In Erwartung «drastischer Entscheide»

Während Frédéric Maires 16-jähriger Leitung entwickelte sich die Cinémathèque Suisse zu einem der europaweit wichtigsten Filmarchive. Angesichts der sich abzeichnenden Einsparungen verlässt Maire im September ein Jahr vor seiner regulären Pensionierung das Schweizer Filmarchiv.

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Das Forschungs- und Archivierungszentrums in Penthaz, das 2019 eröffnet wurde. (Bild: zvg)

Es war eigentlich ein Protest, und dieser hätte mehr Nachhall verdient. Am 28. März kündigte Frédéric Maire für Ende September 2025 seinen Rücktritt als Leiter der Cinémathèque Suisse an. Damit verlässt er das Schweizer Filmarchiv ein Jahr vor seiner regulären Pensionierung. Er sei weder krank noch verärgert, beeilte er sich mitzuteilen. Und doch verbindet er seinen vorgezogenen Abgang mit einer klaren Botschaft: «Angesichts der vielen Einsparungen, der sich abzeichnenden finanziellen Schwierigkeiten und der Mittelkürzungen scheint es mir klar, dass es jemand anderen braucht, um die Zukunft der Cinémathèque zu gestalten», erklärte er gegenüber Keystone-SDA. Er sehe sich in diesem entscheidenden Moment nicht mehr als die richtige Person, die möglicherweise «drastische Entscheidungen» werde treffen müssen.

Mit diesen Worten spricht Maire aus, was den meisten seiner Kolleginnen und Kollegen in führenden Positionen kultureller Institutionen, die der Bund finanziell mitträgt, schlaflose Nächte bereitet: Mit den Sparbeschlüssen der eidgenössischen Räte kommen schwere Zeiten auf sie und die gesamte schweizerische Kulturszene zu. Das schon länger eingeleitete Schrumpfungsprogramm kommt nicht mit der theatralen Brutalität daher wie jenes von Trump und Musk in den USA, aber schmerzhaft ist es doch und wird es in Zukunft noch mehr sein. Maires Rücktritt und seine öffentliche Erklärung dazu hätten deutlichere Kommentare und Statements in den Medien verdient, damit das breite Publikum der Kulturangebote im ganzen Land politisch hellhöriger darauf wird, was gegenwärtig im Gang ist. Wie praktisch ist es doch, die Bösewichte nur in den fernen USA zu verorten.

Maire kann für die Cinémathèque auf sechzehn fette Jahre zurückblicken. Ob nun sechzehn magere folgen werden? Der Stiftungsrat der Cinémathèque schrieb zu seinem Rücktritt: «Nach der Einführung einer neuen Governance zur Wachstumsbegleitung muss sich das Schweizer Filmarchiv heute mit der Konsolidierung seiner Errungenschaften in einem komplexen, von Budgetkürzungen geprägten Umfeld befassen. Vor diesem Hintergrund dürfte die Ankunft eines neuen Direktors bzw. einer neuen Direktorin der Institution neuen Schwung für das Meistern der aktuellen Herausforderungen verleihen.» Mit Worthülsen wie «komplexes Umfeld», «aktuelle Herausforderungen», «Konsolidierung der Errungenschaften» und «neuer Schwung» wird beschönigend verschleiert, was Maire in seinem letzten Jahr hätte in Angriff nehmen müssen: die Durchsetzung eines Sparprogramms, in dem es nur noch darum geht, zu retten, was zu retten ist.

Unter Maires Leitung gedieh die Cinémathèque: «Ich habe das bedeutende Wachstum des Schweizer Filmarchivs begleitet, gekennzeichnet durch den Bau des neuen Forschungs- und Archivierungszentrums in Penthaz, das 2019 eröffnet wurde, und durch den Ankauf des Kinos Capitole durch die Stadt Lausanne im Jahr 2010, gefolgt von dessen Renovierung und Erweiterung, die 2024 abgeschlossen war», fasst er zusammen. Die Anzahl der Mitarbeiter:innen der Institution – die auch in Zürich präsent ist – hat sich seit 2010 mehr als verdoppelt, fügt er hinzu.

