Zauber und Entzauberung der Matrosenwelt
Der Dokumentarfilm «VRACHT» von Max Carlo Kohal, Abgänger der Zürcher Hochule der Künste, fängt den Alltag junger Menschen auf einem Containerfrachter in eindrücklich präzisen, entschleunigten – und manchmal auch wunderbar poetischen Bildern ein.
Auf diesen Flüssen Richtung Meer werden ja nicht nur Frachten transportiert, da schwingen immer auch Sehnsüchte und Träume mit. Wenn man im Basler Rheinhafen steht, riecht man auch das Meer. Wer hat sich noch nie auf eines dieser schweren Schiffe mit dem Duft der grossen weiten Welt geträumt? Sich dem Lauf des Wassers überlassen. Dahintreiben als Existenzform. Jetzt und immer.
Das Leben ist eine Reise, und der Fluss legt die Spur, er bestimmt den Rhythmus, die Schleusen, die Häfen, das Stop and Go. Es ist eine der zentralen Qualitäten von «Vracht», dass diese Lebensmetaphorik zwar ständig mitschwingt, aber nicht penetrant ausgewalzt wird. Die Kraft der Symbolik überlässt die Regie geschickt den Bildern und ihren Kontrasten, den jugendlichen Gesichtern, die im Laufe der Zeit etwas kantiger, den Handgriffen, die immer sicherer werden. Und den Gleitbewegungen der Kamera, die das ewige Fliessen des Wassers einfängt.
... wurde 1993 in Houston (USA) geboren und wuchs in Freiburg im Breisgau auf. An der Hochschule für Gestaltung und Kunst in Basel hat er den Bachelor in Industrial and Product Design und an der Zürcher Hochschule der Künste den Master Regie im Dokumentarfilm erworben. «Vracht» ist sein Diplomfilm und sein erster Langfilm.
Über drei Jahre hinweg hat die Filmcrew das Containerschiff «Panerai» immer wieder begleitet auf seinen Touren zwischen Basel und Rotterdam. Im Zentrum steht der anfangs kaum 16-jährige holländische Matrose Rudmer. Der Junge mit dem Milchgesicht ist ehrgeizig, er will Steuermann werden: «Und in vier Jahren will ich Kapitän sein.» Ihm kommen im dritten Jahr Zweifel: «Ich weiss nicht, ob ich Lust habe, noch ein weiteres Jahr zu lernen.»
Von Anfang an mit Motivationsproblemen zu kämpfen hat der Lehrling Tycho. Er ist aus der Schule geflogen, weil er – wie er selber sagt – «viel Scheiss gebaut» hat. An das harte Arbeiten mag er sich nicht gewöhnen und er verlässt das Schiff bald wieder. «Manche Jungs passen einfach nicht hierher», kommentiert ein älterer Kollege. «Oft sind sie noch Kids, wenn sie an Bord anfangen. Aber wenn du hier bist, trägst du Verantwortung.»
Mit der jungen Leanne kommt ein frisches, weibliches Element an Bord, das sich schnell sehr vertraut einfügt. Sie stammt aus einer Schifffahrerfamilie und bewegt sich, seit sie vier ist, auf solchen Schiffen. Das Frotzeln und Schäkern wird nun etwas geschlechtsspezifischer, aber bleibt liebevoll ironisch. «Na los, Cowboy!», tönt’s aus dem Funk, als sie beim Wurf des schweren Seils den Poller zum dritten Mal verfehlt.
Die Kamera von Lukas Gut bewegt sich immer erstaunlich nah dran an den jungen Menschen, ohne deswegen aufdringlich zu wirken. Sie fängt auch das Öde, die Langeweile, in dieser isolierten Welt ein, den sparsamen – und manchmal auch recht banalen – Kontakt zur Aussenwelt über die Handys. Der Rest ist Schweigen, Schrubben, Schleifen, Malen. «Ich liebe es, nachts ganz alleine zu arbeiten», sagt Rudmer einmal.
