Die Rückkehr des Renaissance-Menschen
Im September schlug die Mitteilung der Die Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK), den Master-Studiengang Transdisziplinarität «in seiner aktuellen Form mittelfristig nicht weiterführen zu wollen» hohe Wellen. In einer Petition äusserten über 1000 Unterzeichnende ihren Unmut über diese vage angekündigte Sparmasse. Bis heute lässt die Hochschule eine klare Kommunikation vermissen. cültür-Redaktorin Katia Sophia Ditzler ergreift als Studierende der Transdisziplinarität Partei für den Studiengang: Ein Plädoyer für die Transdisziplinarität.
Hochschulpolitik hat mich nie interessiert. Sie wirkte während meines Bachelorstudiums in Deutschland auf mich immer wie eine Bühne für Selbstdarsteller:innen, auf der auf histrionische Art und Weise Dinge verhandelt wurden, die im Grunde irrelevant waren. Nichts anderes als Hintergrundrauschen. Doch wenn die Institution, an der ich studiere, mit vagen Formulierungen wie «der Master Transdisziplinarität in den Künsten [wird] in der bestehenden Form mittelfristig nicht weitergeführt» aus heiterem Himmel droht, Tatsachen zu schaffen, dann erwacht plötzlich mein innerer Studiengangs-Patriotismus, von dem ich vorher gar nicht wusste, dass er existiert.
Aber von vorne: Die Zürcher Hochschule der Künste steht vor Sparmassnahmen. Das ist bekannt, das ist nachvollziehbar, das ist in Zeiten knapper Budgets eine Realität, der sich Bildungseinrichtungen überall stellen müssen. Was jedoch nicht nachvollziehbar ist, dass im Raum steht, ausgerechnet ein ziemlich erfolgreiches Masterprogramm mit einem Aufnahmeverhältnis von 5 : 1 einzustellen. Besonders bitter: Die Information darüber wurde ohne vorherige Diskussion per E-Mail Anfang September an die Hochschulangehörigen versandt. Auf eine bereits Anfang Oktober eingereichte Petition mit 1244 Unterschriften, unterzeichnet unter anderem von Kulturschaffenden und sogar Hochschulprofessor:innen aus dem In- und Ausland, wurde bislang nicht reagiert, entgegen dem Eigenanspruch, strukturelle Änderungen nicht von oben herab zu entscheiden, sondern im Austausch mit den Studierenden und Mitarbeitenden zu gestalten. Von offizieller Seite heisst es zwar, die Entscheidung sei nicht aufgrund des finanziellen Drucks gefällt worden, was in Anbetracht bereits umgesetzter Sparmassnahmen unglaubwürdig ist. Das Prinzip Transdisziplinarität sei bereits hochschulweit implementiert worden. Dadurch könne der Studiengang Transdisziplinarität in der aktuellen Form nicht mehr weitergeführt werden, so die offizielle Darstellung.
Die ganze Geschichte ist brisant und heikel. Anfragen an Gesprächspartner:innen blieben erfolglos. Daher schreibe ich diesen Text aus der Perspektive einer Studentin.
Ein weites Feld
Was ist Transdisziplinarität eigentlich? Alles und nichts. Und darin liegt die Freiheit. Transdisziplinarität als künstlerisches Gebiet ist nicht neu. Die Idee ist das Dazwischen, die Synthese. Fruchtbare Anarchie. Wenn man versucht, den Studiengang zu beschreiben, stösst man schnell an die Grenzen der konventionellen Kategorien. Die wirklich interessanten Fragen liegen an den Rändern der Disziplinen und dort, wo man ganz unterschiedliche Felder miteinander verbindet. Es geht auch nicht nur um künstlerische Produktion, sondern auch um die reflektierte, theoretische Auseinandersetzung.
Wir haben in unserem Studiengang eine studierte Vulkanologin, die Klangkunst macht und Vulkane zum Singen bringt. Wer hätte gedacht, dass die seismischen Daten von Vulkanausbrüchen, richtig übersetzt, eine eigene musikalische Sprache entwickeln können? Ein Spoken-Word-Künstler bindet nebenbei Bücher als integralen Teil seiner Praxis, die das Verhältnis von gesprochenem und geschriebenem Wort erforscht. Ein Informatiker, der Kunst mit Überwachungskameras macht. Ein Klimawissenschaftler, der komponiert. Eine Schmuck-, Keramik- und Objektkünstlerin, die das transformative Zusammenspiel von Körper, Kultur und Material untersucht. Oder eine Interaktionsdesignerin, die künstlerisch digitale Räume erforscht und als Partnerin des Think-Tanks Dezentrum sowie im Vorstand von swissfuture die digitale Zukunft mitgestaltet. Eine Ingenieurin und Musikerin, die Materialwissenschaften, Mikroskopie und Sound verbindet. Eine Theaterregisseurin, die gerne handwerklich arbeitet und an einem Roman schreibt. Einige klassisch ausgebildete Musiker:innen und Tänzer:innen, die keine Lust mehr auf diese Welt hatten und sich in Richtung Performance und Bildende Kunst entwickelt haben. Und auch mehrere Künstler:innen, die ihre Heimatländer verlassen mussten und sich etwas Neues aufbauen – teils, nachdem sie bereits international erfolgreich waren.