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Frédéric Maire blickt auf 16 erfolgreiche Jahre als Leiter der Cinémathèques zurück. (Bild: Carine Roth/cinematheque.ch)

Voller Einsatz für das Filmschaffen

Die Cinémathèque Suisse gilt heute als eines der wichtigsten Filmarchive Europas und bemüht sich erfolgreich, ihre Schätze einem breiten Publikum zugänglich zu machen. Hunderttausend Filme (!) aus der ganzen Welt sind im Archivierungszentrum in Penthaz gespeichert, zweieinhalb Millionen Fotografien, fünf Millionen Presseausschnitte, fünfhunderttausend Filmplakate und zehntausend Drehbücher. Zum Ordnen und Sichern dieser Schätze, aber auch zur Schaffung des öffentlichen Zugangs mittels 1000 Vorführungen pro Jahr, arbeiten in Penthaz, Lausanne und Zürich hundert Personen für die Cinémathèque Suisse.

Dass Maire keine Lust hat, in seinem letzten Jahr den Sparhammer anzusetzen, ist nur allzu verständlich. Er hat sein Leben lang einen vollen Einsatz für das Filmschaffen geleistet, als Filmer, Journalist, Veranstalter, von 2006 bis 2009 als Direktor des Filmfestivals Locarno und schliesslich als Leiter der Cinémathèque Suisse. 1991 war er Mitbegründer des Neuenburger Filmnetzwerks Passion Cinéma und 1992 Mitbegründer und Co-Leiter des Filmclubs für Kinder La Lanterne Magique/Zauberlaterne, der Kindern von sechs bis zwölf Jahren in Vorstellungen ohne Begleitung Erwachsener einen Zugang zur Kinowelt eröffnet und heute mit achtzig Clubs in der ganzen Schweiz vertreten ist. Perfekter Bilingue dank seiner italienischen Mutter, war er ab 1986 während mehr als zwanzig Jahren hauptsächlich für das Filmfestival Locarno tätig.

In der Ära Maire wurde von 2010 bis 2019 das neue Forschungs- und Archivierungszentrum der Cinémathèque Suisse in Penthaz gebaut, das auf 13'000 Quadramentern, hauptsächlich unterirdisch, die besten Möglichkeiten zur dauerhaften Konservierung der Filme bietet. Das hausinterne Labor ermöglicht über die Restaurierung hinaus auch Digitalisierung und neben einem Kinosaal umfasst das Zentrum einen Ausstellungsraum, eine Mediathek, Konsultations-, Visionierungs- und Arbeitsräume für Studierende, Forschende sowie Film- und Archivleute. Beste Nachbarschaft also für die Studierenden, Lehrenden und Forschenden der Section d’histoire et esthétique du cinéma der Universität Lausanne. Mit ihr ist die Cinémathèque partnerschaftlich verbunden und durch das Netzwerk Cinéma CH der Universitäten Lausanne und Zürich auch mit dem Seminar für Filmwissenschaften der Universität Zürich. Dieses Netzwerk pflegt zudem Partnerschaften mit der Università della Svizzera italiana (Lugano), der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und der Haute école spécialisée de Suisse occidentale (HES-SO, Lausanne/Genf).

Kulturpolitische Kühnheiten

Die wichtigste Partnerschaft der Cinémathèque Suisse bildet aber seit ihren Ursprüngen die Stadt Lausanne. 1948/49 hat die Stadt unter dem kurzen Stadtpräsidium Pierre Grabers, ohne die Unterstützung des Kantons (!), das in Basel gegründete Schweizerische Filmarchiv übernommen. Eine kühne kulturpolitische Tat, ähnlich jener der Entgegennahme der Art-Brut-Sammlung von Jean Dubuffet 1971 zwecks der Gründung der Collection de l’Art Brut und jene der Ansiedlung des Ballet Béjart in Lausanne 1987. Solche kulturpolitische Wagnisse haben sich im Lauf der Jahre immer wieder ausgezahlt.

