«Den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat»
Vom 24. bis 26. Januar fanden in Zuoz die Engadin Art Talks unter dem Motto «Form & Impact» statt. Im Zentrum der Gespräche stand das soziale Engagement der Kunst. Impressionen vom Samstagmorgen.
Der Gemeindesaal Zuoz war am Samstagmorgen bis auf den letzten Platz besetzt, trotz milden Temperaturen und weissen Gipfeln, die auf die Piste lockten. Das offizielle Programm des jährlichen Stelldicheins der Kunstszene konnte beginnen, nachdem am Freitag im Kreise der Freunde und Unterstützerinnen und Unterstützer der Engadin Art Talks bereits in der Roth Bar auf das Symposium angestossen und ein erster Workshop zum Thema KI bestritten wurde.
2011 gründete die Verlegerin und Sammlerin Cristina Bechtler die Stiftung Engadin Art Talks. In den letzten 14 Jahren sprachen über 370 Rednerinnen und Redner aus Wissenschaft, Kunst, Architektur und Literatur am Symposium, das sich im Kern dem sozialen Wandel widmet. Das diesjährige Thema «Form & Impact» sei wie Wasser und Regen, etwas Untrennbares, so Bechtler im Vorfeld der Veranstaltung: «Alles was visuell wahrnehmbar ist, hat eine Form und einen Impact, sei es im positiven oder negativen Sinn.» Nachdem sich in den letzten Tagen auf der politischen Weltbühne die Machtverhältnisse unzweifelhaft mit offenem Ausgang verschoben haben, könnte das Thema nicht passender sein.
In der Einführung verwies Philip Ursprung, Kunsthistoriker und Professor für Kunst- und Architekturwissenschaften an der ETH auf Johann Wolfgang von Goethe: «Den Stoff sieht jedermann vor sich, den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten.» In diesem Sinne plädierte Ursprung für die Form als Prozess, der offen sei, die Neugierde, Hoffnung und den Optimismus wecke, und zum Mitgestalten einlade.
Das Mitgestalten ist der zentrale Gedanke von Rick Lowe, Künstler und Professor für interdisziplinäre Praxis an der Universität Houston, welcher den ersten Vortrag bestritt. Lowe, der auf einer Farm in Alabama gross wurde, fand in der Kunst ein Medium, um über soziale Gerechtigkeit zu sprechen. Im Sinne der sozialen Skulptur à la Joseph Beuys - «Jeder Mensch ein Künstler» - , initiiert und begleitet er zahlreiche Projekte mit Gemeinschaften. Er versteht die Kunst als Einwirkung auf das gemeinschaftliche Zusammenleben. So leitete er beispielsweise 1993 die Neugestaltung eines Problemviertels in der Nähe von Houston an. Das langfristig angelegte Projekt widmet sich dem Umbau sogenannter Shotgun Houses, eine im Süden der USA verbreitete Form des Einfamilienhäuschens, das im 20. Jahrhundert zum Symbol der Armut wurde.
Ob solche partizipativen Projekte auch in Reichenvierteln denkbar seien, lautete eine Frage aus dem Publikum. Lowe antworte lakonisch: Der Prozess sei nicht exklusiv.
Die Naturkräfte führen
Dass wir auch in der reichen Schweiz durch äussere Einflüsse zu Kollaboration angehalten werden, zeigte Martina Voser auf, Landschaftsarchitektin und Professorin für Landschaftsarchitektur an der ETH.
Mit ihrem 2004 gegründeten Büro für Landschaftsarchitektur Mavo Landschaften ist sie für die Neugestaltung des Südbündner Bergdorfes Bondo zuständig, das beim Bergsturz 2017 schwer beschädigt wurde. Acht Menschen verloren damals ihr Leben, als drei Millionen Kubikmeter Felsmaterial vom Piz Cengalo ins Tal donnerten. Das Team um Martina Voser stand vor der Herausforderung, den geologischen, ökologischen und kulturellen Besonderheiten des Ortes im Dialog mit Ingenieuren und dem Tiefbauamt Graubünden gerecht zu werden, im Bewusstsein, dass sich der Piz Cengalo weiterbewegt: «Man kann die Kräfte nicht kontrollieren, nur führen», so Voser. Mavo Landschaften machte sich zum Ziel, die neue Infrastruktur so einzubetten, dass die Identität und die Poesie des Ortes zum Tragen kommen. So wurden die Dämme mit dem Naturstein des Cengalos errichtet, stets im Dialog mit dem (noch) Existierenden. Die Bevölkerung wurde schliesslich eingeladen, die Terrassen rund um die Dämme zu bepflanzen. Das Publikum zeigte sich tief beeindruckt von Vosers Engagement.
