Einen grossen Schatz bergen
In der zweibändigen Biografie «Wach & Frei» erzählt Hildegard E. Keller detailreich vom Leben von Alfonsina Storni, der berühmtesten argentinischen Dichterin, Theaterfrau und Frauenrechtlerin, die ihre Wurzeln im Tessin hat. Der Biografie geht eine fünfbändige Werkausgabe voraus. Damit macht Keller Stornis Werk einem deutschsprachigen Publikum bekannt.
«Alfonsina Storni hat mich verändert», schreibt Hildegard E. Keller im zweiten Band der Biografie über die Dichterin, Theaterfrau, Kolumnistin und Frauenrechtlerin, die als Tochter von Tessiner Eltern 1892 in Sala Capriasca zur Welt kommt. Als Alfonsina vier Jahre alt ist, zieht die Familie nach Argentinien. Die drei älteren Brüder des Vaters haben sich als Tessiner Einwanderer in Argentinien mit Fleiss und unternehmerischem Geschick solide Existenzen aufgebaut. Alfonsinas Vater wird den Rank niemals richtig finden. Er verfällt dem Alkohol, was die Familie in Armut stürzt.
Durch den Song «Alfonsina y el mar» von Ariel Ramírez, mit dem Text von Félix Luna, gesungen von Mercedes Sosa, hört die Hispanistin Hildegard E. Keller erstmal vom Schicksal jener Selbstmörderin, die in Mar del Plata ins Wasser geht. Später stösst sie bei einem Tango-Abend auf den Hinweis, dass mit der besungene Alfonsina die Schriftstellerin mit Tessiner Wurzeln gemeint ist. Die Inspiration zum Song muss der Film «Alfonsina» aus dem Jahr 1957 von José María Fernández Unsáin geliefert haben, wie Keller später in ihrer Storni-Biografie schreibt. Im Film wird der Selbstmord heroisiert, während die schwere Krebserkrankung der Dichterin kaum Erwähnung findet.
Von der ersten Lektüre zur Gesamtausgabe
Als Keller 2008 als Germanistikprofessorin in die USA, nach Bloomington, berufen wird, führt sie auch Storni-Gedichtbände im Gepäck. In dieser Zeit entsteht auch die Idee einer Dokumentation fürs Radio. So beginnen Kellers intensive Recherchen, die 2010 im Radiofeature fürs Schweizer Radio münden. Die Idee, eine Storni-Biografie zu verfassen, lässt sie nicht mehr los. Doch da die Dichterin hierzulande kaum jemand kennt, muss sie ihr Werk erst auf Deutsch übersetzen, so Kellers Gedanke. Ab 1959 gibt es vereinzelt Übersetzungen, die sich allerdings primär auf ihre Lyrik konzentrieren. 2013 gibt Keller eine Anthologie heraus, doch auf eine Werkausgabe will sich kein Verlag einlassen. Zu hoch sei das finanzielle Risiko. 2017 kündigt Hildegard E. Keller ihre Germanistikprofessur in den USA und nach und nach auch ihre prestigeträchtigen Ämter als Jurorin beim Ingeborg-Bachmann-Preis und als Kritikerin im Literaturclub des Schweizer Fernsehens. Keller will sich fortan ganz ihren Projekten widmen, die Kunst Literatur, Film, Performance und Forschung verbinden. 2019 gründet sie den von ihr geführten Verlag «Maulhelden», wo sowohl ihre fünfbändige Storni-Werkausgabe wie auch die Storni-Biografie erscheinen.
Die zweibändige Biografie «Wach & Frei» verweist mit entsprechenden Markierungen auf die Originaltexte. Historische Fotos und Dokumente lassen in den Zeitgeist des frühen 20. Jahrhunderts eintauchen. «In der Biografie fördere ich Unbekanntes zu Tage, das auch für argentinische Spezialisten neu ist», verrät Keller. Detailreich bettet Keller Stornis Biografie in das historische Umfeld ein. Wo sie keine tief vergrabenen Splitter und Reste habe finden können, habe sie die Freiheit der intuitiven Erzählung weitergeführt, schreibt Keller im Vorwort.