Die Absolvent:innen gewinnen Preise, zeigen Werke in Ausstellungen, spielen Konzerte. Sie arbeiten an Schnittstellen, die es vor zehn Jahren noch nicht gab. Oft auch in der Verbindung von Kunst und Wissenschaft. Sie entwickeln neue Formate, neue Praktiken, neue Weisen des künstlerischen Denkens. Als der Studiengang 2009 eingeführt wurde, war vielen nicht klar, was das sein sollte, Transdisziplinarität. Das klang nach einem akademischen Modewort, nach einer dieser Worthülsen, die alle paar Jahre durch die Hochschullandschaft geistern. Auf einmal aber wurde immer klarer, dass die Welt komplexer wird und die alten disziplinären Grenzen nicht mehr zeitgemäss sind. Das Konzept selbst ist nicht neu. In der Schweiz ist beispielsweise der Künstler George Steinmann seit den 1970er Jahren für seine transdisziplinäre Praxis bekannt.
Interessierte bewerben sich üblicherweise, nachdem sie bereits eine künstlerische Praxis etabliert haben und an einem konkreten Masterprojekt transdisziplinär arbeiten wollen. Die Altersspanne reicht daher von Mitte 20 bis 50.
Die Zukunft gehört den Generalist:innen
Heute, in einer Welt, in der KI-Technologien und Jobmärkte radikal verändert werden, wird klar: Die Zukunft gehört den Generalist:innen, die das grosse Ganze im Blick haben. Konkrete Vorhersagen darüber, welche spezifischen Fertigkeiten in 20 Jahren noch relevant sein werden, sind schwierig bis unmöglich. Wer hätte vor 15 Jahren vorhersagen können, dass Social-Media-Manager, Prompt-Engineers oder Nachhaltigkeitsberater:innen zu aktuell gefragten Berufsleuten gehören würden? In der Kunst ist es nicht anders.
Was bleibt, wenn technologische Umbrüche alte Gewissheiten hinwegfegen, ist die Fähigkeit zu denken, kritisch, kreativ, kontextuell. Die Fähigkeit, künstlerisch zu arbeiten und dabei über den Tellerrand hinauszuschauen. Die Fähigkeit, Verbindungen zu sehen, wo andere nur isolierte Phänomene wahrnehmen.
Blue Ocean statt Red Sea
Es war schon immer mein Problem gewesen, alles zu wollen und mich nicht entscheiden zu können. Bis mir irgendwann der Gedanke kam: Warum nicht einfach selbst das Neue zu schaffen versuchen? Blue Ocean statt Red Sea, wie es im Startup-Jargon heisst: lieber einen neuen Markt erschliessen, als sich in einem überfüllten, umkämpften zu behaupten. Und genau deswegen habe ich mich nach Jahren Praxis in Medienkunst, Literatur und Film für den Studiengang Transdisziplinarität beworben. Ich wollte einen Master machen, um meine Praxis zu professionalisieren. Damit ich mich in Territorien vorwagen kann, die noch nicht kartografiert sind. Und so geht es den meisten meiner Mitstudierenden.
Vor 100 Jahren gab es auch noch kein Film-Studium. Man kam von Disziplinen wie Fotografie, Theater, Literatur, Malerei und arbeitete interdisziplinär zusammen. Pioniere wie Eisenstein, Méliès oder die Brüder Lumière erfanden etwas gänzlich Neues, indem sie Techniken und Perspektiven aus verschiedenen Bereichen kombinierten. Heute ist Film eine etablierte Kunstform mit eigenen Studiengängen, eigenen Theorien und eigenen Traditionen. Aber am Anfang war da nur das Experiment, das Ausprobieren, das Scheitern und Neuanfangen.
Vielleicht forschen wir hier an neuen Kunstformen, die man in ein paar Jahren oder Jahrzehnten ebenfalls wird studieren können. Vielleicht stellen die Hybride, die wir entwickeln, die Bausteine für zukünftige Disziplinen dar. Aber dafür braucht man den Raum für das Experimentieren, die Infrastruktur, die institutionelle Rückendeckung. Dafür braucht man eine Institution, die bereit ist, in Potenziale zu investieren, auch wenn sich diese nicht sofort in klaren Kennzahlen niederschlagen. Grosse Konzerne leisten sich auch Research-&-Development-Abteilungen. In Anbetracht dessen, dass nicht nur die ZHdK, sondern auch andere Hochschulen es für nötig erachten, sich Marktlogiken zu unterwerfen, ist dies vielleicht ein relevantes Argument.
