Was der Krieg über Opa erzählt: Geschichten von Menschen in Widersprüchen
Was wissen wir wirklich über unsere Großeltern? Dieser Frage widmet sich eine faszinierende Textsammlung, in der 30 Autor:innen persönliche Erinnerungen teilen und dabei ein facettenreiches Bild des 20. Jahrhunderts zeichnen.
Was wissen wir über unsere Grosseltern? Dieser Frage ging der Herausgeber Wolfram Schneider-Lastin nach. Er motivierte sich selbst und 29 Autorinnen und Autoren, Erinnerungen an Grosseltern zu verfassen. Das Projekt zog immer weitere Kreise, involvierte namhafte und unbekanntere Autor:innen und führte in weite Weltgegenden. Entstanden ist eine faszinierende Sammlung an Texten, welche das zwanzigste Jahrhundert in vielen Facetten zeigt. Denn die Grosseltern erlebten Nationalsozialismus, Faschismus und Stalinismus – teils innerhalb, teils ausserhalb der Diktaturen. Teils auch in der Schweiz. Viele mussten sich entscheiden, wie sie sich zur totalitären Macht verhalten wollten. Für Andere gab es, wenn sie nicht rechtzeitig in Exil gegangen waren, nichts mehr zu entscheiden: Sie wurden Opfer.
Leben in den Krisen des 20. Jahrhunderts
Das so entstandene Buch «Fragen hätte ich noch» lädt uns ein, darüber nachzudenken, wie wir selber unter den unterschiedlichen Verhältnissen leben und handeln würden. Gerade in einer Zeit, in der die rechtsstaatlichen Demokratien und Grundrechte wieder unter Druck stehen. Autoritäre Kräfte setzen sich durch, Eroberungen durch Truppen von Diktaturen finden statt. Und wie wollen wir über Menschen urteilen, die heute in einer brutalen Diktatur leben – wenn uns etwa berichtet wird, die meisten Menschen in Russland stünden hinter Putin? Was bleibt ihnen, wenn sie keine Möglichkeit haben, Widerstand zu leisten? Zumal wenn sie für eine Familie verantwortlich sind? Wenn ihnen vielleicht die Unterlassung von Mittäterschaft, die innere Emigration möglich ist, aber nicht der Gang ins Exil?
«Die Grossväter und Grossmütter, die im Mittelpunkt der Erzählungen stehen, lebten im 20. Jahrhundert mit all seinen Höhen und Tiefen», schreibt Schneider-Lastin im Vorwort. «Die Autorinnen und Autoren kommen aus Deutschland, Österreich und der Schweiz.
Da ihre Grosseltern zum Teil aber in anderen Ländern lebten, finden sich im Buch auch Geschichten aus Italien, Frankreich, Polen, Tschechien, Ungarn, der Ukraine, Israel, Pakistan und der DDR.
Und es zeigt sich, dass die Krisen des 20. Jahrhunderts, in erster Linie die beiden Weltkriege, der Holocaust, Flucht und Vertreibung, in den verschiedenen Ländern zu ganz unterschiedlichen Schicksalen führten. [...]»
Mein Grossvater, Laborleiter in Auschwitz
Unter dem Titel «I could have done more» beispielsweise berichtet Markus Knapp von einem Grossvater, der Chemiker war und in einem Labor in einem Nebenlager beim Konzentrationslager Auschwitz als Laborleiter eingesetzt wurde. In diesem Labor arbeitete Primo Levi, Chemiker und Schriftsteller, als jüdischer Gefangener. Levi überlebte.
Da sich der Laborleiter – wie die Grossmutter berichtete – bemüht habe, den jüdischen Zwangsarbeitern das Leben zumindest ein wenig leichter zu machen, «ein wenig Menschlichkeit in dieser unbarmherzigen Atmosphäre gezeigt» habe, kam es zu einem Kontakt zwischen Levi und ihm. Allmählich nahm Levi aber Abstand, und sein Urteil über den Laborleiter verschlechterte sich: Er sei «ein graues Menschenwesen» gewesen, «weder ein Schuft noch ein Held. Ein Einäugiger unter Blinden.»
Last bis ans Lebensende
Der Grossvater, über den Gottfried Hornberger schreibt, war zunächst Landpfarrer und wurde dann theologischer Leiter einer «Heil- und Pflegeanstalt für Schwachsinnige und Epileptiker». Er hatte sich «der ‘Bekennenden Kirche’ angeschlossen, einer christlichen Oppositionsbewegung gegen Versuche einer Gleichschaltung der Evangelischen Kirche mit dem Nationalsozialismus.
«Als 1940 im Zuge des Euthanasierungsprogramms der Nazis die grauen Busse der SS anrollten, die Menschen mit psychischen und körperlichen Beeinträchtigungen aus den Heimen abholten und in Tötungsanstalten deportierten, stellte sich mein Grossvater mit erhobenen Händen vor das grosse Eingangstor. Weil er nicht weichen wollte, wurde er geschlagen und mit brachialer Gewalt abgedrängt. Dass er die ihn anvertrauten Schutzbefohlenen nicht retten konnte, belastete ihn bis an sein Lebensende.»
Auf dem Flüelapass zurückgewiesen
Nicht erst eine herrschende Diktatur, sondern schon eine von aussen drohende zwingt zu Entscheidungen. Ramona Ganzoni ruft unter dem Titel «Mein Neni» die «Zweihundert» in Erinnerung. «Mein Grossvater» – er war Wegmacher und Bahnwart – «hatte kurz nach dem Zweiten Weltkrieg seinen obersten Vorgesetzten, den Herrn Oberingenieur aus Chur, auf dem Flüelapass zurückgewiesen, weil der ein sogenannter Zweihunderter war. Bei den Zweihundert handelte es sich um 173 zum Teil prominente rechtsbürgerliche, nazifreundliche Männer, die Ende 1940 ihr hässliches Gesicht zeigten, indem sie den Bundesrat aufforderten, die Presse in ihrem Sinn zu zensurieren. Als sein oberster Chef aus dem Auto stieg und ihn anhielt, schneller zu arbeiten, antwortete er: Von einem Zweihunderter lasse ich mir nichts sagen, steigen Sie wieder ein!»
Nicht alle dieser Geschichten führen uns Politik, Krieg, Verfolgung, Überleben vor Augen. Auch solche, die von Allgemein-Menschlichem handeln, sind ergreifend.
Wolfram Schneider-Lastin (Hg.): Fragen hätte ich noch, Rotpunktverlag, Zürich 2024. 256 Seiten.