«Unsere rationale Welt braucht den irrationalen Überschwang»

Das Kulturfestival «Eventi letterari Monte Verità» startet in seine 13. Runde. Cültür sprach mit dem Künstlerischen Leiter Stefan Zweifel über den diesjährigen Fokus des Festivals, die «Psychogeographie».

Eventi_Zweifel_2
Stefan Zweifel ist seit 2023 Künstlerischer Leiter der «Eventi letterari Monte Verità». (Bild: Eventi letterari Monte Verità)

Bereits zum 13. Mal findet dieses Festival am «Berg der Wahrheit» nun statt, immer in der frühlingshaften Woche vor Ostern und seit 2023 unter der künstlerischen Leitung des vielseitig neugierigen Stefan Zweifel. Rund zwei Dutzend Veranstaltungen umfasst das diesjährige Programm. Im Zentrum steht die Literatur, aber immer in Verbindung mit einer philosophischen, musikalischen, filmischen, bildnerischen, tänzerisch-performativen, ökologischen – oder auch okkulten Dimension. Ein Hauptfokus bildet in diesem Jahr die «Psychogeographie». Was genau will dieses Gebiet vermessen?

cültür: Stefan Zweifel, Schnittstellen zu schaffen zwischen verschiedenen Künsten und wichtigen gesellschaftlichen Entwicklungen ist seit jeher ein Anliegen dieses transdisziplinären Frühjahr-Festivals. Wo im vielfältigen Programm repräsentiert sich dieser Anspruch für Sie persönlich in ganz besonderem Masse?

Stefan Zweifel: Im Treffen von Peter Zumthor und dem ungarischen Philosophen László F. Földényi, die sich gegenseitig bewundern und noch nie getroffen oder gesprochen haben. Da kommen Ästhetik, Literatur, Philosophie, Architektur und Urbanismus ganz von allein ins Gespräch ohne modische Etiketten wie «Transdisziplinarität». Es ist einfach gelebtes und gefühltes Denken und Existieren hier und jetzt.

Peter Zumthor, a Swiss architect and winner of the 2009 Pritzker Prize at his home in Haldenstein near Chur.
Peter Zumthor (Bild: Miro Kuzmanovic/miromedia.net)
E_7_László Földényi
László F. Földényi (Bild: zvg)

Was bedeutet für Sie der Begriff «Psychogeographie» in einem Satz ausgedrückt?

Die Erkundung des Einflusses von Landschaft und Architektur auf die eigenen Gedanken und Gefühle.

Die «Psychogeographie» entstand im Paris der 1950er Jahre im Umfeld der sogenannten Situationisten um den Avantgarde-Künstler Guy Debord. Diese Bewegung verstand sich als explizit politisch und experimentierte durchaus guerillaartig an den Schnittstellen zwischen Kunst, Politik, Architektur und Wirklichkeit. Eines ihrer zentralen Anliegen war die Aufhebung der Trennung zwischen Kunst und Leben. Wo erkennen Sie heute – in Ihrem Festivalprogramm oder im realen Leben – die wirkungsmächtigsten Ansätze, die ähnliche Ziele verfolgen?

Zwischen dem wahren Leben und der Kunst gibt es nie eine Grenze: Jede Geste mit der Hand ist ein Ballett, jeder Kuss ein Gedicht. Nun, die Situationisten wollten die Gemälde aus den Museen in die Restaurants und Bars von Paris, also mitten ins Leben hinaustragen. Heute klebt sie die Klimajugend fest, überklebt sie. Als ich in New York einmal vor einem van Gogh stand und in die Tiefe eines Strohballens schaute, musste ich weinen. Das Gemälde war zum Glück nicht überklebt. Insofern bin ich heute für einen kulturellen Rahmen: Was man danach ins Leben hinaus trägt, jeder Einzelne, ist in meinen Augen eine Anarchie der Gefühle, die letztlich über jede Ideologie siegen wird. Kultur ist nicht links oder rechts, sondern ein Wink ins wahre Leben, das uns niemand nehmen kann, kein Kapital und kein Algorithmus. Das ist: Monte Verità.

