Wege zur Mehrsprachigkeit als individuelles, veränderliches Kulturgut
Im September sprach sich der Zürcher Kantonsrat gegen das Frühfranzösisch aus. Im Frühling 2025 beschloss der Kanton Appenzell Ausserrhoden, die Französischlektion in die Oberstufe zu verschieben. Auch in den Kantonen St. Gallen und Thurgau steht das Frühfranzösisch auf der Kippe. Christine Le Pape Racine legt in diesem Essay Argumente für den Fremdsprachenunterricht in der Unterstufe dar.
In der Schweiz ist niemand klar einsprachig. Nur schon die Dialekte sind neben der Schriftsprache Deutsch allgegenwärtig. Alle Menschen erfahren aufgrund ihres Umfeldes zwei oder noch mehr Sprachen.
Aktuell wird in der deutschsprachigen Schweiz intensiv debattiert, ob Kinder ab 11/12 Jahren beim gleichzeitigen Lernen von zwei Fremdsprachen in der Schule, eine davon eine Landessprache, nicht überfordert seien. Umfragen unter Schüler/innen bestätigen, dass mind. 75 Prozent, sogar bis 84 Prozent von ihnen sich nicht überfordert fühlen.
Was heisst das nun? Man muss Sprachen nicht hintereinander lernen, auch nicht ganz getrennt, und sie schaden einander nicht, im Gegenteil: Sie befruchten sich gegenseitig.
Mit Sprachen sind auch immer Kulturen verbunden, aktuelle und vergangene. Kenntnisse darüber bereichern das Leben, machen es spannend und fördern das gegenseitige Verständnis.
Bereits für die Definition von Sprache und die vielfältigen Aspekte ihrer Betrachtungsweise liessen sich Bücher füllen, erst recht, wenn man über Mehrsprachigkeit schreiben möchte. In diesem Artikel werden für die Sprachendidaktik grundlegende Erkenntnisse dargelegt, die auch für jede Person, die über ihre eigene Mehrsprachigkeit nachdenkt, hilfreich sein können.
Das mehrsprachige Umfeld
In den letzten Jahrzehnten hat sich die Sprachenlandschaft in der Schweiz stark verändert, im Sinne von einer rasanten Zunahme mehrsprachiger Menschen. Gemäss dem Bundesamt für Statistik geben im Jahr 2024 19,1 Prozent der 15- bis 24-jährigen Menschen an, regelmässig nur eine Sprache zu verwenden, 41 Prozent zwei Sprachen und 39,1 Prozent drei Sprachen.
Der Anteil der Lernenden mit anderer Erstsprache in der obligatorischen Schule hat von 1999/2000 21,8 Prozent bis 2023/2024 auf 35,4 Prozent zugenommen. Es ist dabei zu unterscheiden, was Erstsprache ist und was Schulsprache. Erstsprache ist diejenige, die das Kind zuerst lernt, die Umgangs-, Familien- oder Alltagssprache, mit konkreterem, einfachem Wortschatz. Schul-, Schrift- oder Bildungssprache mit komplexerem oder z. B. berufsspezifischem Wortschatz lernt man in einer längeren Aus- oder Weiterbildung.
Drei fundamentale Erkenntnisse für das Sprachenlernen
Um die aktuellen didaktischen Vorgehensweisen im Sprachenunterricht (Mehrsprachigkeitsdidaktik) zu verstehen, müssen vor allem drei Grundeinsichten oder Erkenntnisse bekannt sein, die im Folgenden erklärt werden.
• Das mehrsprachige Repertoire
Jeder Mensch baut in seinem Gehirn, in einem Gesamtsystem, ein sogenannt mehrsprachiges Repertoire auf. Darunter versteht man gemäss der Sprachdidaktik die «Gesamtheit aller sprachlichen Ressourcen (Wortschatz und Grammatikkenntnisse) oder Kompetenzen, die einem Menschen zu einem bestimmten Zeitpunkt zur Verfügung stehen. Diese Ressourcen sind asymmetrisch (in jeder Sprache anders), veränderbar, durchlässig, haben keine starren Grenzen». Je nach Lebenssituation verändert sich dieses System im Laufe der Zeit. Die eine Sprache wird weniger gebraucht, eine andere viel häufiger, die eine im Alltag, die andere im Beruf usw. Die Kompetenzen verändern sich oft auch im mündlichen oder schriftlichen Gebrauch.
Wortschatz und Grammatiksystem
Um eine Sprache anwenden zu können, braucht es vor allem Wortschatz. Das Kleinkind lernt zuerst konkrete, also sichtbare, hörbare oder greifbare Dinge in der nahen, dann auch weiteren Umgebung. Es baut die Alltagssprache oft bereits mehrsprachig auf. Indem die Eltern und die anderen Beziehungspersonen den Kindern viele Dinge beim Namen nennen, auch Gefühle usw., legen sie den Grundstein für späteres Lernen. Mit Namen sind Begriffe verbunden. Wenn es z.B. in einer Sprache weiss, was «Eisenbahn» bedeutet, weiss es das Kind auch in einer anderen Sprache und muss in anderen Sprachen nur noch die Lautung lernen, nicht mehr den Begriff an sich. Im Laufe des Lebens baut sich der individuelle Wort- oder Begriffsschatz mehr oder weniger weiter auf, ist aber nie abgeschlossen, er übersteigt das Fassungsvermögen eines Menschen. Dieses kann viele Wissensgebiete umfassen oder auch einzelne vertiefen, je nach beruflicher oder privater Tätigkeit. Das Grammatiksystem einer Sprache hingegen ist endlich. Man kann es abschliessend lernen.
Das vernetzte Wissen
Die allgemeine Lernpsychologie geht davon aus, dass jede Art von neuem Wissen und Können im Gehirn nur aufgebaut (konstruiert) wird, wenn es an «Andockstellen» in Verbindung treten kann mit bereits Bekanntem. Gemäss dem alles mit allem vernetzten Synapsensystem, wird dieses System immer dichter, wenn neues Wissen eingebunden wird – mit noch mehr «Andockstellen», an denen wiederum neues Wissen einfacher angeknüpft werden kann. Lernt man eine neue Sprache, ist es wichtig, zu wissen, wofür man sie lernt. Neben minimaler Alltagssprache braucht ein Mechaniker vorerst Begriffe aus der Mechanik und ein paar Verben, um funktionieren zu können. Dieses Wissen reicht ihm, auch wenn er Fehler macht beim Sprechen. Eine Übersetzerin hingegen muss die Grammatik perfekt beherrschen. Den ganzen Sprachwortschatz kann aber auch sie nie lernen, denn «Sprache ist grösser als wir, niemand kann sie je beherrschen, wir können sie nur bewohnen», wie André-Jean Racine sagte.
Es ist eine Illusion, in der Volksschule Perfektion erreichen zu wollen. Es geht immer um eine Annäherung, die vor allem eintritt, wenn man fürs Lernen motiviert ist.