Simon, der Laternenanzünder

Marie-Jeanne Urech ist eine der schillerndsten literarischen Stimmen aus der Romandie. Ihr soeben auf Deutsch erschienenes Buch «X wie Dictionnaire» setzt der gesellschaftlichen Finsternis ein poetisches Licht entgegen.

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Die in Lausanne geborene Marie-Jeanne Urech ist neben ihrer Arbeit als Schriftstellerin auch als Filmschaffende aktiv. (Bild: © Charly Rappo)

Marie-Jeanne Urech erzählt keine aufregende, im landläufigen Sinn spannungsgeladene Geschichte. Lieber entwirft sie kleine Szenerien, stattet sie mit kauzigen Gestalten aus und rückt sie mit feinen Nuancen ins rechte Licht. Der Anlass, weshalb die Menschen auf den Planeten Belgador ausreisen oder fliehen, bleibt diffus. Das Klima wird wärmer, Schmiefel liegt in der Luft und Berge sind erodiert – aber vielleicht gibt es gar keine unmittelbaren Beweggründe, ausser dass viele es tun, um auf dem angeblich grünen Planeten ein neues Leben anzufangen. Der Preis dafür ist hoch, denn die Reisenden müssen all ihren «Plunder» zurücklassen, um „schwerelos zu sein“. Einzig Souvenirs in Form von Konfetti sind als Gepäck erlaubt. Auch Simon hegte einst den «Traum von Veränderung», doch inzwischen will er die Welt nicht mehr verändern, sondern «erhalten, sie vor dem Vergessen bewahren».

Die Stadt leert sich

So wird die kleine Gemeinschaft immer noch kleiner. Der Fischer verschwindet, der Wirt folgt ihm nach, bald möchte auch Madeleine, die das Haus wie Altas auf ihren Schultern trägt, weggehen. Nur Simon bleibt. Nicht einmal Flore, die auch gegangen ist, hat ihn umstimmen können.

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«X wie Dictionnaire» ist im Rotpunktverlag auch Deutsch erschienen. (Bild: Rotpunktverlag, Zürich 2024. )

Je weniger Menschen in der Stadt leben, desto mehr holt sich die Natur den freien Raum zurück, was die Pflege der Laternen immer delikater macht. Pflanzen überwuchern sie und verschatten das Licht. Bei seiner Pflege erhält Simon immerhin Hilfe von einem Kleinen, der ihm als «Fundsache» zugefallen ist. Zusammen tun sie, was zu tun ist, auch wenn sie nicht nachkommen und deshalb Teile der Stadt im Dunkel bleiben.

Blick zurück in Sorge

In einem Gedicht reimte der Dichter und Anarchist Erich Mühsam vor gut hundert Jahren «Revoluzzer» auf «Lampenputzer», um letzterem die Bitte in den Mund zu legen: «Ich bin der Lampenputzer / dieses guten Leuchtelichts. / Bitte, bitte, tut ihm nichts.» Historische Vergleiche hinken immer, doch erstens sind Lampenputzer ein rares literarisches Motiv und zweitens kann ein kurzer Blick in die Geschichte nicht schaden. Der Autor Erich Mühsam steht für eine Epoche, in der die demokratischen Werte willig über die Klippe gestossen die Vernunft ausgepustet wurden. 1934 war er eines der ersten Opfer in den KZs der Nazis. 

Ein direkter Bezug besteht nicht, doch auch Marie-Jeanne Urech überträgt die Laternenmetapher auf eine Welt, in der das Licht erneut auszugehen drohen. Der Lampist Simon ist kein Revoluzzer, er hält nur das Licht der Vernunft am Leuchten. Seine Geste des Bewahrens hat etwas wunderbar Naives, sie ist eine Geste des leisen Widerstands gegen die gesellschaftlichen Fliehkräfte. Dabei gehen die Menschen gar nicht aus Überschwang oder Hoffnung weg. Sie gehen, weil alle es tun. «Je weniger man darüber sprach, umso herrlicher musste es dort sein.»