Strukturelle Probleme, aber keine unlösbaren
Ja, es gab eine Diskussionsveranstaltung am 25. November. Das muss man der Hochschulleitung hoch anrechnen. Dort wurde angekündigt, dass eine Arbeitsgruppe gebildet werden sollte, die ergebnisoffen eine Lösung für den Master Transdisziplinarität finden sollte. Allerdings wurde auch argumentiert, dass das Konzept der Transdisziplinarität durch die Einführung von Majors und Minors obsolet geworden sei. Die Idee sei von aussen herangetragen worden: Inwiefern müsse der Master Transdisziplinarität in der aktuellen Form noch existieren, wenn es doch jetzt diese flexiblen Kombinationsmöglichkeiten gäbe? Diese Logik verkennt jedoch grundlegend, worum es bei unserem Studiengang geht. Majors und Minors erlauben es, innerhalb bestehender Disziplinen zu kombinieren, allerdings arbeitet man dort oft in heterogenen Gruppen gemeinsam an Projekten und kann sich nicht immer Grundlagenwissen aneignen.
Transdisziplinarität geht darüber hinaus. Sie schafft Raum für das, was zwischen, jenseits und quer zu den etablierten Kategorien liegt. Deswegen ist es auch wichtig, sich den Unterschied zwischen Inter-, Multi- und Transdisziplinarität zu vergegenwärtigen, denn es ist nicht nur ein semantischer Unterschied. Interdisziplinarität bedeutet, dass verschiedene Disziplinen miteinander arbeiten, Multidisziplinarität, dass sie nebeneinander arbeiten. Transdisziplinarität hingegen überschreitet die Grenzen der Disziplinen und schafft neues Wissen, Methoden und neue Ästhetiken.
Probleme sind lösbar
Ich will nicht so tun, als ob alles perfekt wäre. Vieles läuft nicht ideal. Die anderen Departemente scheinen sich eher abzukapseln, während Veranstaltungen unseres Studiengangs für alle Studierenden offenstehen. Für den praktischen Unterricht werden wir oft nicht zugelassen, geöffnete Lehrveranstaltungen sind meist rein diskursiver Natur. Die eigenen praktischen Fähigkeiten kann man somit nur in der individuellen Projektarbeit verbessern, dies allerdings mit geeigneten (externen) Mentor:innen. Für eine Hochschule, die sich einen Studiengang wie den Master Transdisziplinarität leistet, wäre es wünschenswert, wenn mehr Austausch stattfinden würde. Ausserdem gibt es viele Hürden, was den Zugang zur nötigen Infrastruktur und zu Materialien betrifft (sei es die Buchung von Studios, die Ausleihe von Kostümen, der Zutritt zu Tanzräumen usw.), da die einzelnen Departemente natürlich ihren eigenen Studierenden den Vortritt lassen oder uns gänzlich aussperren – selbst, wenn die eigene Professionalität in einem bestimmten Bereich durch ein entsprechendes Portfolio bewiesen werden kann. Umgehen lässt sich das, indem man durch Freunde in anderen Departementen Dinge unter der Hand regelt. Das könnte natürlich auch als Stärkung des Soft Skills «Lösungsorientierte Kollaboration» bezeichnet werden. Es wäre aber schöner, wenn das nicht nötig wäre. Das sind strukturelle Probleme, die angegangen werden müssen.
Aber diese Probleme sind lösbar. Sie erfordern Dialog, Anpassungen, vielleicht auch Kompromisse auf allen Seiten. Was sie nicht erfordern, ist die Abschaffung des gesamten Programms.
Mich wird die Umstrukturierung der ZHdK nicht mehr betreffen. Ich werde lange vorher meinen Abschluss machen. Aber es geht nicht um mich. Es geht um die Studierenden, die nach mir kommen. Es geht um die Frage, was für eine Hochschule die ZHdK sein will: eine, die mutig in die Zukunft blickt und Räume für das Experimentelle, das Noch-Nicht-Definierbare schafft, oder eine, die aus Sparzwang genau die Programme einstellt, die am innovativsten sind.
Kein Luxus, sondern Notwendigkeit
Transdisziplinarität ist kein Luxus, den man sich in guten Zeiten leistet und in schlechten wieder einstampft. Es ist die Antwort auf eine Welt, die immer komplexer wird und in der die grossen Herausforderungen nur mit Menschen zu lösen sind, die zwischen den Disziplinen und über sie hinaus denken können. Die verstehen, dass ein Problem selten nur technisch oder nur sozial oder nur ästhetisch ist, sondern all das zugleich.
Das Renaissance-Universalgenie kehrt zurück, aber nicht als nostalgische Figur aus einer vergangenen Epoche, sondern als dringend benötigtes Modell für die Gegenwart. Bleibt zu hoffen, dass die ZHdK die Zeichen der Zeit erkennt.