Generationenwechsel und Zeitenumbruch
Konstanz und Veränderung im Verlagswesen der Suisse romande.
Vor zwanzig Jahren, als sich die Digitalisierung der Medien deutlicher bemerkbar machte, wurde intensiv über die Zukunft des Buches gesprochen. Gerade in kleineren Regionen wurde die Entwicklung mit besonderer Sorge verfolgt. Michel Moret, der Ende 2023 verstorbene Verlagsleiter der Editions de l’Aire, versicherte 2005 in einer privaten Essensrunde, in der Suisse romande werde es in ein bis zwei Jahrzehnten nur noch zwei bis höchstens drei literarische Verlage geben und der seine habe die besten Chancen, dereinst zu den überlebenden zu gehören. Tatsächlich gibt es die Editions de l’Aire immer noch, aber auch das Verlagswesen der ganzen Region ist nicht verschwunden, sondern noch vielfältiger geworden.
Literarische Leidenschaft
Das Medium Buch, dem viele in den Nullerjahren keine grosse Zukunft mehr gaben, hat sich als robuster erwiesen als etwa das Tonband, die Kassette, die CD und die DVD, und es wird wohl auch USB-Sticks und Clouds überleben. Das Lesepublikum in der Suisse romande ist weiterhin gross und dem Buchhandel recht treu geblieben. Die hiesige Buchproduktion und -distribution wird seiner literarischen Neugier aber nur weiterhin gerecht werden können, wenn die Entscheidungsträger:innen in Politik und Gesellschaft die nötige Sorge zur Erhaltung der Verlage und des Buchhandels tragen. Nur so kann sich das Buch auch in einer kleinen Region wie der Suisse romande weiterhin gegenüber den GAFA-Riesen behaupten.
Was sich in grossen Zyklen stark verändert, ist die jeweilige Konstellation des Verlagswesens.
Der Eintrag «Verlage» vom März 2015 im Historischen Lexikon der Schweiz lässt für die Suisse romande im 20./21. Jahrhundert – ähnlich wie für die Deutschschweiz – zwei Perioden erkennen: die erste von den 1930er/40er bis in die 70er Jahre, die zweite ab den Letzteren bis heute. Ihre Dauer von 40 bis 50 Jahren entspricht der Zeitspanne, in der es einem Menschen möglich ist, sich beruflich zu betätigen. Verlage entstehen und verschwinden mit Persönlichkeiten, die für die Sache mehr Begeisterung entwickeln als für hohe Gewinne. Sie entsprechen dem liberalen Ideal des unternehmenden Menschen im 18./19. Jahrhundert, sind jedoch heute entgegen einem doktrinär gewordenen Liberalismus auf öffentliche Gelder angewiesen, um gegenüber der Monopolisierung ihres Gewerbes ihren unternehmerischen Elan zum Erfolg zu bringen. Problematisch wird diese Staatshilfe nur, wenn sie an andere ökonomische Interessen gebunden wird.
Was geschieht, wenn selbst indirekte Hilfen wie jene öffentlicher Bibliotheken, abgebaut werden, zeigt gerade jüngst die drohende Schliessung der Münstergass-Buchhandlung in Bern.
Menschen mit literarischer Leidenschaft haben auch das Verlagswesen der Suisse romande in den vergangenen vierzig Jahren geprägt. Ihre Verlagsgründungen geschahen vor dem Hintergrund des Kalten Kriegs und verdankten sich vor allem der Aufbruchbewegung ab Mitte der 1960er Jahre. Nun sind die damaligen Gründer:innen in Pension gegangen oder gestorben, und eine neue Generation hat ihr Erbe angetreten.
Tod und Hinterlassenschaft
Der Schriftsteller und gebürtige Serbe Vladimir Dimitrijević war der erste Vorkämpfer der neuen Verlagsszene in der Suisse romande und wurde 2011 auch zum ersten, dessen Tod seinen Verlag zu einer Neuorientierung zwang.
Er hatte 1966 L’Age d’homme gegründet und mit der Reihe Classiques Slaves zu einer der wichtigsten Adressen für Literatur aus dem Ostblock gemacht, jener Literatur, «die der ‹sozialistische Realismus› nicht zu unterdrücken vermochte», wie der Verlag auf seiner Webseite festhält. Nach dem Mauerfall bewegte der serbische Nationalismus des Verlegers jedoch manche seiner Autorinnen und Autoren und einen Teil seines Lesepublikums dazu, sich von ihm abzuwenden. Seine Hinterlassenschaft von etwa 4500 Titeln zeugt aber weiterhin von seiner ebenso unerschöpflichen wie erfolgreichen Hingabe an die Literatur. Doch sein Verlagsmodell musste aufgegeben werden: 2018 sah sich seine Tochter Andonia Dimitrijević gezwungen, 600 Titel der Classiques Slaves an die Editions Noir sur Blanc zu verkaufen, und die Reihe Poche suisse mit 300 Titeln an den Trägerverein der neuen Taschenbuchedition Florides. Ob L’Age d’homme über den Vertrieb seines reichhaltigen bisherigen Katalogs hinaus wieder zu einer Adresse der Gegenwartsliteratur werden kann, bleibt ungewiss.
