«Ich möchte im Denken der Leute hier etwas verändern»

Das Fotobuch «Spuren der Flucht» von Klaus Petrus vereint die eindrücklichsten Bilder aus seiner Langzeitrecherche über die Fluchtrouten auf dem Balkan. Petrus porträtiert Geflüchtete jenseits von den gängigen Stereotypen und Klischees.

Geflüchtete in einem verfallenen Gebäude an der serbisch-ungarischen Grenze, Februar 2019.
Geflüchtete in einem verfallenen Gebäude an der serbisch-ungarischen Grenze, Februar 2019. (Bild: Klaus Petrus)

2016 machte sich Klaus Petrus, Fotojournalist und Reporter aus Biel, erstmals daran, die Fluchtrouten durch den Balkan zu dokumentieren, nachdem 2015 im Zuge der «Flüchtlingskrise» Millionen von Menschen aus den arabischen Staaten und Nordafrika Richtung Europa aufbrachen. Klaus Petrus suchte das Gespräch mit Menschen, die abseits der offiziellen Flüchtlingscamps während Wochen, Monaten und - wie sich herausstellen sollte - Jahren in Zelten, verlassenen Häusern und Ruinen leben.

Mit Bildern, die von Hoffnung, Freude, Verzweiflung und der Gewalt der Grenzpolizei erzählen, gewann Petrus 2022 den Swiss Press Photo Award. Nun hat er mit «Spuren der Flucht» eine Auswahl der eindrücklichsten Bilder in einem Fotobuch herausgebracht.

Petrus verzichtet darin auf Seitenzahlen, Bildlegenden und weiterführende Texte. Einzig der Umschlag, der sich als Poster auffalten lässt, liefert beidseitig bedruckt Textfragmente: Auszüge aus einem Chat, Zitate von Geflüchteten, eine Reportage und Fakten rund um Migration. Die Fragmente geben eine kleine Orientierungshilfe und verstärken gleichzeitig das Gefühl des Verlorenseins in einem Niemandsland. Die Betrachter:in wird auf sich selbst zurückgeworfen. Petrus Bilder unterlaufen gängige Erwartungshaltungen und offenbaren so die Stereotypen, die oft unbewusst den Blick auf Geflüchtete und Migrant:innen als «die Anderen» prägen.

Petrus, der 2012 seinen Job als Professor für Sprachphilosophie an der Universität Bern an den Nagel hängte und neben seiner freiberuflichen Tätigkeit als Fotojournalist seit sechs Jahren beim Strassenmagazin Surprise arbeitet, beschäftigt sich immer wieder mit sozial Benachteiligten. «Ich habe mich schon früh für Grenzen, Mauern, Ränder und all die Phänomene, die mit Eingrenzung, Abgrenzung und Ausgrenzung zu tun haben, interessiert», so Petrus, «nicht nur für physische Grenzen, sondern auch für die Mauern im Kopf.» So sei für ihn schnell klar geworden, dass im Zuge der Migrationskrise die Handhabung der Grenzen und der Umgang mit den Menschen, die am Grenzübertritt gehindert werden, eines der grossen Themen der nächsten Jahre werde.

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Eine besondere Freundschaft: Riaz mit seinem Reh Soya. (Bild: Klaus Petrus)

Erweckungsmoment mit Amar Z.

Eine Begegnung mit Amar Z. aus Pakistan, den er 2017 in Horgoš an der serbisch-ungarischen Grenze trifft, wird für Petrus zu einer Art Erweckungserlebnis, wie er auf dem Umschlag schreibt. Der Ingenieurwissenschaftler, Sohn einer Lehrerin und eines Buchhändlers, floh 2015 vor den Taliban und liess dabei Frau und Tochter zurück. Als Petrus Amar Z. für ein Bild fragt, hüllt sich dieser in eine Wolldecke und sagt: «Siehst du, wir haben gelernt für euch zu posieren.» Damit wird für Petrus klar, dass er einen anderen Zugang zum Thema finden muss. Er reist fortan immer wieder auf den Balkan, an die gleichen Orte den Grenzen entlang, auch wenn dort gerade «nichts los ist». «Das war mein Eintrittsticket, um einen neuen Blickwinkel aufs Thema zu bekommen und die Situation der Menschen an den Grenzen auf eine andere Art zu dokumentieren», so Petrus. Das Porträt von Amar Z. findet sich übrigens nur kleinformatig auf dem Umschlag. Amar Z. blickt vor einer abgeblätterten Mauer ernst in die Kamera, die Wolldecke als Symbol für die Sicherheit und die Wärme, die ihm fehlt. Ein perfektes Bild für eine Hilfsorganisation.

Petrus nähert sich behutsam den Menschen. «Das Vertrauen der Leute zu gewinnen, ist das Wichtigste, sonst komme ich gar nicht so nahe an sie heran». Er führt lange Gespräche mit ihnen, bevor er sie fotografiert. Dabei registriert er ihren Ausdruck, ihre Besonderheiten, die er später visuell festhält. Oft kommt er nur mit wenigen Bildern nach Hause. Dabei ergänzt er die Bilder mit Text. Für ihn ist gerade das Zusammenspiel von Bild und Text reizvoll. Er sucht nach spannenden Geschichten, die relevant sind, aber auch widersprüchlich, die herausfordern und Reaktionen hervorrufen.

