Soldat, Dame und Buckelpiste

Wie die romanische Literatur zu mir kam.

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Romana Ganzoni lädt ein zu einer Entdeckungsreise durch die rätoromanische Literatur des Engadins. (Bild: zvg)

Wir sind Walser, und die Walser können alles besser, sagte mein Vater. Ich konnte also alles besser und war erst noch zweisprachig, seit mich die Hebamme, Cati Truog, anlässlich meines ersten Atemzugs in Scuol auf romanisch begrüsste, bainvgnüda, sagte sie im Idiom vallader, ich antwortete in der Universalsprache Neugeborener, dem Geschrei, keine Ahnung, ob die zwetschgenblaue Farbe meines Kopfes bereits auf literarisch-poetische Interessen hinwies, ausschliessen kann ich es nicht.

Deutsch verstand ich, weil ich meinen Eltern monatelang im Bauch zuhören musste und auch, weil Hinz, Kunz und Kunigunde in deutscher Sprache auf meine Mutter einredeten, als ich mein Bestes gab, um nicht aus meiner weichen Burg vertrieben zu werden, ich machte mich steif und legte meine Nabelschnur zwei Mal um den Hals, bis das halbe Spital auf dem Bauch meiner Mutter sass und sie das Pressen lehrte. Sie zerriss beinahe ihr fünffach gefaltetes Taschentuch, da obsiegte das System, wie so oft, ich gab auf und kam raus, mit erhobenen Händen, wenn ich mich recht erinnere.

Kurz darauf begleiteten mich romanische Choräle zum Taufstein, ihre Poesie versöhnte mich vorläufig etwas mit der Welt. Fortan sangen auch alle Vögel auf romanisch, besonders laut meine geliebten Spatzen, und der Chalzina-Bach rauschte durch das angelehnte Küchenfenster in derselben melodiösen Sprache. Schon bald klang sie vielstimmig in allen Gassen des Dorfes und aus den Nachbarshäusern, und die Berge hörten vergnügt zu. Dann war ich gross und machte mich auf den Weg in den Kindergarten, der zum abenteuerlichen Forstsetzungsroman geriet, mit farbigen Schneckenhäusern und ausgerissenen Haaren unter dem Flieder sowie täglichem Happy End, denn der Weg führte zu meiner ersten Lehrerin, der freundlichen Dorli Biert.

Wie wohltuend, durften wir Kinder Frau Biert tanta Dorli rufen. In ihrem Blick und ihrer Sprache fühlte ich mich sicher. Das ist die Schwägerin von Cla Biert, dem grossen Dichter, eine Ureinheimische, sagten meine überwältigten Eltern, und, tatsächlich, ich entdeckte in tanta Dorli diesen bedeutenden Autor aus Scuol, der im Roman «La müdada» mit einer hinreissenden Krämerseele einen Start à la Proust hinlegt, ich war vor Bewunderung platt, als ich die Passage zum ersten und zum zehnten Mal las. Dass Biert Dichte und Qualität im Roman nicht durchhielt, soll ihm nicht vorgeworfen werden, seine Erzählungen aus «Fain Manü», die wir Kinder in der Primarschule hörten und lasen, aber auch die aus «Pangronds», «Amuras» und «Laina verda» weisen Biert als Meister aus.

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Cla Biert 1951 im Cabaret «la Panaglia». (Bild: Nachlass Cla Biert, Schweizerisches Literaturarchiv)

Meine Eltern hatten recht, von ihm als gross zu sprechen, auch körperlich war er hochgewachsen, ich konnte Biert des Nachts sehen, wie er im Tal auf und ab ging, sein Scheitel lag auf 3173,3 Metern über Meer, wie der Piz Pisoc, vor dem er salutierte, er war sein und unser aller Soldat, der uns fortan vor miesen Texten schützen würde, weil wir wussten, wie eine gute Geschichte klang. Ich sah und hörte seine Sätze nicht erst in der Primarschule, ich sah seine Sätze in tanta Dorlis Montagsaugen, und ich wusste sie in tanta Dorlis Montagsohren, sie hatte inmitten der Grossfamilie Biert den Sonntagsbraten eingenommen und sich mit Rotwein, Kaffee, Schnaps und Cla-Biert-Sätzen vollgesogen, die sie Anfang Woche grosszügig unter die Dorfkinder brachte.

Ob die Cla-Biert-Sätze Spuren oder Konversationsfetzen von seinen Künstlerkollegen enthielten, dem klugen Humoristen Men Rauch und dem Dramatiker Jon Semadeni, aber auch von seinem Freund, dem Poeten Andri Peer, weiss ich nicht, aber ich nehme es an, denn als ich in der Mittelschule nach ihren Texten griff, verhielten sie sich wie alte Bekannte, die etwas Neues erlebt hatten, Men Rauch grundierte mein Lebensgefühl, wenn ich romanisch sprach, sang oder schrieb, ich brannte für die Erzählung «Il giat cotschen» von Semadeni, sie sprang mich an, als wäre die rote Katze im Text keine Mumie, sondern ein lebendiger Auftrag mit sieben Leben, Peers Gedichte zeigten mir Trampelpfade ins Wurzelwerk und zu den Flechten, aber auch in die Höhe und an den Fluss. Heute sehe ich den Fluss täglich, wenn ich aus meinem Arbeitszimmer blicke, es ist der En, den Andri Peer den Vater des Engadins nennt, il bap da l’Engiadina.