In diesem Jahr feiert das Festival auch den 150. Geburtstag des grossen Psychologen C. G. Jung. Wo sehen Sie die besondere Affinität, die C. G. Jung mit der Psychogeographie verbindet?

Jung erklärte 1928 den konservativen, erdverbundenen Charakter der Schweizer einerseits durch den Berg «Jungfrau» als «Schutzpatronin der Schweiz» und zugleich als «chtonisches» Sternzeichen für die Mutter Natur. Vor allem aber erklärte er aus der typischen Geographie und Schweizer Topographie mit engen Tälern und ohne Aussicht aufs weite Meer unsere Engstirnigkeit, den «Sparsinn», die «Ablehnung des Fremden» und auch das «ärgerliche Schwyzerdütsch».

Welche anderen Aspekte von C. G. Jungs immensem Werk stehen für Sie bei den diesjährigen Eventi litterari besonders im Vordergrund? Und weshalb?

Die umstrittene These von einem kollektiven Gedächtnis, in dem universale Archetypen am Werk sind, muss sich einerseits kritische Fragen im Rahmen kultureller Aneignung stellen, andererseits lädt sie ein, die Spekulationen von Jung noch zu erweitern: Dabei wird die nahe Eranos-Stiftung zum Sprungbrett, die Olga Fröbe-Kapteyn 1933 gründete. Sie hat über 6000 Bildnisse zu archetypischen Figuren aus der Menschheitsgeschichte zusammengetragen und dem Warburg-Institut in London übergeben. Aby Warburg wiederum hat selbst mit dem Memnosyne-Katalog eine revolutionäre kulturhistorische Sicht eröffnet, wo sich verdrängte antike Formeln in aktuellen Formen und Fragen wieder ins Bewusstsein drängen: Wie können die Echoräume der sozialen Blasen wieder geöffnet und entgrenzt werden?

Kultur ist nicht links oder rechts, sondern ein Wink ins wahre Leben, das uns niemand nehmen kann, kein Kapital und kein Algorithmus. Das ist: Monte Verità.

Landschaften und konkrete örtliche Umgebungen, ob rural oder urban, spielen bekanntlich in zahlreichen literarischen Werken eine wichtige Rolle. Um den Begriff nicht zu verwässern: Ab wann kann man wirklich von einer psychogeographischen Dimension sprechen?

Sicher seit den Streifzügen von J. J. Rousseau durch die Wälder des Jura: Diese Gedanken notiert er 1778 zunächst auf Jasskarten und beschreibt dann den Einfluss der Wälder, der Blumen und der Wellen auf dem Bielersee auf seine Seele. Einmal entdeckt er im Wald eine einsame Stelle und fühlt sich als Kolumbus, der die unberührte Mutter Natur entdeckt – da hört er ein Geräusch, geht durch's nächste Gebüsch und steht vor einer Strumpf-Fabrik. Leicht erotisch untermalt verschmelzen da Natur, Maschine und Mensch. Und da sagt er, die ganze Schweiz sei eigentlich ein einziger Pariser Boulevard – nirgends seien sich Natur und Zivilisation so nah wie in der Schweiz. Ein Wink für die 10-Millionen-Schweiz mit ihren Gefahren und Chancen.

Der sogenannte «gesunde Menschenverstand» hat immer wieder dazu geführt, dass das Andere, das Unbekannte, das Fremde ausgeschlossen wurde.

Von welcher literarischen Begegnung erhoffen Sie sich in diesem Jahr besonders viel? Oder anders gefragt: Auf welche literarische Einladung sind Sie als künstlerischer Leiter des Programms besonders stolz?

Am meisten freut und ängstigt mich das Gespräch mit Marie NDiaye: Als ich ihr erstes auf deutsch erschienenes Buch 2008 im Literaturclub vorschlug, konnte ich es fast nicht durchsetzen. Jetzt ist sie als Goncourt-Preisträgerin ein Star. Und immer noch ein faszinierendes Rätsel für mich – wie kann man so gedanken-übertragend, Gefühls-ansteckend schreiben?