Mit 46 Jahren bringt Alfonsina Storni ihren achten und letzten Gedichtband «Maske und Kleeblatt» heraus. Sie ist sich bewusst, dass ihre Antisonette schwer verständlich sind und sich das Publikum stattdessen das Gewohnte wünscht. Aber ein letztes Mal setzt Storni ihre künstlerische Weiterentwicklung über die Aussicht auf Beifall. Der inneren Stimme folgen, das innere Feuer zum Ausdruck bringen, komme was wolle – das verbindet die zwei Frauen.
Von der Kinderarbeiterin zur Autorin
Ihr erstes Geld verdient Alfonsina im Alter von elf Jahren in einem Hutatelier in Rosario. Zusammen mit ihrer Mutter kommt sie für die siebenköpfige Familie auf. Mit 16 Jahren geht sie mit einer freien Theatergruppe auf Tour. Ein Jahr darauf gelingt ihr der Sprung in ein neu gegründetes Lehrerseminar in Corado. Im Selbststudium schliesst sie innerhalb dreier Monate ihre Wissenslücken – sie hat die Primarschule nur bis zur zweiten Klasse besucht und besteht nach zweijähriger Ausbildung das Lehrerdiplom mit Bestnote. Sie kommt erstmal in Kontakt mit Freidenker:innen, die sich für soziale Anliegen und die Gleichstellung der Frau einsetzen, Weggefährt:innen, die sie künftig inspirieren. Mit 19 bringt sie in Buenos Aires ihren Sohn Alejandro zur Welt, den sie alleine grossziehen wird; in der katholisch-patriarchal geprägten Gesellschaft ein Skandal. Aber Alfonsina macht kein grosses Aufsehen darum. Sie kämpft fortan für den Lebensunterhalt und für ihre künstlerische Entwicklung. Alfonsina Storni verdient ihr Geld als Hauslehrerin und Verkäuferin. Schliesslich wird sie in einem Unternehmen, das spanisches Olivenöl importiert, «Leiterin der Abteilung für Geschäftspsychologie» – Storni, eine PR-Pionierin. Als erste Frau schreibt Alfonsina Storni über den Büroalltag in einer Männerwelt. Mit 24 Jahren bringt sie ihren ersten Gedichtband «Die Unruhe des Rosenstocks» heraus. Zwei Jahre später folgt der Band «Süsse Qual».
Streben nach Autonomie und künstlerischem Ausdruck
Was bei diesem bemerkenswerten Aufstieg von der Kinderarbeiterin zur Autorin, die «nebenbei» auch ihr Kind alleine grosszieht, auffällt: Alfonsina Storni beschwert sich nicht. Sie zeigt sich nicht wehleidig, äussert sich nie gehässig oder frustriert. Keller arbeitet in ihrer Biografie diesen unbändigen Freigeist, der nach Autonomie und künstlerischem Ausdruck strebt, heraus. Storni kämpft für die Gleichberechtigung der Frau, sie mokiert sich über die Männerwelt, die ihr Steine in den Weg legt, wobei sie ihre Sichtweise in Kolumnen stets humorvoll, ironisch und pointiert auf den Punkt bringt. Sie schreibt beispielsweise über das Stehen in der Strassenbahn, über «fossile Männer» und «parfümierten Feminismus». In Interviews und Homestorys demonstriert sie ihren unbändigen Witz. Mit ihrer intellektuellen Schärfe dürfte sie manchen ihr feindlich gestimmten Zeitgenossen wie Jorge Luis Borges gereizt haben.