Die Porträtierten in seinen Reportagen sind mehr als nur Opfer. Petrus ist einerseits Zeuge von Willkür, Ungerechtigkeit und Gewalt. Andererseits dokumentiert er aber auch den Alltag der Geflüchteten, der u.a. aus Kochen, Fussball- oder Cricketspielen besteht. Und auch Tiere tauchen auf den Bildern immer wieder auf. Da ist ein Taubenschwarm, der um eine Ruine fliegt, in der Bildmitte die Rückenansicht eines Menschen. Da sind Hunde, welche die Geflüchteten begleiten und das Reh Soya. Diese Geschichte erzählt Petrus auf dem Umschlag – wie der Pakistani Riaz das Reh aus einem Stacheldraht rettet, und das ungewöhnliche Paar von da an unzertrennlich ist, bis auch Riaz die Flucht «gelingt» und er Soya zurücklassen muss. Dass Riaz für ein Schleppernetz arbeitet, erfährt Petrus erst, als er ihn in Roskilde (Dänemark) trifft, um seine Geschichte niederzuschreiben.

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Gewalttätige Übergriffe der Grenzpolizei haben System. (Bild: Klaus Petrus)

Systematische Gewalt

Fast schon idyllisch mutet das Bild an, das eine Gruppe junger Männer an einem Fluss, inmitten von sommerlichen Laub- und Nadelbäumen zeigt, im Hintergrund ein Kirchturm. Eine kurze Verschnaufpause. Womöglich Erholung von den Wunden, welche die Grenzpolizei ihnen zugefügt hat. Ein Bild zeigt notdürftig in Verbandsmaterial eingewickelte Daumen. Der rechte Daumen viel kürzer als der linke. Auf einem anderen Bild ist ein Arm zu sehen, der Geschwülste aufweist. «Die Krätze?» «Nein. Zigarettenstummel», sagt Petrus.

«Bald schon hat sich gezeigt, dass gewalttätige Übergriffe der Grenzpolizei keine Einzelfälle sind, sondern System haben», so Petrus. Solche Läsionen von brennenden Zigaretten trügen viele Menschen entlang der Grenzen. Spätestens ab 2017 verfolgten Menschenrechtsorganisationen die alarmierenden Berichte der Journalist:innen. «Gewisse Regierungen mussten zwar Stellung nehmen, aber das sich aufgrund journalistischer Intervention etwas bewegt, passiert höchst selten», so Petrus. «Für die Leute vor Ort kann man fast nie etwas machen, das ist auch nicht mein Anspruch. Ich möchte im Kopf der Leute hier etwas bewegen», so Petrus. «In Kriegsgebieten wie der Ukraine, Somalia oder Palästina sind wir Journalisten oft die einzigen, die nicht helfen, die den Leuten einfach eine Story abknüpfen und Bilder machen». Zum Glück seien andere da, die helfen, so Petrus.

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Auch Frauen sind unter den Geflüchteten abseits der offiziellen Flüchtlingscamps. (Bild: Klaus Petrus)

Obwohl die Flucht besonders für Frauen und Kinder gefährlich ist, sind auch sie im Bildband vertreten. Da ist ein junger Mann, der mit seiner Grossmutter unterwegs ist. Oder ein Bub, der mit schneeweissen Zähnen in die Kamera lacht. Und jene Frau, deren dunklen Augen funkeln, während andeutungsweise ein Lächeln ihre Lippen umspielt.

Die Porträtierten schwanken zwischen Hoffnung, Verzweiflung und Heimweh. Viele bleiben unterwegs stecken, probieren während Monaten und Jahren alternative Fluchtrouten aus, im Bewusstsein, dass Europa wohl doch nicht das gelobte Land ist, das sie sich erträumt hatten, gefangen auch in ihrer Scham, die sie davon abhält, zu ihren Familien zurückzukehren. Dafür könnte jenes Bild stehen, das eine Gruppe junger Männer in einer Ruine zeigt. Der eine von ihnen trägt ein Baseballcap, den Schirm zur Seite, die Hände vor der Brust verschränkt, in der einen Hand eine Zigarette. Ein Lichtstrahl, der durch den Türrahmen dringt, flutet den Raum mit Licht.

«Spuren der Flucht» erlaubt einen Blick in eine Welt, die für die meisten von uns nur dunkel umrissen ist und viele Stereotypen evoziert. Wer riskiert, genau hinzuschauen, entdeckt darin das Unerwartete im Vertrauten und wiederum die Abwesenheit von Erwartetem. «Alles was nicht erwartbar ist, lässt den Menschen hervorkommen und damit entsteht automatisch auch Empathie», so Petrus.

Klaus Petrus: «Spuren der Flucht». Hardcover, 192 Seiten, 145 Bilder, Aswad 2025. Das Buch kann hier bestellt werden: spurenderflucht.ch

Ausstellung «Spuren der Flucht» im Schloss Köniz im Rahmen der Aktionswoche der Stadt Bern gegen Rassismus, 14. bis 25. März. Vernissage: 14. März, 18.00 Uhr

kulturhof.ch

Klaus Petrus-©Gabrielle Christen
Klaus Petrus

Wurde 1967 in Naters geboren. Bis 2012 war er Professor für Sprachphilosophie an der Universität Bern. Seither arbeitet er als Fotojournalist und Reporter und ist Co-Leiter des Strassenmagazins Surprise. Er berichtet über Armut, Ausgrenzung, Migration und Kriege aus der Schweiz, dem Balkan, Nahen Osten sowie der Subsahara. Seine Arbeiten erscheinen u.a. in NZZ am Sonntag, WOZ, Tagesanzeiger, FAZ, Süddeutsche Zeitung, Freitag, Beobachter, Annabelle und Surprise. «Spuren der Flucht» wurde 2022 mit dem Swiss Press Photo Award ausgezeichnet. Für die Fotoserie über Erntehelfer im Berner Seeland erhielt Petrus 2023 ebenfalls den Swiss Press Photo Award. An den Discovery Days gewann er den Hauptpreis für Storytelling. 2023 erschien sein Buch «Am Rand» mit Reportagen und Porträts über Menschen am Rand der Gesellschaft. (pd)

klauspetrus.ch

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