Die Frau zwischen allen Welten
Kann man alles mit allem verbinden? Kunst mit Wissenschaft und Spiritualität? Antike mit Moderne? Olga Fröbe-Kapteyn (1881-1962) hat es versucht. Das Museo Casa Rusca (Locarno) zeigt eine Ausstellung über ihr Schaffen.
Flächenmässig ist das Tessin der fünftgrösste Kanton der Schweiz. Gemessen an der Einwohnerzahl leben hier aber nur 4 Prozent der Schweizer Bevölkerung. Umso erstaunlicher ist das breite kulturelle Angebot im weitverzweigten, oft als blosse Sonnenstube apostrophierten Südkanton.
Schaut man auf den Bereich der Bildenden Kunst, besitzt allein das Locarnese über ein Dutzend namhafte Institutionen. Eine sehr spezielle Ausstellung bietet aktuell das Museo Casa Rusca in Locarno, die von der Stadt geführte Pinakothek bei der Kirche San Antonio mitten in der Altstadt.
Im herrschaftlichen Palazzo aus dem 18. Jahrhundert – mit seinem Innenhof und der prächtigen dreistöckigen Loggia – werden seit 1987 regelmässig internationale, nationale und regionale zeitgenössische Künstlerinnen und Künstler gezeigt. In den letzten Jahren waren hier Ausstellungen zu Andy Warhol, Gilbert & George, Max Bill, Sophie Taeuber-Arp, Varlin, Fernando Botero, Hans Arp, Malina Suliman oder Mario Botta zu sehen.
Im Hauptfokus der vier aktuellen Ausstellungen, alle kuratiert von Raphael Gygax, steht die sehr vielseitig schillernde Künstlerpersönlichkeit von Olga Fröbe-Kapteyn (1881-1962). Als eine der ersten Frauen hat sie anfangs des letzten Jahrhunderts den Mont Blanc bestiegen, sie war begeisterte Skifahrerin, Reiterin und Radfahrerin, aber neben dem Sportiven vor allem dem Künstlerischen und Geistigen zugetan. Ihr zentrales Interesse galt dem Bemühen, Berührungspunkte zwischen östlichem und westlichem Denken zu schaffen und zu erforschen.
«Das ist der Teufel!»
Als Tochter kulturaffiner holländischer Eltern in London geboren, übersiedelt die Familie 1900 nach Zürich, wo Olga Kapteyn die Kunstgewerbeschule sowie an der Universität Vorlesungen in Kunstgeschichte besucht. 1909 heiratet sie den Musiker und Dirigenten Iwan Fröbe, der sechs Jahre später bei einem Flugzeugunglück ums Leben kommt. 1920 lässt sich die junge Witwe mit ihrer Tochter in Ascona nieder und kauft vom väterlichen Erbe ein Haus direkt am Ufer des Lago Maggiore.
Hier entstehen von 1926 bis 1934 die streng geometrischen «Meditationstafeln», von denen sich die Künstlerin auch eine heilende Wirkung verspricht. Sie sind durchgehend in den metaphorisch aufgeladenen Farben Gold, Rot, Blau und Schwarz gehalten und strahlen in ihrer kulturenübergreifenden Symbolik etwas hochgradig Sakrales aus. Das gefiel nicht allen Zeitgenossen. Der Religionsphilosoph Alfons Rosenberg befand, dass von ihnen eine «beängstigende Kälte» ausgehe, und C.G. Jung soll beim Anblick eines besonders dunklen Bildes entsetzt ausgerufen haben: «Das ist der Teufel!»
Ein zweiter Teil der Ausstellung ist dem «Eranos-Archiv für Symbolforschung» gewidmet, mit der sich Olga Fröbe-Kapteyn von 1934 bis 1944 sehr intensiv beschäftigt. In einer weltweiten Suche nach archetypischen Symbolen in Archiven und Bibliotheken hat die Künstlerin in insgesamt 84 Archivschachteln – über Epochen, Sprachen und Kulturen hinweg – ein erstaunliches bildhaftes Wissen zusammengetragen. 12 dieser Archivschachteln sind dem Archetyp der «Grossen Mutter» gewidmet. Hierin scheint sich auch ein Erbteil von ihrer eigenen Mutter auszuprägen, die bereits im 19. Jahrhundert als Aktivistin und frühfeministische Lebensreformerin in Erscheinung getreten ist. Die Londoner Künstlerin Lucy Stein (*1979) hat jetzt, neben ihren eigenen Werken, Teile dieser Archivschachteln für die Ausstellung in eine installative Form gebracht.
Die kuratorische Idee, das Werk von Olga Fröbe-Kapteyn mit Arbeiten jüngerer zeitgenössischer Künstler:innen zu verbinden, leuchtet durchaus ein, erscheint aber bei Loredana Sperini (*1970), die mit Textilbildern und skulpturalen Installationen präsent ist, weitaus weniger zwingend. Die brachiale Grossskulptur, die Florian Germann (*1978) für den Garten des Museo Casa Rusca geschaffen hat und die er «Eranos Machine» nennt, wirkt im Kontext dieser Ausstellung etwas arg kalkuliert.
Rückwendung ins Naive und zu C. G. Jung
Olga Fröbe-Kapteyns dritte Werkgruppe in der Ausstellung nennt sich «Visionen». Sie sind als Zeichnungen formal mit Bleistift oder Gouache-Farben ausgeführt und inhaltlich sehr eng mit der Person der Künstlerin verknüpft. Sie wirken daher wie zeichnerische Tagebuchnotizen über innere geistige Vorgänge. Künstlerisch überrascht nach den frühen abstrakten Arbeiten diese Rückwendung hin zu einem etwas naiv und zum Teil auch stark esoterisch anmutenden figurativen Stil.