Storni plädiert für die Unterschiede zwischen Mann und Frau und zeigt in ihren ersten Gedichten, die der Liebe gewidmet sind, ihre weibliche, verletzliche Seite. Abwechselnd zielt die Kritik auf Storni als Dichterin, die sich am Weiblichen abarbeiten muss, wie es Borges einmal formulieren wird, dann wiederum beanstanden die Kritiker ihren maskulinen Auftritt. Seltsamerweise äussern sich Zeitgenossen oft über ihre Erscheinung, die entgegen der landläufigen Schilderungen, die sie als unvorteilhaft und koboldartig darstellen, überraschend hübsch und einnehmend sei. Mit ihrer Präsenz und ihrer Rezitation vermag sie ihr Publikum zu fesseln, wie Keller schreibt. Dieses Auseinanderklaffen zweier ganz unterschiedlicher Darstellungen derselben Person ist ein weiterer Hinweis auf den frauenfeindlichen Blick, mit dem Alfonsina Storni taxiert wird.
Aus jeder Möglichkeit das Beste schöpfen
Alfonsina Storni träumt ein Leben lang von einer Stelle, die es ihr erlaubt, sich einem grösseren Werk zu widmen, etwa als Botschafterin, wie es ihren männlichen Schriftstellerkollegen oder ihrer chilenischen Freundin, der späteren Nobelpreisträgerin Gabriela Mistral, vergönnt ist. Storni unterrichtet stattdessen fortwährend an mehreren Schulen gleichzeitig, um über die Runden zu kommen.
Dabei gilt ihre grosse Leidenschaft dem Theater, wie Keller erstmals herausgearbeitet hat. Ihre Entwürfe für Bühnenbilder zeugen von grossem Einfallsreichtum. Keller vergleicht Stornis avantgardistischen Bühnenentwürfe mit den Arbeiten Piscators, Luigi Pirandellos oder Miguel de Unamunos. Ihr erstes Stück fällt allerdings der Willkür des Regisseurs zum Opfer. Aus ihrem Titel «Zwei Frauen» wird «Der Herr der Welt». Das sozialkritische Stück, das auch eine ambivalente Frauenfigur zeigt, wird als männerfeindlich ausgelegt. Die Schauspielerinnen sind ihren Rollen nicht gewachsen. Ihre darauffolgenden Stücke kommen nicht zur Aufführung, da die Theaterhäuser auf leichte Unterhaltung setzen. «Einen valablen Ersatz findet Storni im Kindertheater», so Keller. Von 1922 bis 1938 schreibt sie für das Teatro Infantil Labardén die Texte und die Musik und inszeniert die Stücke mit den Kindern. Das zeigt einmal mehr, wie sich Storni nicht unterkriegen lässt und aus den Möglichkeiten, die ihr offenstehen, das Beste macht.
Bei aller Unerschrockenheit, die Alfonsina Storni antreibt, scheint die Demut eine wichtige Kraft zu sein, die sie durchs Leben trägt.
In einer Rede am Instituto Vásquez Acevedo in Montevideo 1938, das Alfonsina Storni zusammen mit den Grössen Gabriela Mistral und Juana de Ibarbourou aus Uruguay einlädt, gibt Alfonsina einen Einblick in ihre Poetik. Ihr Schreiben sei ein Schreiben «mit der Antenne auf Empfang», erklärt sie: In den Künstlern richte sich Gott «Vorstadtfilialen» ein.
Eines ihrer letzten Gedichte, «An die Göttin Poesie» aus ihrem letzten Gedichtband zeugt von diesem lebenslangen Vertrag mit der Literatur, der ihr bis zuletzt alles abverlangt:
Am Sonntag, 1. Juni stellt Hildegard E. Keller «Wach & Frei» an den Solothurner Literaturtagen im Gespräch mit Michael Luisier vor: Theatersaal, 14.30 bis 15.30 Uhr. Sprecherin: Miriam Japp
In der nächsten Ausgabe von cültür erzählt Hildegard E. Keller über ausgewählte Texte von Alfonsina Storni.
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