Michel Moret, Bauernsohn und gelernter Postbeamter, wandte sich 1968 aus Leidenschaft für die Literatur zunächst dem Buchhandel zu und wurde 1978 zum Verleger, indem er die Leitung der damals vor sich hin dümpelnden Edition de l’Aire übernahm. Er machte diesen Verlag zu einer Anlaufstelle für eine Vielzahl gestandener und beginnender Autorinnen und Autoren, und seine Reihe L’Aire bleue wurde ebenso legendär wie er selbst.
Ohne Rücksicht auf Verluste bemühte er sich vor allem darum, so viel wie möglich zu produzieren, kümmerte sich dabei aber kaum um die Begleitung der Bücher auf dem Markt, hielt Verträge mit Autor:innen nicht ein und machte Schulden – ein typischer Vertreter seiner Generation, der nicht merkte, dass auch der Buchhandel im Zeitalter der Aufmerksamkeitsökonomie anders funktionieren muss. Es genügt nicht mehr, wie zur Zeit des Verlagskapitalismus des 18. Jahrhunderts, dass ein Verlag die Produkte handwerklicher Herkunft sammelt und vertreibt, vielmehr hängt heute alles davon ab, dass diese Produkte öffentlichkeitswirksam begleitet werden, mit Medienpräsenz und möglichst vielen Veranstaltungen. Dies setzen sich nun Morets junge Nachfolger:innen zum Ziel, Lucie Tardin und Nathan Maggetti, und wollen dafür die Jahresproduktion von bisher über vierzig auf fünfzehn Titel beschränken – immer noch viel für einen mittleren Verlag einer kleinen Region.
Gleitender Wechsel
Sanfter verlief der Generationenwechsel in zwei anderen wichtigen Verlagen der Westschweiz: In den Editions Zoé übergab 2011 die damals einundsiebzigjährige Marlyse Pietri die Verlagsleitung an ihre Mitarbeiterin Caroline Couteau, blieb aber verantwortlich für Übersetzungen aus der deutschsprachigen Literatur, bis sie diese Aufgabe 2019 an die Übersetzerin Camille Luscher übergab. Pietri hatte aus dem 1974 gegründeten Nischenbetrieb den führenden Literaturverlag der Westschweiz gemacht. Couteau konnte fugenlos daran anknüpfen und führte eine grössere Internationalisierung des Sortiments und eine noch stärkere Präsenz in Frankreich herbei. Der Verlag hat sich auch dadurch ausgezeichnet, dass er seinen Autor:innen treu blieb – was in Frankreich weniger üblich ist – und so zum Beispiel fast das gesamte Prosawerk von Markus Werner und Matthias Zschokke auf Französisch veröffentlichte. Um so erstaunlicher war es kürzlich, dass er die Übersetzung von Zschokkes jüngstem Roman «Der graue Peter», der 2023 auf der Shortlist des Schweizer Buchpreises stand, nicht mehr publizieren wollte. Ein Bruch mit der bisherigen Leitlinie?
In den Editions d’en bas übergab Jean Richard die Verlagsleitung in den letzten Jahren schrittweise an Pascal Cottin und Antonin Gagné. Der 1976 von Michel Glardon gegründete Verlag trägt seine programmatische Orientierung im Namen: ihm geht es um Publikationen, ob im Sachbuch oder in der Belletristik, die den Blick «von unten» auf heutige politische und soziale Entwicklungen richten. Richard übernahm 2001 die Verlagsleitung, gab der Präsenz literarischer Werke ein grösseres Gewicht und zeigte dabei ein deutliches Faible für experimentelle Texte und Lyrik sowie für Übersetzungen aus dem Deutschen und Italienischen und aus Sprachen der ganzen Welt, oft in zweisprachigen Ausgaben.
Cottin und Gagné setzen diese Linie fort und bemühen sich noch stärker als Richard um die Öffentlichkeitswirksamkeit der Bücher und die Verlagspräsenz in Frankreich, dem Herkunftsland Cottins.
Offene Zukunft
Ungewiss bleibt die Zukunft des vierten grösseren literarischen Verlags der Suisse romande. 1986 kündigte ein damals erst dreissigjähriger Bibliothekar schon mit dem Verlagsnamen an, dass er seine Neugründung als persönliches Einzelunternehmen führen würde: Bernard Campiche Editeur. Campiche veröffentlicht ausschliesslich Bücher von Westschweizer Autor:innen, nur acht pro Jahr, und hat seinem Unternehmen in Einzelregie grosse Anerkennung verschafft. Eine grosse Reihe angesehener Autor:innen gehören zu seinem festen Stamm. Schmerzhaft war für ihn in jüngerer Zeit, dass der langjährige Streit mit Anne Cuneos Erben zu seinen Ungunsten ausging. Diese Autorin war mit dem Erfolg ihrer grossen historischen Romane und ihrer breit verkauften Krimis die Lokomotive seines Verlags. Nun musste er die Wiederveröffentlichung mehrerer Werke Cuneos einem Konkurrenten überlassen. Wie es mit seinem Verlag weitergehen wird, lässt der gerade neunundsechzig gewordene Aficionado der Literatur auch auf Rückfragen hin immer noch offen.
