie zäh die Reaktionen des BAK und der kantonalen Instanzen ausfallen und wie schlecht informiert die Politiker:innen auf allen Ebene über die tatsächliche Lage einer Mehrheit der Kulturschaffenden sind – auf die sie ja sonst in ihrer politischen Öffentlichkeit (wie auch auf das Personal im Gesundheitswesen) ständig ihre Loblieder singen. Und sie sieht auch, wie schnell die Hauptbetroffenen, die ihrer Einkünfte beraubten Intermittierenden, in ihrer Not das Handtuch werfen und in Scharen andere Verdienstmöglichkeiten suchen.

Als breit anerkannte Musikerin will sie das auf keinen Fall, und es gelingt ihr immerhin, die kurze Covid-Pause im Sommer 2020 zu nutzen, um mit dem Genfer Orchestre de chambre die CD Journey to Geneva mit zwei Werken von Frank Martin und, in Erstaufführung, den Lignes d’Est von Xavier Dayer zu produzieren, und mit mehreren Konzerten aufzutreten, wie zum Beispiel in Kooperation mit dem Pianisten François-Frédérique Guy und dem Violinisten Renaud Capuçon mit dem Tripel-Konzert von Beethoven. Ihr werden nach langen fünf Monaten auch endlich die im Frühling zugesagten Unterstützungszahlungen überwiesen, doch die Parlamentsbeschlüsse im Herbst empören sie ein weiteres Mal, weil sie die freischaffenden Künstler:innen in der Frage der Ausgleichszahlungen für Verdienstausfälle deutlich diskriminiert sieht.

Mit mehreren Kolleg:innen erarbeitet Revaz ein Manifest gegen diese Diskriminierung, das von prominenten Persönlichkeiten aus der Kultur und Politik unterzeichnet wird, darunter auch Micheline Calmy-Rey und Pascal Couchepin. Aus dem Kreis der aktiven Politiker:innen reagieren zunächst vor allem Frauen, aus allen Parteien bis hin zur Genfer SVP-Nationalrätin Céline Amaudruz. Dann geben Revaz zwei Schwergewichte der nationalen politischen Szene Schützenhilfe: der Waadtländer Sozialdemokrat Pierre-Yves Maillard und der Genfer Rechtsliberale Christian Lüscher.

So gelingt es ihr, eine breite Koalition kulturaffiner Volksvertreter:innen aus allen Parteien in Gang zu setzen, und sie lernt, von Maillard und dann immer mehr auch von seinem jüngeren Waadtländer Parteikollegen Samuel Bendahan beraten, sich im komplexen In- und Gegeneinander der Kommissionsarbeit beider Räte, der politischen Rückversicherung mit den Kantonen und der Auseinandersetzung mit einer schwerfälligen Bundesverwaltung immer besser zurechtzufinden. Was sie über die Mühen dieser Arbeit berichtet, könnte als zweite Staffel von Mais im Bundeshaus verfilmt werden.

Der schmerzliche Hauptlehrplätz besteht zum Schluss darin, dass sie sich Ende 2021 mit einem politischen Kompromiss zufriedengeben muss, der zwar allen Kulturschaffenden Unterstützungsleistungen sichert, aber den Freischaffenden keinen richtigen Ausgleich für Verdienstausfälle. Und ihr zweites Ziel, dass grosszügigere Unterstützungsmassnahmen für den Wiederaufbau der arg havarierten Kulturszene beschlossen werden, wird ebenfalls nur teilweise erfüllt.

Aber ihre wichtigste Einsicht aus dem Ganzen besteht doch darin, dass es viel schlimmer herausgekommen wäre, wenn sie sich nicht so energisch engagiert hätte und keine Koalition von kulturaffinen Politiker:innen zustande gekommen wäre.

Sie folgt dem Rat, den ihr sowohl Maillard wie Lüscher schon sehr bald gegeben haben, und entscheidet sich 2022, parteipolitisch aktiv zu werden, und zwar, zum Leidwesen von Lüscher, in der SP, eingehend beraten von Bendahan und dessen jurassischen Kollegin Elisabeth Baume-Schneider, der heutigen Bundesrätin.

Gauklerin auf wechselnden Bühnen

In Herbst 2023 wird sie auf der Liste der SP Genf in den Nationalrat gewählt, und als wohl einzige vollberufliche Künstlerin in den eidgenössischen Räten arbeitet sie seither in der Kommission für Wissenschaft, Bildung und Kultur (WBK) mit. Dank ihrem Ansehen in allen Partien und den guten Kontakten aus der Covid-Zeit schafft sie es im Lauf ihres ersten Jahres im Nationalrat, dass ihre Motion zur Bekämpfung der Armut durch die Verlängerung des Ende 2024 auslaufenden Präventionsprogramms und die Verabschiedung einer nationalen Strategie von beiden Räten angenommen wird.

