Zwischen Gebirgsketten im Blütenstaub tanzen
Das Bündner Kunstmuseum Chur präsentiert in seiner Jubiläumsausstellung Werke aus der 125-jährigen Sammlung. Dabei sucht der Künstlerische Direktor Stephan Kunz nach der Verbindung zwischen gestern und heute und bereitet mit Feinsinn und Weitblick das Terrain für die Zukunft.
Was soll eine Museumssammlung leisten? Wie präsentiert ein Museum seine Sammlung? Wie soll sie sich weiterentwickeln? Diesen Fragen widmet sich die Jubiläumsausstellung im Bündner Kunstmuseum Chur, die, «Von hier aus» - so der Titel der Ausstellung – von heute, in die Zukunft blickt, vom Kanton Graubünden hinaus in die Welt.
Die Geschichte des Bündner Kunstmuseums reicht ins Jahr 1900 zurück, als sich der Bündner Kunstverein dem Aufbau einer Sammlung annahm, die sich explizit mit den geographischen und kulturellen Besonderheiten des Kantons befassen sollte. Es war die Zeit der Belle Époque, in der Wissenschaftler, Künstler und Intellektuelle die Bergwelt für sich entdeckten. Die Grand Hotels zogen eine wohlhabende Gästeschaft an, die sich bei Bäderkuren von einem Leben erholten, das sich durch die Industrialisierung, den Ausbau des Verkehrssystems und Telegrafennetzes zunehmend beschleunigte.
Giovanni Segantini malte im Bergell in seinem Freiluftatelier einen Himmel, der fortan zum Symbol einer Sehnsucht wurde, die bis heute die Menschen ins Engadin und Bergell zieht. Ebenfalls im Bergell wurde 1901 einer der prägendsten Bildhauer der Schweiz geboren, Alberto Giacometti, Sohn des postimpressionistischen Malers Giovanni Giacometti. Auch Bruder Diego sollte sein Leben als Maler und Designer der Kunst widmen.
1919 errichtete der Bündner Kunstverein in der neoklassizistischen Villa Planta das Bündner Kunstmuseum Chur. Die Werke der Familie Giacometti bilden auch heute noch das Herzstück des Museums, in Nachbarschaft mit Werken von Ferdinand Hodler und Cuno Amiet. In der aktuellen Ausstellung nimmt Direktor Stephan Kunz hier kleine Interventionen vor. Neben Cuno Amiets «Blumenstilleben mit Hodlerbüste» stellt er eine Installation von Sara Masüger, die in Gips gegossene Blütenkelche zeigt, in denen sich wiederum ein Antlitz spiegelt.
Kunz, der seit 14 Jahren das Bünder Kunstmuseum Chur leitet, kennt die Sammlung, die insgesamt 8000 Werke zählt, sehr genau. Seit seinem Amtsantritt öffnet er die bis dahin primär der Malerei verpflichtete Sammlung für skulpturale Arbeiten, Fotografie und andere Medien. «Mit dem Erweiterungsbau der Architekten Barozzi/Veiga, der 2016 fertig gestellt wurde, können wir auch grössere Werke zeigen und erwerben, für die wir vorher schlichtweg keinen Platz gehabt haben», so Kunz. «Bei Neuankäufen steht der Bezug zum Kanton, zu den kulturellen und landschaftlichen Besonderheiten und die Verbindung zu Werken der Sammlung im Fokus.»
Spaziergang durch die Landschaft
Im Vorfeld der Eröffnung gewährt Stephan Kunz «cültür» bereits einen Einblick in die Ausstellung. Während der einstündigen Führung wird klar, dass Kunz nichts dem Zufall überlässt. Auf eine poetische Weise treten die Werke miteinander in Dialog.
In einer Vitrine sind drei kleine gelbe Staubhäufchen zu sehen: «Drei unbesteigbare Berge» von Wolfgang Laib (* 1950 in Metzingen), dem das Museum vor drei Jahren eine Einzelausstellung widmete. «Blütenstaub von Haselzweigen», erklärt Kunz. An der Wand gegenüber lässt Augusto Giacomettis «Phantasie über eine Kartoffelblüte», welches das gelb der Haselzweige spiegelt, weiter über Blütenstaub meditieren. Der Gedanke findet schliesslich in der grossen Halle in einem monumentalen Werk von Adrian Schiess (* 1959 in Zürich) aus dem Jahr 2015 seinen Widerhall, pastellfarbene Wirbel, die sich wie im Tanz vermengen.