Die Künstlerin orientiert sich dabei offensichtlich an der von C. G. Jung inspirierten Technik der «aktiven Imagination» unterbewusster Prozesse. Es scheint, als habe sich hier die Künstlerin stilistisch dem grossen Denker unterworfen, der mit ihren frühen abstrakten Arbeiten wenig anfangen konnte.
Ein Bild sticht aus diesen «Visionen» allerdings heraus. Es zeigt eine nackte, ans Kreuz genagelte Frau.
Mehr als zwanzig Jahre später wird der Basler Künstler Kurt Fahrner einen veritablen Skandal auslösen, als er am 29. April 1959 auf der Klagemauer des Basler Barfüsserplatzes das Bild einer gekreuzigten Frau enthüllt. Das Kunstwerk wird von der Polizei sofort beschlagnahmt, und die Staatsanwaltschaft hält es trotz prominenter Einsprecher jahrelang unter Verschluss. Für den Künstler folgen Verhöre, Hausdurchsuchungen, Telefonkontrollen, Beschlagnahmungen von Privatkorrespondenzen, Fotoapparaten und Tonbändern – und schliesslich eine Verurteilung wegen der Veröffentlichung einer unzüchtigen Darstellung und der Verletzung religiöser Gefühle. Erst im Jahr 1980 erfolgt schliesslich die Freigabe des Werks. Da ist der Künstler schon drei Jahre tot.
Mit ihrem Bild von der geschundenen Frau am Kreuz war Olga Fröbe-Kapteyn auch hier eine frühe Vorläuferin.
Das Who-is-Who der Geistesgrössen
Die herausragendste und nachhaltigste Leistung von Olga Fröbe-Kapteyn besteht wohl in der Gründung und Durchführung der seit 1933 jährlich stattfindenden Eranos-Tagungen, für die die begnadete Netzwerkerin und Gastgeberin während fast drei Jahrzehnten führende Wissenschaftler verschiedenster Fachrichtungen nach Ascona-Moscia lockt und miteinander ins Gespräch bringt. Die Gästeliste liest sich wie ein Who-is-Who der Geistes- und Naturwissenschaften. Dazu gehören – um nur ein paar Beispiele zu nennen – Namen wie Hermann Hesse, Biologe und Anthropologe Adolf Portmann, Chemie-Nobelpreisträger Tadeus Reichstein, Psychologe C. G. Jung, Islamwissenschaftlerin Annemarie Schimmel, Religionswissenschaftler Mircea Eliade, Dokumentarfilmer Richard Dindo, Dialogphilosoph Martin Buber, Ägyptologe Erik Hornung, Butoh-Meister Tadashi Endo, Kulturwissenschaftler Jan Assmann, Zen-Buddhist Daisetso Suzuki oder Kabbala-Forscher Gershom Scholem. Zu jedem Treffen ist bis heute auch immer ein Eranos-Jahrbuch erschienen, in dem die Diskurse festgehalten sind. Obwohl von einer Frau begründet, bleiben die Eranos-Tagungen über all die Jahre hinweg stark männlich dominiert.
Erstmals als Künstlerin in Erscheinung getreten ist Olga Fröbe-Kapteyn in der legendären Ausstellung von Harald Szeeman zum Monte Verità von 1978. Dann verschwand sie für lange Zeit wieder in der Versenkung. Erst in den letzten Jahren widmeten sich wichtige Häuser wieder ihrem Schaffen, so das Centre Pompidou in Paris und das Museum Guggenheim Bilbao im Rahmen der Ausstellung «Künstlerinnen der Abstraktion» oder die Kunsthalle Mainz unter dem Label «Tiefes Wissen». Die Ausstellung im Museo Casa Rusca in Locarno ist die erste umfassende Retrospektive zu ihrem Schaffen und Wirken.
Gewisse Fragen bleiben
Gerne hätte man auch noch etwas mehr erfahren über die politischen und soziobiografischen Hintergründe dieser spannenden Organisatorin und Künstlerin mit dem weiten Horizont. Gerade während des zweiten Weltkriegs waren die Eranos-Tagungen ein absolut singulärer Ort in Europa, wo sich Intellektuelle und Künstler treffen und frei austauschen konnten. Welche Strategien verfolgte Olga Fröbe-Kapteyn dabei? Wie stellte sie sich konkret und politisch zu den Wirren der Zeit? Oder beförderte der «West-östliche Divan» von Ascona-Moscia zum Teil auch bestimmte Formen des spirituellen Eskapismus vor den realgeschichtlichen Schrecknissen der Zeit? Von welchen finanziellen Ressourcen konnte sie zehren für ihre aufwändigen Recherchen und Einladungen? Und in die Gegenwart und Zukunft gedacht: Wie will die Eranos-Stiftung heute dafür besorgt sein, dass man nicht allzu sehr in esoterische Gefilde abdriftet?
Die Eranos-Stiftung, quasi die intellektuelle Seele des Monte Verità, hütet einen reichen Schatz. Die Fragestellungen, denen sie sich vornehmlich widmet, die Verbindung von westlichem und östlichem Denken, das Suchen nach einer Balance zwischen Natur- und Geisteswissenschaften, zwischen Rationalität und Spiritualität sind aktueller denn je. Man darf gespannt sein, was hier noch alles ans Licht gehoben werden kann.
Olga Fröbe-Kapteyn: artista-ricercatrice. Museo Casa Rusca. Edizioni Casagrande, Bellinzona 2024 (204 Seiten, mit zahlreichen Abbildungen und Textbeiträgen auf Italienisch und Englisch)
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