Die Ohnmacht des Schweigens
Im neuen Roman von Vincenzo Todisco wird ein siebenjähriger Junge zum Geheimnishüter von Sterbenden. Mit allen Geschichten, die er hört, bleibt er allein und darf genau das nicht tun, was der Autor macht: atmosphärisch stimmig und lebhaft zu erzählen.
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Der Roman «Das Eidechsenkind» war 2018 für viele Leser und Leserinnen ein Augenöffner. Vincenzo Todisco erzählte darin, wie ein Kind von «Gastarbeitern» damals in der Schweiz der 1960er Jahre im Verborgenen aufwachsen musste, weil seine Entdeckung für die ganze Familie die Ausschaffung bedeutet hätte. Ein Kind steht auch in seinem neuen Buch «Der Geschichtenabnehmer» im Zentrum.
Die Handlung
Im abgelegenen italienischen Bergdorf Gruma wird der siebenjährige Walter, den alle nur Nerì rufen, auf Betreiben seiner Tante, der Zia Filina, mit einer Aufgabe betraut, die ihn überfordern muss. Er wird zum Geschichtenabnehmer auserwählt, weil der alte Olmo diese Rolle nicht mehr erfüllen kann. Deshalb sitzt fortan der kleine Nerì stumm am Bett der Sterbenden, um ihren letzten Worten zu lauschen. Während diese so ihre Geheimnisse preisgeben und ihre Sorgen loswerden, muss Nerì darüber Stillschweigen bewahren. In seinem Kopf sammeln sich immer mehr Geschichten an, mit denen er allein bleibt. Nerì war schon immer ein sonderbares Kind, doch die neue Aufgabe stempelt ihn noch mehr zum Aussenseiter.
Egal ob er mit anderen Kindern spielt, in der Schulbank sitzt oder nachts schläft, er kann jederzeit abgeholt werden, wenn ein Mensch im Sterben liegt und seine Hilfe benötigt. Ein paar Kinder, allen voran das wilde Mädchen La Fran, bleiben ihm dennoch zugetan. La Fran hat vor nichts Angst, sie nimmt Nerì in ihre Obhut und schützt ihn vor den Sticheleien der anderen. Nerì akzeptiert seine Aufgabe ohne zu murren, nur hin und wieder sehnt er sich danach,
[...] er könnte wie die anderen sein, unbeschwert und frei, ohne die Pflicht der Geschichtenabnahme. Es waren Anzeichen der Auflehnung. Aber gegen wen sollte er sich auflehnen? Gegen seine Mutter, seine Tante, Zio Fredo, Olmo, der ihm zusammen mit Zia Filina das ganze eingebrockt hatte?
Vincenzo Todisco «Der Geschichtenabnehmer»
Mit behutsamer Anteilnahme erzählt Todisco von Nerì, La Fran und der ehrgeizigen Zia Filina, anschaulich beschreibt er die Stimmung im Dorf, das Nerì kraft seines Amtes nie verlassen darf. Todisco gibt auch Einblick in Geschichten, die Nerì für sich behalten muss. Sie offenbaren keine spektakulären Geheimnisse, sondern halten die kleinen Sorgen und Sünden in einer überschaubaren Gemeinschaft fest.
Auf diese Weise bringt uns der Roman eine dörfliche Welt nahe, die entrückt im Schatten der Geschichte und der Gegenwart zu liegen und sich in den eigenen Traditionen einzuigeln scheint. Allerdings spielt das Buch in den 1970er und 1980er Jahren und das Städtchen San Giorgio liegt topografisch nicht weit von Gruma entfernt. Während Nerì den Sterbenden zuhört und die Zahl Gräber auf dem Friedhof wächst, werden die Zeichen dieser Nähe zur Gegenwart nur zaghaft spürbar. Gagarin taucht einmal auf, im Radio wird «Hotel California» gespielt und in der Bar gibt es eine Jukebox, die Nerì über alles liebt. Gruma aber bleibt in sich gekehrt, die Zumutungen der Moderne finden kaum Eingang in den Roman.
