Zwischen nobler Gesellschaft, Stethoskop und einsamen Gipfeln

Adrian Stokar spürt in «St. Moritzer Metamorphosen» dem Leben des Arztes und Malers Peter Robert Berry (1864-1942) nach. In der Biografie beleuchtet der Autor den gesellschaftlichen und politischen Rahmen der Belle Époque und zeichnet die Entwicklung des Bädertourismus in St. Moritz nach.

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Village Run, alte Badstrasse, heute Via Arona, links die Villa Berry, um 1980. (Bild: Berry Museum)

Der Name Berry ist eng mit der touristischen Entwicklung St. Moritz verbunden. Während vier Generationen waren die Berrys in St. Moritz als Kurärzte tätig und setzten sich auf vielfältige Weise für die Entwicklung des Kurortes ein. Die Berrys pflegten (und pflegen) aber auch ihre musische Ader, der sich Peter Robert Berry II schliesslich verpflichten sollte. Mitte dreissig entschloss er sich Maler zu werden und verzichtete auf das sichere Einkommen als Kurarzt und das damit verbundene gesellschaftliche Renommee.

Adrian Stokar geht in «St. Moritzer Metamorphosen» dieser bewegten Biografie nach, die Widersprüchliches vereint und den «sozialen, geistigen und historischen Wirkkräften einer bewegten Epoche ausgesetzt war». «Berry hatte seine Hand stets am Puls der Zeit», so Stokar. «Er war Spezialist für die Behandlung der neben der Tuberkulose häufigsten Krankheit der Vorkriegszeit, der Neurasthenie; er lernte in der gehobenen St. Moritzer Gästegesellschaft die internationale Elite und eine der reichsten amerikanischen Familien kennen; im Engadin schloss er Freundschaft mit jenem Künstler, der für seine Entwicklung von zentraler Bedeutung ist, Giovanni Segantini.» Und er traf während seiner Besuche freier Kunstschulen in Paris und München auf Künstler, welche die Avantgarde prägten. Da war aber auch der andere Berry, der sich nie ganz mit seinem Schicksal, dem Verlust einer grossen Liebe und der daraus resultierenden verlorenen materiellen Sicherheit versöhnte und der nur in der Einsamkeit der Bergwelt zu sich fand. Berry blieb in seinem Denken konservativ; in seiner Malerei verzichtete er auf die Entwicklung hin zur abstrakten Kunst, obwohl er mit avantgardistischen Techniken experimentierte.

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Besuch von Peter Robert Berrys Ehefrau Maria in dessen Freiluftatelier auf dem Berninapass 1909. (Bild: Berry Museum)

Bädertourismus als neue Einkommensquelle

Stokars Schilderung dieser Lebenslinie beginnt mit Berrys Grossvater Johannes Berry, der Bäckermeister, Mehlhändler und Stadtrat in Chur war. Die Heirat der Tochter Maria mit dem Hotelpionier Johannes Badrutt sollte die Weichen für die künftige Ärztedynastie in St. Moritz stellen. Berrys Vater, Peter Robert Berry I, bezog 1963 seine Praxis in St. Moritz, ein Jahr darauf erblickte Sohn Peter Robert das Licht der Welt.

Stokar zeigt parallel dazu die Entwicklung der Verwirtschaftlichung der St. Moritzer Heilquellen auf; die wirtschaftliche Not im Tal, bedingt durch den Wegfall der Untertanengebiete im Zuge der politischen und geografischen Neuordnung im 19. Jahrhundert, zwang die Bevölkerung, sich neue Einkommensquellen zu erschliessen. Im Laufe der 1850er Jahre kam die Entwicklung des Bädertourismus langsam in Schwung, bedingt auch durch den Ausbau des Eisenbahn- und Strassennetzes. In der ersten Boomphase des Hotelbaus von 1870 an entstanden zahlreiche Kurhotels und die grossen Häuser wie das Engadiner Kulm, das Palace Hotel, das Grand Palace und etwas später das Suvretta House. Im Zuge dieser Entwicklung wurde das Freizeitangebot für die Wintergäste ausgebaut: Curling, Eishockey, Schlittschuhlauf, Skijöring, Eissegeln, Schlitten- und Bobfahrten und Toboggan, später Skeleton genannt, standen auf dem Programm.

In diesem Umfeld, umgeben von den Schönen und Reichen dieser Welt, wurde Berry gross; denn als Kurarzt hatte der Vater Peter Robert Berry I Zugang zur noblen Gesellschaft. Dass innerhalb dieser gehobenen Gesellschaft jedoch nochmals streng hierarchische Gesetzte galten, musste der spätere Maler schmerzhaft erfahren, wie Stokar aufzeigt.