Mit ihrem Buchtitel La Saltimbanque hat Revaz sehr treffend festgehalten, wie wichtig für sie ihre artistische Präsenz auf wechselnden Bühnen geworden ist, welch grosse Bereitschaft zum ständigen Unterwegssein das verlangt und wie verletzlich diese Existenz in ökonomischer und finanzieller Hinsicht sein kann.

Ihre volle Präsenz in der internationalen Musikszene als Cellistin gibt sie dabei nicht auf. Voll durchtaktete Arbeitstage erlauben es ihr, neben der politischen Tätigkeit und den fürs psychische und physische Wohlbefinden nötigen Aktivitäten ihre tägliches Übungspensum beizubehalten – auch im Bundeshaus – und auf Konzerttournees zu gehen, wie gegenwärtig gerade mit den Capriccios des belgischen Komponisten italienischer Herkunft Joseph Clément Dall’Abaco (1710-1805). An diesem Komponisten, der selbst Cellist war, fasziniert sie dessen Bemühen, dem erst seit Bachs Suiten als Soloinstrument anerkannten Cello auf experimentelle, innovative Weise eine neue Mehrstimmigkeit zu entlocken. Deshalb widmet sie Dall’Abacos Capriccios nicht nur eine Konzerttournee durch halb Europa, sondern auch eine eigene CD. Das deutsche Fachmagazin Das Opernglas schreibt am 1. November 2024 zur CD, Revaz sei «genau die Richtige für diese Musik, neugierig, modern, sehr engagiert und der Tradition verbunden.»

Mit ihrem Buchtitel La Saltimbanque hat Revaz sehr treffend festgehalten, wie wichtig für sie ihre artistische Präsenz auf wechselnden Bühnen geworden ist, welch grosse Bereitschaft zum ständigen Unterwegssein das verlangt und wie verletzlich diese Existenz in ökonomischer und finanzieller Hinsicht sein kann. Ihre CDs Journey to Geneva (2020) und Inspirations populaires (2022) gehörten in der Suisse romande zur bestverkauften klassischen Musik, schreibt sie in ihrem Buch, aber der finanzielle Gewinn für sie reiche gerade mal dafür, dass sie im Café Valloton drei Weinflaschen zur Feier des halben Erfolgs ihrer Koalition der kulturaffinen Parlamentarier:innen bezahlen konnte. Sie nimmt es den bürgerlichen Fraktionen übel, dass sie sich nicht für eine bessere Entschädigung der Musiker:innen für die Aufnahmen ihrer Konzerte auf CDs und Spotify einsetzen.

Eine zweifache Ausnahmeerscheinung

Estelle Revaz ist eine grosse Ausnahmeerscheinung sowohl im Kulturbereich wie im politischen Leben der Schweiz. Und zugleich ist sie eine typische Vertreterin ihrer Generation: Sie denkt und handelt mit unternehmerischem Spürsinn und ist zugleich spontan solidarisch mit all jenen, die unter die Räder zu geraten drohen; sie pflegt ihre Selbstinszenzierung gemäss den Anforderungen der heutigen Aufmerksamkeitsökonomie und ist zugleich ohne Berührungsscheu zu fruchtbaren Kooperationen mit ganz verschiedenen Menschen fähig; und sie beweist Charakterstärke und eiserne Disziplin und ist zugleich dazu bereit, ihre möglichen Schwächen zu offenbaren.

Sowohl als Musikerin wie als Politikerin entspricht sie ganz dem, was Guy Krneta in Mazenauers und Schneiders Dictionnaire des méthodes unter dem Stichwort «Frisch Dürrenmatt» über die Menschen sagt, die es heute dafür braucht, dass in Kultur und Politik etwas in Bewegung kommt: Nicht mehr grosse Einzelpersönlichkeiten wie Frisch und Dürrenmatt braucht es, sondern «eine Art Netz, eine Art Teppich, jeder und jede mit ganz unterschiedlichen Kompetenzen.» Das ist auch Revaz‘ Überzeugung und sie schöpft sie gerade aus ihren Erfahrungen als Musikerin.

In der Musik braucht es zugleich die Exzellenz jedes einzelnen Instruments und sein Zusammenwirken mit allen anderen. Das eine geht nicht ohne das andere. Und die Künstler:innen haben sich zu jeder Zeit dafür engagiert, nicht nur ihre Kunst weiter zu entwickeln, sondern auch die Gesellschaft, schreibt sie. Deshalb – und das klingt wie eine vorausahnende Replik auf Liessmanns NZZ-Gastbeitrag – könne Kunst nicht aufs schöne Dekor unseres Lebens reduziert werden: «Non, la culture n’est pas juste là pour décorer nos vies.»

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