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Das Casino Montbenon ist seit 1981 Sitz der Cinémathèque. (Bild: LT/Muris Camo)

Der Filmkritiker und -historiker Freddy Buache baute von 1951 bis 1996 eine Sammlung mit internationalem Renommee auf. Bis 1981 musste Buache die Filmvorführungen der Cinémathèque Suisse an verschiedenen Projektionsstätten durchführen, meist in der Aula des Collège de Béthusy. Seine Filmeinführungen – kleine Vorlesungen zur Filmgeschichte – sind legendär geworden. 1981 konnte die Cinémathèque Suisse im restaurierten Casino Montbenon zwei Kinosäle und Büroräume belegen.

Nach der Berufung Maires als Leiter der Cinémathèque Suisse erwarb Lausanne 2010 das Kino Capitole, das Lucienne Schnegg ein halbes Jahrhundert als unabhängiges Unternehmen aufrechterhalten hatte. Es stand der Cinémathèque Suisse zunächst für die Veranstaltung grosser Kinoereignisse zur Verfügung, bis die Stadt 2020 die vollständige Restaurierung dieses grössten historischen Kinobaus der Schweiz ermöglichte. Neben dem historischen Saal, der Salle Freddy Buache, bot das Gebäude auch Platz für den Einbau eines zweiten kleineren Kinosaals, der Salle Lucienne Schnegg. Bei der Einweihung hob Maire die Tatsache hervor, dass klassische Kinobauten im Unterschied zu anderen Bauwerken der Kulturgeschichte bis in die jüngere Zeit nicht der Restaurierung wert zu sein schienen – eine Nachwirkung der Tatsache, dass die Filmkunst lange Zeit als Teil der Populärkultur von der schützenswerten Hochkultur unterschieden wurde. Um so lobenswerter ist nun die sorgfältige Restauration des Capitole im Stil der grossen Kinos des 1950er Jahre. So bewahrt die Cinémathèque mit diesem «Haus des Films» auch ein Stück Kinogeschichte.

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Das Kino Capitole wurde im Stil der grossen Kinos der 1950er Jahre restauriert. (Bild: zvg)
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Der historische Saal Freddy Buache im Kino Capitole. (Bild: zvg)



Home: Plattform für virtuelle Ausstellungen

Seitdem 2002 das Filmarchiv der katholischen und protestantischen Kirche in die Cinémathèque Suisse eingegliedert wurde, hat diese in Zürich ein zweites Standbein für Forschung und Archivierung. Auf der in Zürich entstandenen Plattform Home – der Name ist eine Hommage an den gleichnamigen Film von Ursula Meier von 2008 – präsentiert die Cinémathèque Suisse nun virtuelle Ausstellungen zur Geschichte des Schweizer Films. Im März wurde die gegenwärtige Ausstellung zum frühen feministischen Film der Schweiz aufgeschaltet. Sie korrigiert das Bild, wonach es erst in jüngerer Zeit erfolgreiche Filmemacherinnen in der Schweiz gibt, und zeigt, dass schon in den 1970er/80er Jahren eine ganze Reihe von Filmen politisch engagierter Frauen die gesellschaftspolitische Entwicklung der Schweiz vorangetrieben haben. Die Ausstellung präsentiert digitalisierte Quellen aus der Sammlung der Cinémathèque und Videointerviews mit Regisseurinnen wie Gertrud Pinkus, Marianne Pletscher, Lucienne Lanaz, Danielle Jaeggi und Isa Hesse-Rabinovitch, die 2023 und 2024 realisiert wurden.

Am 19. März empfing die Cinémathèque Suisse zur Eröffnung der Plattform Home in Lausanne die 88jährige Filmpionierin Lucienne Lanaz zusammen mit der 31jährigen Julie Frund-Pozner zur Präsentation ihres gemeinsamen Films «Le Théâtre magique d’ Éliane». Der Film zeigt die Arbeit der Jurassierin Éliane Walther, die mit ihrem «petit théâtre sur banc» seit 2008 kleine Gesamtkunstwerke für vier- bis sechsjährige Kinder gestaltet. Sie erzählt Geschichten und inszeniert sie zugleich als Marionetten- und Objekttheater, indem sie an ihren Händen selbstgebastelte kleine Figuren durch ebenso realistisch gestaltete wie zauberhaft wirkende Landschaften führt, in verschiedenen Stimmen sprechen lässt und mit Gesang- und Geräuschkulisse begleitet – ein Spiel, ganz wie Kinder es selbst gerne spielen. Magisch erscheinen im Film nicht nur die Vorstellungen der Künstlerin, sondern auch deren Vorbereitungsarbeiten, die jeweils mindestens zwei Jahre dauern.