Mediziner wider Willen

Berry studiert Medizin in Heidelberg und Zürich, obwohl seine Leidenschaft viel mehr der Kunst und Musik gelten. Der Vater, der selbst in seiner Arztpraxis ein Malatelier unterhält, will eine künstlerische Laufbahn des Sohnes allerdings nicht unterstützen. Nach einer Assistenzstelle in London tritt Berry nach dem unerwarteten Tod seines Vaters 1893 die Stelle als Kurarzt in St. Moritz an. Im selben Jahr verliebt er sich in die Bankierstochter Hanny Röder aus Leipzig. Die junge Frau teilt Berrys Gefühle und die Leidenschaft für Kunst, Musik und Philosophie, doch ihr Vater stellt sich partout gegen eine Heirat. Dasselbe Schicksal soll ihm in der Verbindung mit Kitty Spalding widerfahren. Der Zuckerrohrplantagenbesitzer Zephaniah Swift Spalding stimmt einer Heirat mit seiner Tochter nur unter besonderen Auflagen zu: Berry soll sich zum Spezialisten ausbilden lassen und eine Arztpraxis in Paris eröffnen, wobei Spalding die finanziellen Mittel zur Verfügung stellen will. Daraufhin kündigt Berry 1894 seine Stelle in St. Moritz und zieht nach Paris. Da sein Schweizer Arztdiplom in Paris nicht gültig ist, muss er das Medizinstudium nochmals absolvieren. Berry lebt in kritischer, ironischer Distanz zu diesem «fast höfischen Leben» der Spaldings, wie Stokar schreibt.

Während eines Studienaufenthaltes in Berlin besucht er unter anderem auch Vorlesungen der Soziologie. In Debattierkreisen fängt er Feuer für das Gedankengut Friedrich Nietzsches, das in ihm den Wunsch reifen lässt, doch noch Künstler zu werden. Diese Ambition, Arzt und Maler zu sein, wertet der Patriarch Spalding als Vertragsbruch und löst die Verlobung im Winter 1896 auf. Hier beginnt Berrys Weg als Künstler; die Stelle als Kurarzt in St. Moritz ist inzwischen vergeben.

«Bernina Winterpost», 1908-1914, Öl auf Leinwand. Während seiner Studien an der Knirrschule in München, studierte Berry zusätzlich an der Königlichen Tierärztlichen Hochschule Pferdeanatomie. (Bild: Berry Museum)

Reich illustrierte historische Hintergründe

Stokar illustriert Berrys Lebensgeschichte mit literarischen Zitaten und Briefauszügen des Künstlers, der sich stilistisch an Segantini orientierte und schliesslich seine eigene Technik entwickelte, der aber auch komponierte «um sich abzureagieren». Die innere Zerrissenheit Berrys tritt vor den detaillierten Ausführungen der gesellschaftlichen Umstände deutlich hervor. «Modern war sein Mut, sich der Malerei ohne finanzielle Absicherung hinzugeben, sich nicht beirren zu lassen in seinem Drang, künstlerisch tätig zu sein und dabei frei zu werden sowie seinen Anspruch nach Selbstentfaltung eingelöst zu haben», so Stokar.

Dem Biografen gelingt es, die beiden Metamorphosen, jene vom Arzt zum Maler und der Entwicklung der Gemeinde St. Moritz vom Bergbauerndorf zum Luxuskurort geschickt miteinander zu verweben. So erfahren die Leserin und der Leser viele spannende geschichtliche Hintergründe, vom Ausbau der Infrastruktur bis hin zur Behandlung der bereits zitierten Neurasthenie, ein Erschöpfungszustand, den wir heute als Burnout bezeichnen. In der Behandlung spiegeln sich wiederum Ansätze der Lebensreform-Bewegung, die sich als Reaktion auf die Industrialisierung und die damit verbundenen Zivilisationskrankheiten formierte. Ein kunsthistorischer Essay von Veronika Rall rundet schliesslich die vielschichtige Biografie, vor dessen Hintergrund wir vielleicht auch etwas gelassener auf die digitale Revolution schauen, ab.

  • Adrian Stokar: «St. Moritzer Metamorphosen. Der Arzt und Maler Peter Robert Berry 1864-1942», Hier und Jetzt, Verlag für Kultur und Geschichte GmbH, Zürich, 2024. ISBN 978-3-03919-614-2. Zur Webseite.
  • «Kluge-Berry-Werkstatt» im Berry Museum St. Moritz. Kommentierend nähert sich der Filmemacher und Autor Alexander Kluge unbekannten Werken des Malers. Damit lässt sich Kunst und Geschichte aus neuen Blickwinkeln erleben. Montag bis Freitag: 14:00 bis 18:00 Uhr, Via Arona 32, 7500 St. Moritz. Bis 25. April 2025. Zur Webseite.

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