400 Stunden Rohmaterial sind so in den drei Jahren zusammengekommen. Kein Wunder, dass die Schnittarbeit (Roman Stocker und Tania Stöcklin) eineinhalb Jahre gedauert hat. Denn hier erst entsteht der eigentliche Film. Hier müssen tausend Entscheidungen getroffen werden. Was wollen wir wirklich erzählen? Was gehört zwingend hinein? Was lenkt eher ab? Was passt wie zusammen?
Der fertige Film dauert nun 80 Minuten und beschränkt sich ganz auf das Geschehen auf dem Schiff. Obwohl auch Material von Landausflügen und vom Zuhause der Protagonisten und der Protagonistin vorhanden gewesen wäre. Das schafft eine bezwingende Intimität. Und eine manchmal fast beängstigende Abgeschlossenheit dieser Welt.
Tanz der Container
Einerseits wirkt das wie eine nüchterne Entzauberung dieser oft arg romantisierten Matrosenwelt. Andrerseits findet der Film den ästhetischen Zauber nun ganz woanders. In den Wonnen des dauernden Gleitens, im zauberhaft leichten Ballett dieser bedrohlich schweren Maschinen, im schwebenden Tanz der Container, die wie Legosteine aufeinanderklacken, im Kreischen der Kräne und Laufkatzen, die mit den lauten Schreien der Möwen wetteifern, im zentimetergenauen Einlaufen der Riesenkähne in die engen Schleusen.
Und wenn dabei die Nachtbilder besonders bezaubernd wirken, ist auch dies keiner Ersatz-Romantisierung geschuldet, sondern der schlichten Tatsache, dass an Bord eben oft auch nachts gearbeitet wird. Um Mitternacht ins Bett, um drei Uhr raus zur neuen Ladeschicht im nächsten Hafen. «Wann muss ich wieder antreten?», fragt der Matrose morgens um fünf. «Um neun», sagt der coole Kapitän. «Ok, um halb zehn.»
Vieles, was zweifellos auch interessant sein könnte, erfahren wir nicht in diesem Film. Was zum Beispiel der zurückhaltende Kapitän über seine Crew und seinen Job zu erzählen hätte. (Der Film bleibt konsequent bei den Jungen.) Was eigentlich in all diesen Bergen von Containern drinsteckt. (Manchmal auch Drogen, wie wir aus anderen Filmen wissen.) Wie viele Güter pro Jahr auf dem Rhein transportiert werden. (Allein in Basel werden jährlich über sechs Millionen Tonnen Güter und mehr als 120'000 Container umgeschlagen.)
Es ist das bekannte Dilemma. Nicht wenige Dokumentarfilme kranken ja daran, dass sie zu vieles, was auch noch interessant ist, mithineinpacken – und so die Spur verlieren. Dass «Vracht» dieser Gefahr entgeht, zeugt von klugen dramaturgischen Entscheidungen in der Schnittphase. So entsteht ein Fokus, der wirklich trägt.
Ein wichtiges Detail – das natürlich keineswegs ein Detail ist – muss unbedingt erwähnt werden: die Filmmusik. Auch sie könnte manchmal zum störenden Knackpunkt werden. Zu einbalsamierend, zu störrisch, zu dominant. Die Musik von Mirjam Skal ist oft so reduziert, dass man sie manchmal kaum bewusst wahrnimmt. Es scheint, als nehme sie Umgebungsklänge auf, ein Sirren, ein Dröhnen, ein Klacken, ein Schleifen aus der Maschinenwelt, das in die Länge gezogen wird. Diese Musik bringt die Bilder in einer neuen Dimension zum Schwingen, indem sie synthetische Klänge subtil mit orchestralen mischt. Alles fliesst und gleitet. Die junge Zürcher Komponistin Mirjam Skal wurde dafür mit dem deutschen Dokumentarfilm-Musikpreis 2025 ausgezeichnet.
«Vracht» hat zudem auch den Basler Film- und Medienkunstpreis gewonnen, war in Solothurn in der Sektion «Visioni» und auch für den Schweizer Filmpreis nominiert und wurde an verschiedene Festivals eingeladen. Selten hat ein Erstlings- und Diplomfilm seine Reise in die Kinos mit einer solchen Palmarès antreten können. Man wünscht ihm weiterhin eine gute Publikumsreise.