Parallel zur historischen Erzählung legt Todisco einen zweiten Erzählstrang an, der in den Nullerjahren unseres Jahrhunderts spielt. Nerì oder nunmehr Walter ist von Gruma weggezogen, weil er einen Journalisten an einer Geschichtenabnahme hat teilhaben lassen, ohne zu ahnen, dass er von ihm hintergangen wird. Inzwischen lebt er mit seiner betagten Mutter an einem ungenannten Ort in der Schweiz und arbeitet in einer Schokoladenfabrik, wo er als schweigsam und konfliktscheu gilt. Ein Brief aus Gruma beschwört aber noch einmal die alten Geister herauf. Er wird darin gebeten, dem Sterben seiner Zia Filina beizuwohnen, wie er es ihr damals versprochen hat.
Der Geschichtenabnehmer ist ein atmosphärisch ausgesprochen stimmiges Buch. Wenn es eine Schwäche besitzt, dann liegt sie gerade in dieser Stimmigkeit.
Beat Matzenauer, ViceVersa
Vincenzo Todisco erzählt mit viel Gespür für die soziale Dynamik innerhalb der Dorfgemeinschaft und für die Figuren, die darin ihre Rollen spielen. Der Geschichtenabnehmer ist ein atmosphärisch ausgesprochen stimmiges Buch. Wenn es eine Schwäche besitzt, dann liegt sie gerade in dieser Stimmigkeit. Das Bergdorf Gruma wirkt geradezu verloren in Zeit und Topographie, die Gegenwart bleibt trotz feiner Signale ausgespart, der Konflikt mit der Moderne verlagert sich an die nur schwach beleuchteten Ränder der Erzählung. Diese Entrücktheit irritiert auf Dauer und verleiht dem Buch einen allzu nostalgischen Charme. Einzig im unerlösten Nerì werden die äusseren Konflikte, etwa die Abwanderung, auf der individuellen Ebene sichtbar.
Dafür rückt Vincenzo Todisco einen anderen Aspekt kraftvoll ins Zentrum. Was machen alle diese Geschichten mit einem Jungen, der nichts davon preisgeben darf? Auf diese Frage gibt er eine literarische Antwort. Der zum Schweigen verdammte Nerì erfährt gewissermassen die Kehrseite dessen, was er selbst tun darf: nämlich Geschichten erzählen, sie weitergeben, mit ihnen kommunizieren und so am sozialen Leben teilhaben.
Der Geschichtenabnehmer ist so gesehen ein kraftvolles Plädoyer fürs vitale Erzählen, das nicht nur in der Literatur eine wichtige Funktion innehat. Erzählen ist lebenswichtig.
Beat Matzenauer, ViceVersa
Dafür rückt Vincenzo Todisco einen anderen Aspekt kraftvoll ins Zentrum. Was machen alle diese Geschichten mit einem Jungen, der nichts davon preisgeben darf? Auf diese Frage gibt er eine literarische Antwort. Der zum Schweigen verdammte Nerì erfährt gewissermassen die Kehrseite dessen, was er selbst tun darf: nämlich Geschichten erzählen, sie weitergeben, mit ihnen kommunizieren und so am sozialen Leben teilhaben. Der Geschichtenabnehmer ist so gesehen ein kraftvolles Plädoyer fürs vitale Erzählen, das nicht nur in der Literatur eine wichtige Funktion innehat. Erzählen ist lebenswichtig. Was Nerì widerfährt, ist nicht nur eine Form von Kindsmissbrauch, ihm wird auch verweigert, mit den existentiellen Zumutungen kommunizierend umzugehen.
Aus der in Gruma eingeübten Verschwiegenheit findet selbst der erwachsene Walter keinen rechten Ausweg, sein Leben bleibt an die alten Erinnerungen gefesselt. Die Rückkehr ins Dorf der Kindheit wird ihn davon vermutlich nicht heilen.
In dieser Konzentration auf Nerì und das Dorf Gruma treten die Dissonanzen der Gegenwart in den Hintergrund. Todisco entrückt seinen Stoff erzählerisch in die Vergangenheit, um uns im Gegenzug mit grosser Behutsamkeit und Menschlichkeit an der archaischen Dorfwelt teilhaben zu lassen.
Vincenzo Todisco, Der Geschichtenabnehmer, Roman, 256 Seiten, Zürich, Atlantis, 2024