Eventi_Marie NDiaye
Auf Marie NDiaye freut sich Stefan Zweifel besonders. (Bild: Eventi letterari Monte Verità)

«Monte Verità», «C. G. Jung» und «Eranos Stiftung» umwehen oft auch esoterische, dem Irrationalen zuneigende Strömungen. Welches Potenzial sehen Sie in dieser Begegnung von Rationalem und Spirituellem und doch eher Irrationalem? Wo würden Sie persönlich allenfalls eine Grenze ziehen wollen zwischen Rationalität und Irrationalität?

Als Michel Foucault noch als strammer Vertreter der klassischen Psychiatrie 1954 in der Klinik Münsterlingen einen Fastnachtszug der sogenannt «Irren» sieht, die sich als «Irre» und «Narren» verkleiden, geht ihm auf: Die Vernunft darf den Wahn nicht in Kliniken einsperren, sonst setzt sie sich absolut und wird selbst wahnsinnig, grössenwahnsinnig. Sie darf die eigene Irrationalität nicht verdrängen. Denn gerade der sogenannte «gesunde Menschenverstand» hat immer wieder dazu geführt, dass das Andere, das Unbekannte, das Fremde ausgeschlossen wurde – dabei eröffnet es immer Chancen, uns selbst neu zu erfinden. Unsere rationale Welt braucht den irrationalen Überschwang, um nicht im mechanischen Tick-Tack von Tik-Tok aus uns Roboter im Rhythmus der Algorithmen zu machen.

Dies ist bereits die 13. Ausgabe dieses transdisziplinären Festivals am legendären Monte Verità. Was wünschen Sie sich als künstlerischer Leiter für dieses in seiner Art singuläre Festival mit Blick auf die Zukunft?

Gerade verriet mir ein Autor aus dem letzten Jahr, dass in seinem nächsten Roman der Monte Verità eine zentrale Rolle spielt. Dann haben auch schon Autoren und Musiker sowie Verleger zusammengefunden und Projekte ausgeheckt. Ich hoffe, es entstehen solche Netze – und auch eine Art Kernfamilie, die sich immer wieder mit neuen Gästen trifft. Eine Art «azephalische», also «kopflose» Geheimgesellschaft, wie sie einst Georges Bataille vorschwebte… Das ist natürlich etwas hoch gegriffen. Aber mein heimlicher Antrieb.

Unsere rationale Welt braucht den irrationalen Überschwang, um nicht im mechanischen Tick-Tack von Tik-Tok aus uns Roboter im Rhythmus der Algorithmen zu machen.

Infos zum Programm

Fleur_Jaeggy
Fleur Jaeggy ist Trägerin des Schweizer Grand Prix Literatur 2025. (Bild: Effigie/Bridgeman Images/Suhrkamp Verlag)
  • Eventi_Erik Davis

    Erik Davis (Bild: Eventi letterari Monte Verità)

  • Judith Schalansky

    Judith Schalansky (Bild: Helen Lüth)

  • Eventi_5_Jutta Person┬®Johanna Ruebel

    Jutta Person (Bild: Johanna Ruebel)

  • E_7_La╠üszlo╠ü Fo╠êlde╠ünyi

    László F. Földényi (Bild: zvg)

  • E_7_Scholastique Mukasonga┬®Hülie Gallimard

    Scholastique Mukasonga (Bild: zvg)

  • E_8_Peter Weber_1

    Peter Weber (Bild: zvg)

  • E_10_Diedrich Diederichsen┬®Joachim Gern

    Diedrich Diederichsen (Bild: Joachim Gern)

  • E_11_Julian Sartorius_1┬®Eventi letterari Monte Verita╠Ç

    Julian Sartorius (Bild: Eventi letterari Monte Verita)

  • Eventi_Matteo Terzaghi

    Matteo Terzaghi (Bild: zvg)

Eröffnet wird das Festival vom amerikanischen Schriftsteller und Gelehrten Erik Davis, dessen Werke von Rockkritik über Kulturanalyse bis hin zur kreativen Erkundung der esoterischen Mystik reichen. In seinem Kultklassiker «TechGnosis: Mythos, Magie und Mystik im Zeitalter der Information» deckt er verblüffende Wechselwirkungen auf zwischen den scheinbar so weit voneinander entfernten Welten des Digitalen und des Spirituellen.