Um Identität geht es auch in der Arbeit der deutsch-ägyptischen Künstlerin Susan Hefuna, die heute in Chur lebt. Im Gespräch mit Hans Ullrich Obrist, künstlerischer Leiter der Serpentine Galleries London, erzählte Hefuna, wie sie sich durch das Zeichnen eine neue Welt erschuf, da sie sich in der ständigen Ambivalenz zwischen zwei Sprachen und verschiedenen Bedeutungen bewegt habe. Diese Reibungsfläche macht die Künstlerin in ihren partizipativen Arbeiten fruchtbar. So lud sie beispielsweise 2011 Zeltmacher in Kairo dazu ein, Botschaften der Menschen von der Strasse an den Zeltinnenseiten anzubringen. Später wurden die Zelte in den Hyde Park nach London geführt.
Schliesslich kam das Publikum in den Genuss einer kleinen Performance: Hefuna liess das Publikum mit Konfekt verköstigen, das ihre Handschrift «BE» in Form einer Zeichnung trug. «Was die Zeichnung bedeute?», wollte jemand wissen. «Eat it, and you know it», meinte Hefuna. Oder um wieder auf Goethe zurückzukommen: «…den Gehalt findet nur der, der etwas dazuzutun hat, und die Form ist ein Geheimnis den meisten…»
Ein Blick zurück in die Geschichte
Mit entsprechendem Ticket liess sich ein Mittagessen in illustrer Gesellschaft geniessen oder aber bei fast schon frühlingshaftem Wetter einen Dorfspaziergang unternehmen und die prachtvollen Engadiner Häuser bewundern, von denen sich viele in der Hand von wohlhabenden «Unterländern» oder Ausländern befinden. Um die Aura der Exklusivität zu verstehen, welche die Engadiner Kunstwelt umgibt, lohnt sich ein Blick zurück in die Geschichte des Oberengadins, das mit dem Bau der ersten Grandhotels im Zuge des aufkommenden Bädertourismus bewusst auf eine wohlhabende Gästeschaft setzte und nebenbei, zur Unterhaltung der Gäste, Wintersportangebote schuf, von denen neben dem Ski Alpin und Langlauf das jährliche White Turf - die berühmten Pferderennen und das exklusive Skikjöring auf dem St. Moritzer See - die Reichen und Schönen begeistert.
In diesem Sinne ist auch die Kunst im Engadin zu einem wichtigen Wirtschaftsfaktor geworden, der ein zahlungskräftiges Publikum anzieht. «Den Impuls gab mein Schwager Ruedi Bechtler vor 20 Jahren, indem er im und um das Hotel Castell Kunst einer interessierten Öffentlichkeit zugänglich machte, zusammen mit der Bechtler-Stiftung», so Cristina Bechtler, im Interview mit der Engadiner Post. Er habe Künstler wie James Turrell, Martin Kippenberger, Roman Signer oder Pipilotti Rist ins Tal gebracht. «Das hat mitunter den Zuzug der Galerien ausgelöst.» Nach 20 Jahren wechselt das Hotel Castell seinen Besitzer: Iwan und Manuela Wirth, Inhaber der Galerie Hauser und Wirth übernahmen im November 2024 das Kunsthotel.
Postkoloniale Strukturen in der Gegenwart
Am Nachmittag gab der Fotograf Sammy Baloji einen Einblick in seine Arbeit, die sich zusammen mit anderen Fotografen der Aufarbeitung der kolonialen Vergangenheit der Demokratischen Republik Kongo widmet, über die in den Schulen nichts gelehrt werde, so Baloji. Es dürfte wenig bekannt sein, dass die 1885 ausgerufene belgische Kolonie im Zeichen der Gesundheitsprävention eine strenge Rassentrennung verfolgte, die zum Vorbild der Apartheid in Südafrika wurde. Auf die Kolonialzeit folgte die 32jährige Diktatur unter Joseph Mobutu. «Wir wollen der Gesellschaft eine Stimme geben», so Baloji.