Die Farce in poetischer Hülle

Marie-Jeanne Urech bezaubert seit vielen Jahren mit ihren wunderlichen Romanen. Jedes ihrer Bücher, die jeweils mit etwas Verzögerung in Übersetzung auch die Deutschschweiz erreichen, findet ein neues skurriles Sujet und den poetischen Ton dazu. 

Ihr Debüt «Mein sehr lieber Herr Schönengel» (2009) ist eine an Kafka erinnernde, bissig-böse Satire auf die geisttötende Arbeitswelt. In einem gewaltigen Firmenkomplex zeichnet eine Herde von anonymisierten Beamten den lieben langen Tag ansteigende Striche, von links unten nach rechts oben – um die Behauptung des permanenten Fortschritts zu bekräftigen. Nur einer, eben der Herr Schönengel, opponiert und zeichnet Bäume, bis die Firmenköpfe vom Thron herunterpurzeln und als Weihnachtskugeln an den Baum gehängt werden. 

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Urechs Oeuvre in deutscher Übersetzung. (Bild: Beat Matzenauer)

2013 entwarf Urech im Roman «Requisiten für das Paradies» eine mysteriöse Welt, die aus vielen, rätselhaft miteinander verbundenen Wirklichkeiten besteht. Die einen Menschen produzieren in sterilen Fabriken Dinge, die von Grund auf Konstruktionsfehler haben; andere Menschen leben in einer paradiesischen Gartenstadt, die ausweglos von Autobahnen umzingelt ist. Wie das alles zusammenhängt, ist das Geheimnis ihrer Prosa. 

Und 2017 erschien «Schnitz», der rabenschwarze Roman erzählt von der Familie Kummer, die sich trotz ihrer Misere ein weiches Wesen namens Philanthropie leistet, das sich allein von Schnitz, oder Millefeuilles, ernährt. Die absurde Geschichte endet indes mit einem lichten Ausblick: «Es ist kein Stromausfall, der den Menschen in Dunkelheit hüllt, sondern ein Mangel an Klarsicht». Von hier ist es nicht weit bis zu Simon, dem Lampisten. 

Urech besticht mit feiner Komik und poetischen Linien, die durch ihre verästelten Geschichten führen. Es versteht sich fast von selbst, dass eine solche Sprache die Übersetzung herausfordert. Sie kann sich nicht auf die inhaltliche Bedeutung verlassen, sondern muss immer die poetischen Spielereien mitbedenken und dafür oft neue Worte kreieren. Lis Künzli, die Preisträgerin des Prix lémanique de la traduction 2024, hat diese Aufgabe sehr stimmig gelöst. 

Der blaue Punkt

«X wie Dictionnaire» klingt leichter als die früheren Bücher. Der Roman kann wie ein melancholisches Märchen gelesen werden. Wer mag, darf darin aber auch eine Metapher auf unsere Gegenwart im Bannkreis von ökologischer Krise und politischem Bullshit sehen. Auf alle Fälle hält das Buch etwas ungemein Tröstliches bereit. Der Lampist Simon glaubt an die Erde selbst in heillosen Zeiten. Als mit dem letzten Flug nach Belgador auch seine Abreise gekommen scheint, bleibt sein Platz in der Raumfähre leer. Dem Kleinen aber gibt er einen Rat mit auf den Flug: «Verlier diesen blauen Punkt, der sich durch das Bullauge entfernt, nie aus den Augen.»

So fantastisch und zuweilen boshaft Urechs Welten anmuten, sie machen jederzeit deutlich, dass nur ein Wimpernschlag, ein Geistesblitz sie von der Realität trennt. Sie sind nicht absurd, sie stellen die real existierende Absurdität bloss. Und sie regen zum Lachen an, auch wo es nichts mehr zu lachen gibt. Wenn aber einer wie Simon daran glaubt, könnte der blaue Punkt vielleicht doch noch gerettet werden. 

PS: Der «blue dot» war in den letzten Wochen ein Schlachtruf der Demokraten, die darauf hofften, dass im «blauen», also demokratischen Wahlkreis Omaha (Nebraska) die US-Wahl zu ihren Gunsten entschieden wird. Vergebens.

Marie-Jeanne Urech: X wie Dictionnaire. Aus dem Franz. von Lis Künzli. Rotpunktverlag, Zürich 2024. 

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