Eine Art posthumer Ehrengast zu seinem 150. Geburtstag ist in diesem Jahr der Psychologe C. G. Jung. Mit ihm im Gepäck werden ganz unterschiedliche Seelenlandschaften der Literatur erkundet. Judith Schalansky («Atlas der abgelegenen Inseln», 2009) stellt Jutta Person vor, die in der Reihe «Naturkunden» zwei wunderschöne Bände über «Korallen» (2019) und «Esel» (2013) veröffentlicht hat.

Peter Zumthor wird im Gespräch mit dem ungarischen Philosophen László F. Földényi den Denk-Raum in Richtung Architektur öffnen. Eine musikalisch umrahmte Hommage ist Fleur Jaeggy («Die seligen Jahre der Züchtigung» und «Ich bin der Bruder von XX», beide 2024) gewidmet, der geheimnisvollen Grande Dame der Schweizer Literatur, die Ende Mai auch mit dem Grand Prix Literatur der Schweiz ausgezeichnet wird.

Aus Ruanda gebürtig, wo ein Grossteil ihrer Familie dem Völkermord von 1994 zum Opfer fiel, wird Scholastique Mukasonga («Frau mit blossen Füssen», 2022) zu Gast sein. Aus Katalonien kommt Irene Solà («Singe ich, tanzen die Berge», 2024), die das Liebesgeflüster der Pilze und der gesamten Natur zum Klingen bringt. Peter Weber («Der Wettermacher», 1993) wird im Dialog mit Matteo Terzaghi die Unterschiede zwischen Deutschweizer- und Tessiner Literatur umspielen. Der Pop- und Psychoanalyseforscher Diedrich Diederichsen wird Ökologie und Gegenwartskunst vermessen. Und der Perkussionist Julian Sartorius ertrommelt die vielfältige Klangwelt der Natur am Monte Verità.

In besonders komplexe Psycholabyrinthe entführt zum Abschluss des Festivals die französische Schriftstellerin Marie Ndiaye («Rosie Carpe», 2005, «Mein Herz in der Enge», 2008, «Drei starke Frauen», 2010). Einige Irritationen hat auch ihr jüngstes Buch, «Die Rache ist mein» (2021), ausgelöst, in dem sie sich in die Psychographie einer Frau und Mutter versenkt, die ihre drei Kinder umbringt.

Das könnte dich auch interessieren

Cinematheque_a

In Erwartung «drastischer Entscheide»

Während seiner 16-jährigen Leitung machte Fédéric Maire die Cinémathèque Suisse zu einem der europaweit wichtigsten Filmarchive. Angesichts der sich abzeichnenden Einsparungen verlässt Maire im September ein Jahr vor seiner regulären Pensionierung das Schweizer Filmarchiv.

Von Daniel Rothenbühler
Schloss_Tarasp_Ansicht_Frühling_5

Von echten Prinzessinnen und modernen Kunstrittern

In «Nos Chastè», dem neusten Dokumentarfilm der Engadiner Regisseurin Susanna Fanzun, spielt ein Schloss die Hauptrolle. Fanzun ist als Tochter des Schlossverwalters des Schloss Tarasp aufgewachsen. Über zwanzig Jahre lang dokumentierte sie das Schicksal des Schlosses.

Von Bettina Gugger
Peter Bichsel liest im Kleintheater Luzern aus seinen Transsibirischen Geschichten vor

«Ich höre deinem Französisch gerne zu»

Vielen Romands ist Peter Bichsel vor allem durch die Schullektüre bekannt, was dem Autor missfiel, als Pflichtlektüre behandelt zu werden. Umso mehr freute ihn die fast vollständige Übersetzung seines Werkes ins Französische. Für ihn waren Übersetzungen eigenständige Nacherzählungen.

Von Daniel Rothenbühler

Kommentare