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Éliane Walther schafft mit ihrem «petit théâtre sur banc» kleine Gesamtkunstwerke. (Bild: zvg)

Ab September 2025 wird auf der Plattform Home dann die virtuelle Ausstellung «Stadt des Kapitals: Zürcher Gebrauchsfilme» zu sehen sein. Bis dahin wird hoffentlich eine Nachfolge für Maire gefunden sein, die sich mit «neuem Schwung» nicht nur auf die «Konsolidierung der Errungenschaften» beschränkt. Was sicher bleiben wird, sind die grossen Filmzyklen wie gegenwärtig die Retrospektiven zu Kathryn Bigelow, Alain Tanner und Raoul Peck (siehe Kasten).

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«Ernest Cole: Lost and Found» von Raoul Peck – ein filmisches Meisterwerk

In Zusammenarbeit mit dem Festival Visions du Réel, an dem Raoul Peck als Ehrengast mit mehreren Meisterkursen teilnahm, konnte die Cinémathèque Suisse diesen grossen haitianische Dokumentarfilmer am 9. April zur Vorführung des Films «Ernest Cole: Lost and Found» in Lausanne empfangen. Dieser erzählt mit der persönlichen Geschichte Coles auch jene der Apartheid in Südafrika und der rassistischen Diskriminierung in den USA. Ernest Cole wurde 1940 in Eersterust, einer Township für «Farbige» am nördlichen Stadtrand von Pretoria geboren. 1953, als das Apartheid-Regime die Bildung für afrikanische Jugendliche mit dem Bantu Education Act auf ein Minimum zu beschränken suchte, verliess er die Schule um seine Schullaufbahn auf dem Korrespondenzweg an der Wolsey Hall in Oxford fortzusetzen. Er interessierte sich schon als Kind fürs Fotografieren und begann seine Laufbahn als Fotograf, als ein Priester ihm eine Kamera schenkte. Als Assistent von Jürgen Schadeberg liess er sich, wiederum auf dem Korrespondenzweg, am New York Institute of Photography weiterbilden, politisierte sich zugleich im Kreis von Journalisten, Fotografen, Jazzmusikern und politischen Aktivisten der Anti-Apartheid-Bewegung und begann das Leben der diskriminierten, unterdrückten und ausgebeuteten afrikanischen Bevölkerung als Fotograf zu dokumentieren. 1966 zog er nach New York, um dort mit seinem Fotobuch «House of Bondage» die rassistische Realität seines Landes der Weltöffentlichkeit vor Augen zu führen. Das Buch wurde in Südafrika verboten, und Cole konnte nicht mehr dorthin zurückkehren. In seiner Hoffnung, sich in den USA als Fotograf weiter entfalten zu können, wurde er herb enttäuscht. Er sah sich eingeschränkt auf die Rolle eines Fotografen der schwarzafrikanischen Community, verlor seine schöpferische Energie, rührte keine Kamera mehr an, lebte verarmt und in völliger Vergessenheit und starb mit 49 an Krebs – im selben Jahr, in dem Nelson Mandela in seiner Heimat aus einer 27-jährigen Gefangenschaft entlassen wurde. Erst 2017 wurden in einem schwedischen Banksafe 60'000 Foto-Negative Coles wiedergefunden. Seine Fotos werden heute zu einem Wert gehandelt, der ihn zum Millionär gemacht hätte. Mysteriös bleibt sowohl, wie die Fotos in den Safe gelangt sind, wie auch, aus welchem Grund und durch wessen Veranlassung sie 27 Jahre nach seinem Tod wieder auftauchten.

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