Neben den älteren Verlagshäusern, die jetzt einen Generationswechsel hinter sich oder vor sich haben, gibt es in der Suisse romande eine ganze Reihe kleinerer Verlage, die deutlich den Stempel einer jüngere Generation tragen und zukunftsweisende Offenheit bezeugen. Hier seien als Beispiele nur drei herausgegriffen.
Paulette éditrice hat sich neben Kurzprosa auf LGBTQIA+-Literatur spezialisiert und konnte 2024 mit einem eidgenössischen Literaturpreis an die Waadtländerin Ed Wige für den Debütroman «Milch Lait Latte Mleko» einen schönen Erfolg feiern.
Die Editions La Veilleuse erklären programmatisch, sie wollten «aus einer engagierten, dekolonialen und für emanzipatorische Kämpfe sensiblen Perspektive» heraus «auch intersektional, feministisch, antirassistisch und aufmerksam gegenüber LGBTQIA+» sein. Gerade wurde einem ihrer Autoren, Marc Agron, für seinen Roman «La vie des choses» der Publikumspreis der Stadt Lausanne verliehen.
Der Verlag Hélice Hélas schliesslich zeigt eine besondere Sensibilität für ökologische Fragen, folgt dabei der Leitlinie, «die singuläre Geste in all ihren Formen» zu berücksichtigen und veröffentlicht neben Erzählprosa auch Comics und Graphic Novels sowie Kunstbücher. Im Februar wird er den neuen Roman «Leur grandeur amputée» von Maire-Jeanne Urech herausbringen, einer Autorin, die auch in der Deutschschweiz breiter gelesen wird. Der Verlag weist auch – eine Seltenheit in der Suisse romande – auf eine Veranstaltung der Autorin in Luzern hin, mit der deutschen Übersetzung «X wie Dictionnaire», im Rotpunktverlag erschienen.
Die Verlagsszene in der Suisse romande ist noch weitaus vielseitiger, als dieses Aperçu zum Generationenwechsel unter den Verleger:innen es zu zeigen vermag. Was Michel Moret vor zwanzig Jahren voraussagte, hat sich nur insoweit bewahrheitet, als die Edition de l’Aire gerade dank einem jüngeren Duo gute Aussichten auf ein Fortbestehen hat.
Verlagsgeschichte
Prophezeiungen bleiben immer problematisch. Erhellender ist der unverstellte Rückblick auf die Vergangenheit. Das gilt auch für das Verständnis des Generationenwechsels und Zeitenumbruchs in der Verlagsgeschichte. Robert Leucht, Ordinarius für Neuere deutsche Literaturwissenschaft an der Universität Lausanne, hat 2024 das interdisziplinäre Nationalfondsprojekt «Die Schweiz als Drehscheibe internationaler Literatur. Eine Verlagsgeschichte der Schweiz im Zeitalter der Extreme, 1914-1991» gestartet.
Als fruchtbar könnte sich eine Ausweitung dieses wertvollen Projekts auf die französisch- und die italienischsprachigen Verlage der Schweiz erweisen. Im Zeitraum der faschistischen Herrschaft in Italien und der deutschen Besatzung Frankreichs und auch des Kalten Kriegs waren diese Sprachregionen der Schweiz für die literarische Diaspora aus dem Süden, dem Westen und dem Osten ganz entscheidend. Wichtig wurden in der Suisse romande im zweiten Weltkrieg Verlagsgründungen wie 1941 die Editions Ides et Calendes in Neuenburg, 1942 die Editions Jean Marguerat in Lausanne und 1942 Les Portes de France in Pruntrut. Und im Kalten Krieg bildete eben L’Âge d’homme in Lausanne eine internationale Drehscheibe. Im Tessin publizierten in den 1930er/40er Jahren die Nuove Edizioni di Capolago in Zusammenarbeit mit Ignazio Silone ab 1936/37 Texte von verfolgten italienischen Schriftstellern, in den 1940er Jahren widmeten Pino Bernasconi die Collana di Lugano demselben Zweck, mit Gedichten von Umberto Saba und Eugenio Montale, und Felice Menghini begründet in Poschiavo die Reihe L’ora d’oro mit Werken weiterer verfolgter und zensurierter Autoren aus Italien.
Diesen grenzüberschreitenden Geist der Solidarität haben die Verleger:innen aller Landesteile der Schweiz über mehrere Generationen hinweg bis heute bewahrt.