Im «Federtanz» (1978), einer Schwarz-Weiss-Fotocollage aus 9x9 Bildern, der Fotografin und Künstlerin Katharina Vonow (* 1951 in Chur) scheint die Tänzerin Dolores Wyss, den nackten Körper mit Federn bedeckt, zum Flug abzuheben, getragen von einem Wolkenmeer.
Die Gravitationskräfte aufheben will auch Christoph Rütimann (* 1955 Zürich). Zusammen mit dem Bünder Kunstmuseum Chur montierte er eine Kamera auf einen Zug der Rhätischen Bahn auf der Albula-Linie von Chur nach Tirano. Die Kamera vollzieht fortwährend die Bewegung einer Acht und hält damit ungewöhnliche Perspektiven fest. «So wird die Lautsprecheransage: ‹Der Blick zum Fenster hinaus wird zum Verwirrspiel› zum doppelten Verwirrspiel», freut sich Kunz. Die Videoinstallation wird zum ersten Mal im Bünder Kunstmuseum zu sehen sein.
Eine gemeinsame Landschaft beschreiben in der grossen Halle der Bündner Künstler Matias Spescha (* 1925 in Trun † 2008 in Zürich) und Richard Long (* 1945 in Bristol). Längs der Halle verläuft ein schmaler «Gesteinsteppich», Speschas schmales, langes Gemälde nimmt die Grautöne der Steine auf, in klare Farbfelder abgegrenzt.
Einen Blick hinaus aus dem Engadin demonstriert Not Vital (* 1948 in Sent). Chinesischer Marmor, eingepasst in ein abgenommenes Engadiner Fenster, offenbart durch die Abschleifung der Oberfläche eine Struktur, die eine Bergkette zeigt. Damit referiert Vital wiederum auf das Engadiner Fenster als tektonisches Fenster der Alpen im Gebiet des Unterengadins.
Fragile Existenzen
Ein Sammlungsschwerpunkt bilden neben den Werken der Giacomettis 19 Werke von Ernst Ludwig Kirchner, der ab 1917 in Davos lebte, wo er sich 1938 das Leben nahm. Die Jubiläumsausstellung zeigt die permanente Kirchner-Sammlung in (fast) unveränderter Form. Eine Leihgabe aus der Sammlung Ulmberg deutet darauf hin, dass die Sammlung im Bündner Kunstmuseum Chur eine neue Heimat findet, nachdem sich die Davoser Bevölkerung gegen die Finanzierung eines Neubaus ausgesprochen hatte, welche für die Übernahme der 100 Kunstwerke nötig gewesen wäre. «Das in der aktuellen Ausstellung gezeigte Werk ist vielleicht ein Versprechen in dieser Richtung?», so Kunz.
Erweiternd dazu sind selten gezeigte Zeichnungen und Drucke Kirchners zu sehen. Unter dem Titel «Fragile Existenzen» ist etwa eine Arbeit des Churer Kirchner-Schülers Andreas Walser zu entdecken, der 1930 mit nur 22 Jahren starb. Die Kohlezeichnung vereint zwei Gesichtshälften, von der eine Hälfte bereits im Himmel und die andere noch auf der Erde verortet scheint. Die Entschlossenheit, die aus den klaren Linien spricht, erschüttert.
Von der Fragilität des Lebens und vom Fremdsein sprechen Erica Pedrettis Arbeiten (* 1930 in Sternberg † 2022 in Tenna.) Meret Oppenheim (*1913 in Charlottenburg † 1985 in Basel) begegnet den bedrohlichen existenziellen Fragen des Menschseins mit verwirrendem Humor, während Daniel Spoerri (* 1930 in Galati † 1924 in Wien) und Dieter Roth (* 1930 in Hannover † in 1998 Basel) dem tristen Dasein mit Eat-Art und Objektkunst trotzen.
Ob und wie der in Davos aufgewachsene Thomas Hirschhorn auf Ernst Ludwig Kirchner reagiert, wird die Vernissage enthüllen. Das Museum hat jüngst eines seiner Werke aus den 90er Jahren erstanden.
In dieser Jubiläumsausstellung erhellt sich das Neue im Lichte des Alten und umgekehrt. Mit grossem Respekt vor dem Herzstück der Sammlung, Humor und Poesie schafft Kunz viele Querverbindungen und Assoziationen und beweist damit, dass eine Sammlung lebendig ist, und sich weiterentwickeln darf, ohne dabei den Wert des Alten zu verraten.
21. Februar, 18.00 bis 20.00 Uhr, Vernissage. «Von hier aus. Jubiläumsausstellung» und «Augusts Serapinas».