Als ich mit fünf Jahren den Soldaten Biert und seine Kompanie in den Augen und Ohren meiner Kindergarten-Lehrerin entdeckte, trat mir eine Kundin meiner Eltern und echte Schriftstellerin leibhaftig entgegen, Selina Könz aus Guarda, ich war jung, aber bereits so statusbewusst, dass ich mit dem von Könz signierten Schellenursli-Exemplar im Kindergarten aufschnitt, der Erfolg war gering, mit der anderen Dame, die zu uns nach Hause kam, hätte ich auch gerne aufgeschnitten, aber ich konnte nicht beweisen, dass sie in Kontakt mit meiner Familie und mir stand, ihr Buch hatte meine Mutter zuoberst aufs Gestell gelegt, das ist von Luisa Famos, von der Luisa Famos, sagte meine Mutter, sie schreibt die schönsten Gedichte. Kurz darauf kam die Dame, die die schönsten Gedichte schrieb, wieder, ich sah, wie sie vornehm in unsere kleine Wohnung trat, und dass sie die Augen einer Diala hatte.

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Luisa Famos gilt als Erneuerin der rätoromanischen Lyrik im 20. Jahrhundert. (Bild: Archiv Luisa Famos)

Meine Mutter sagte zu der Dame, Sie machen jede Hütte zum Palast. Luisa Famos, die Luisa Famos, lächelte und ging nach unten, durch die Waschküche in den Raum, wo mein Vater ihr und ihrem Mann Skis verkaufte und präparierte, ich erinnere mich an die Marke der Bretter: Roy, das war kurz bevor meine Eltern ihr erstes Ski-Geschäft bezogen in der ehemaligen Metzgerei Biert.

Mit Biert und Famos hatte ich die besten Gründe, den Ort, wo sie mir begegnet waren, Scuol, für die Hauptstadt der Welt zu halten. Was ich bis heute tue.

In der Hauptstadt der Welt habe ich mich für den Rest meines Lebens mit Literatur angesteckt, dann brach die Sucht aus, was mich mit Chasper Sarott verband, mein erfahrener, kurz vor der Pension stehender Lehrer der ersten und zweiten Klasse wurde mein Dealer, ein hochmusikalischer Sprachmensch in orangem Rollkragenpullover, er brachte mir lesen und schreiben bei, alles im Idiom vallader, und stiess ein riesiges Tor auf, bainvgnüda, hörte ich ihn sagen, und ich höre noch heute, wie er der Klasse mit seiner Radiostimme die Fabeln von Aesop vorliest und Max und Moritz von Busch, Texte, die er kongenial ins Romanische übertragen hat, ich war sicher, das ist elementare rätoromanische Literatur, wie auch Preussler und Kästner, die etwas später auftraten.

Noch immer gibt es Menschen, die behaupten, Aesop, Busch, Preussler, Kästner und Co. seien keine romanischen Autoren, aber unter uns, das ist einfach ein Gerücht, das sich hält. Wo mögen die bloss alle aufgewachsen sein, welche Milch haben die wohl getrunken, die aus Susch, Ftan oder Ramosch, wie die Famos? Wahrscheinlich war Ramosch, das Dorf, wo Professoren, Dichterinnen und Dichter an den Bäumen wachsen wie Aprikosen. Wenn sie reif sind, fallen sie runter - und fahren Ski.

Ich fuhr mit Martin aus Ramosch und mit Thomas aus Ramosch Lift und mit einem dritten Buben aus Ramosch fuhr ich Buckelpiste, weil er sie besonders elegant meisterte, Top-Rhythmus, er fuhr in Versen, in Reimen. Hey! Ich mochte das – und ihn. Als er verunfallte und in dem Spital lag, wo ich auf die Welt gekommen war, buk ich eine Schwarzwäldertorte und steckte meinen syrischen Goldhamster mit ein paar Sonnenblumenkernen in den wattierten Handschuh, um den Patienten zu besuchen. Wir warteten, bis alle weg waren, dann packte ich Torte und Hamster aus, wir assen, während das Tier im Zimmer umherrannte, das heiterte ihn auf. Hoffentlich würde weder Personal, noch Familie stören. Wobei: Mit dieser Familie musste etwas los sein. So wie der Buckelpiste fuhr.

Bingo! Ich wohnte schon längst nicht mehr in Scuol, als ich vom Bruder des Tortenessers vernahm, er heisse Dumenic Andry, der bedeutende Lyriker, der jetzt in Zuoz lebt. Ich ahnte es, ich ahnte es, ich ahnte es, mein Literaturdetektor bescheisst mich nie, ich war überhaupt nicht überrascht, als ein weiterer Bruder kürzlich ebenfalls publizierte, es war Schicksal, der Buckelpistenfahrer selbst ist Journalist geworden. Wie einer Ski fährt, verrät alle. Sie hätten mich fragen können, was aus ihnen wird, vor mehr als vierzig Jahren. Ich hätte es gewusst, aber noch nicht formulieren können.

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Dumenic Andry ist der Bruder des eleganten Buckelpistenfahrers. (Bild: Yvonne Böhler)
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Romana Ganzoni

... wurde 1967 in Scuol geboren und lebt heute in Celerina. Sie studierte Allgemeine Geschichte und Germanistik an der Universität Zürich. Danach unterrichtete sie 20 Jahre an verschiedenen Gymnasien in Zürich und im Engadin, bis sie 2013 den Sprung in die literarische Selbständigkeit wagte. 2014 war sie gleich Finalistin beim Ingeborg-Bachmann-Preis.

Von ihr erschienen u. a. «Granada Grischun. Erzählungen» (Rotpunktverlag 2017), «Tod in Genua» (Rotpunktverlag 2019) und «Magdalenas Sünde» (Telegramme Verlag 2021).

2020 gewann sie den Bündner Literaturpreis.

Romana Ganzoni ist verheiratet und Mutter von drei erwachsenen Kindern (pd).

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