Ein unendlicher Farbstrom

Das Muzeum Susch am Fusse des Flüelapasses rückt mit der aktuellen Retrospektive «Ilona Keserü:Flow» eine der bekanntesten abstrakten Künstlerinnen Ungarns ins Zentrum und schafft damit ein expressives ästhetisches Form- und Farberlebnis.

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Ilona Keserü bei ihrer Einzelausstellung im Studentenheim der Universität für Ingenieurwissenschaften, Budapest, 1967 (Bild: PD / István Karff.)

Mittlerweile ist das Muzeum Susch der polnische Sammlerin Grażyna Kulczyk nicht mehr aus der Engadiner Kunstlandschaft wegzudenken; die Ausstellungen, die es sich zum Ziel machen, wenig bekannte Künstlerinnen des 20. Jahrhunderts vorzugsweise aus dem osteuropäischen Raum ins Zentrum zu rücken, erregen regelmässig die Aufmerksamkeit der internationalen Kulturberichterstattung. So überrascht auch die neue Ausstellung «Ilona Keserü: Flow» mit einer Farbgewalt und unverwechselbar frischen Bildsprache, welche die Ausstellungsräume zum Klingen bringen.

Der Bau von Chasper Schmidlin und Lukas Voellmy verbindet das Gebäude der alten Brauerei – mit den freigelegten Kellergewölben, deren Geschichte bis ins 12. Jahrhundert zurückweist – unterirdisch mit dem Hauptgebäude, das in den Felsen hinein gebaut wurde. Entstanden ist ein verwinkeltes Museum, das im Erdgeschoss die geologischen Besonderheiten offenbart und labyrinthartig die traditionelle Engadiner Baukultur mit moderner Architektur vereint.

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Ilona Keserü: «Annäherung 3», 1974. (Bild: PD / Todd-White Art Photography.)

Engadiner Museum, gemacht für ungarische Künstlerin

Die verwinkelten Ausstellungsräume mit ihren Bögen scheinen auf Ilona Keserüs Retrospektive «Flow» gewartet zu haben. Die 91-jährige gilt als eine der bedeutendsten abstrakten Künstlerinnen Ungarns, welche für ihren charakteristischen Umgang mit leuchtenden Farben und ihrem wiederkehrenden Wellenmotiv in grossformatigen Werken bekannt geworden ist.

Angefangen im Erdgeschoss, erwartet die Besuchenden im grössten Ausstellungssaal des Museums die skulpturale Installation «Farbraum» von 1977, eine kreisförmige 3 Meter hohe begehbare Plane, welche ausgehend von den Primärfarben eine Farbfolge aufweist, die sich auf den Hautton bezieht. Die vier rechteckig angeordneten Gemälde an der Wand, «Planneaux 1-4: Körper in Brechung», die ursprünglich als Skizzen für Wandgemälde dienten, setzen die Farbpalette des Regenbogens mit runden verknoteten hautfarbenen Formen in Verbindung.

Ilona Keserü entdeckte während ihrer Forschungen mit den drei Primärfarben in den 70er Jahren, dass der Hautfarbton fähig ist, Farbfelder, die nicht zusammenpassen, miteinander zu verbinden, indem dieser ockerfarbene Ton ein Gleichgewicht schafft.

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Ilona Keserü: «Orange-Rosa Annäherung», 2000. (Bild: PD)

Den Werken scheint, ausgehend von der intensiven Farbwirkung, eine Dynamik inne zu wohnen, welche die Wahrnehmung des gesamten Raumes beeinflusst. Die Verbindung zwischen Farbwirkung und Raum durchdrang Keserü in den 80er Jahre durch die Verwendung des Möbiusbandes, welche die Idee der unendlichen Farblinie als skulpturale Installation erlebbar macht, wie der Ausstellungstext verrät: «…im Wesentlichen bedeutete die kontinuierliche Verbindung bestimmter Farbtöne, dass sie ewig, ohne Grenzen und Unterbrechungen, in einem endlosen Strom im unermesslichen Raum fortschreiten konnten», so Keserü. Interpretationen der magischen Schleife, die nur eine Kante aufweist, und damit keine Unterscheidung zwischen innen und aussen und oben und unten erlaubt, finden sich im 2. Stock. 

Forscherin der Farben und Formen

Ilona Keserü wurde 1933 in Pécs geboren. 1958 absolvierte sie die Hochschule für Bildende Künste in Budapest mit Schwerpunkt Freskomalerei. Keserü arbeitete zunächst als Illustratorin, bis sie in den 60er Jahren an ersten Ausstellungen teilnahm. In dieser Zeit vollzog sie auch den Schritt von der anfangs noch figürlich geprägten- zur abstrakten Kunst. Während eines einjährigen Aufenthaltes in Rom liess sie sich von der Barockarchitektur inspirieren.

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Ilona Keserü: Möbius-Knäuel 1 (Farbverschiebung), 2005 – 2007. (Bild: PD)

Sie entwickelte nach und nach ihre eigene Bildsprache und Technik; 1967 stiess sie auf einem Friedhof am Balaton auf die herzförmig geschwungene Linie, welche die barocken Grabsteine aufwiesen. Seither taucht diese Welle in den unterschiedlichsten Interpretationen in ihren Werken auf.

Die Form bot auch die Inspiration für die Technik der Leinwandprägung, die sie in den 60er Jahren entwickelte. Die geschwungene Linie erhebt sich reliefartig von der Leinwand wie etwa in «Annäherung 3» aus dem Jahr 1973, das im 1. Stock zu sehen ist oder auch in «Silbernes Bild» aus dem Jahr 1964, das den Auftakt für ihre Tätigkeit als Bühnenbildnerin bot. Die Welle stellt auf dieser Bildkomposition einen Torbogen dar, der an ein Halszäpfchen oder auch an zwei Nasenlöcher erinnert. In «Orange-Rosa Annäherung» aus dem Jahr 2000 bewegen sich zwei Formen aufeinander zu, wobei sich die geschwungene Linie im gegenüberliegenden Objekt spiegelt. 

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Ilona Keserü: «Panneaux 3. Körper in Brechung», 1988. (Bild: PD)

Die Ausstellung ist nicht chronologisch geordnet, was auch dem künstlerischen Selbstverständnis von Ilona Keserü entspricht. «Es dauerte eine Weile, bis mir klar wurde, dass mein Grundmotiv, das Knäuel, auch die räumliche Darstellung meiner Tätigkeit als Künstlerin ist. Alles kehrt zurück; … Knäuel und Strömungen sind die Formationen und Bewegungen in jedem von uns. Die Formen, in denen das Universum agiert.»

Das Nebeneinander von verschiedenen Motiven aus unterschiedlichen Zeitperioden, die sich überlappen und durchringen, verdeutlicht der «Bilderwald» im 1. Stock, den die Kuratorin Mónika Zsikla zusammen mit der Künstlerin für die Ausstellung konzipierte. Verschiedene Bilder hängen schichtweise neben- und übereinander, woraus sich eine Komposition ergibt, in der Zeiten, Motive und Techniken miteinander verschmelzen und so ein neues Ganzes ergeben. 

«Flow» ist ein Gesamterlebnis, das seinem Namen gerecht wird; alles fliesst ineinander über und hält einen noch lange in diesem knalligen, rätselhaften Universum gefangen. 

«Ilona Keserü: Flow» bis 26. Oktober 2025, Muzeum Susch / muzeumsusch.ch 

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