Ihm geht es darum, die gängigen Klischees aufzubrechen und die Geschichte neu zu erzählen. In seinen Arbeiten richtet er das Augenmerk auf die Ausbeutung von Menschen und Rohstoffen, die sich in der postkolonialen Gegenwart fortsetzt.
Auf die Publikumsfrage, welche Rolle die Technik in seiner Arbeit spiele, antwortete Baloji: «Wir arbeiten mit dem, was wir haben». Die Frage offenbart die zitierte postkoloniale Gegenwart und die damit verbundene Ahnungslosigkeit des privilegierten globalen Nordens. 2023 leben mehr als 60 Prozent der kongolesischen Bevölkerung in extremer Armut. 40 Prozent gelten als chronisch unterernährt.
Mat Dryhurst und Holly Herndon präsentierten ihre Projekte, die sich mit Künstlicher Intelligenz beschäftigen, gemäss dem Motto: «Wir wollen die Regeln bestimmen, bevor wir das Spiel beginnen». 2019 entwickelten sie mit «Holly +» eine Stimme, die wie Herndons Stimme klingt, und mit der andere Menschen in Echtzeit singen können.
KI als Chance: «Wir wollen die Regeln bestimmen»
Mit ihrer Firma Spawning haben sie ausserdem ein Tool kreiert, das Menschen erlaubt, ihre Bilder, Texte, Videos etc., in Datensätzen von KI-Modellen nachzuweisen. Ein anderes Tool ermöglicht, das entsprechende Einverständnis für die Verwendung der Daten zu geben, respektive zu verweigern. Mit diesen Tools erzeugen sie grosse Resonanz bei KI-Firmen und politischen Instanzen. Für das Künstlerpaar, das seit 16 Jahren verheiratet ist, bleibt der Mensch ein wichtiger Akteur. Aufgabe sei es nun, gerade auch für Künstler, die KI mit ausgewählten Daten zu trainieren und damit die Regeln zu bestimmen.
Den Abschluss der anspruchsvollen Vorträge und Gespräche am Samstag bestritt der Maler Alvaro Barrington im Gespräch mit Hans Ulrich Obrist. Er gab einen humorvollen Einblick in seine unorthodoxen religiösen Assoziationen zu seiner Ausstellung in der Kapelle San Bastiaun.
Von Jesus und dem Wein
Selbst in einer Kirche grossgeworden, hielt er fest, dass seit Nietzsches Ausspruch «Gott ist tot» der Konsum die Religion ersetzt habe. Als Sohn von haitianischen Eltern in der Karibik und in Brooklyn aufgewachsen, prägte ihn die Rap- und Hip-Hop-Kultur. Kunst fand draussen statt; «art without doors». Heute bewege sich die Kunstwelt weit ab vom öffentlichen Diskurs, so Barrington. Ihm schwebe aber eine Kunst vor, die auch seine Neffen anspreche, Kunst als öffentliches Engagement, wie sie beispielsweise am Notting Hill Carnival in London zelebriert werde, an dem er regelmässig teilnimmt.
An der anschliessenden Eröffnung seiner Ausstellung spielte sein Freund «What’s love got to do with it» von Tina Turner auf dem Klavier. Turner sei eine Ikone der Popmusik und eine Überlebenskünstlerin, die, aufgewachsen in den Südstaaten, es bis an den Zürichsee geschafft habe, wo sie 2023 mit 83 Jahren starb. Ein göttliches Wunder. Wie die Altarähnlichen, monumentalen bunt bemalten, mit Weintrauben und gefüllten Weingläsern versehenen Balken in der Kapelle zu interpretieren sind, bleibt dem Betrachter überlassen. Möglicherweise dachte Barrington nicht nur an einen, dem Alkohol zugeneigten Jesus, wie er im Gespräch augenzwinkernd erzählte. Oder wie eine Dame ausrief: «He knows to do things».
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