«Der Sprung ins Ungewisse an der Oberfläche des Durchwanderten»

Daniel de Roulets Lob auf den «Röstigraben».

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(Bild: ©2025 Editions La Baconnière)

Vor bald einem Jahr, am 4. Februar 2024, ist Daniel de Roulet 80 geworden – kaum zu glauben, angesichts seiner fortdauernden Lust aufs Unterwegssein im wörtlichen wie im literarischen Sinn. Wie ungebrochen diese Lust fortwirkt, bezeugen gleichermassen die grosse Wanderung entlang der Sprachgrenze zwischen der deutsch- und der französischsprachigen Schweiz, die er im vergangenen Jahr in mehreren Etappen unternahm, und der Text «Éloge d’une frontière linguistique», den er für die Winternummer der Zeitschrift «La couleur des jours» darüber geschrieben hat.

Dieses vierteljährlich erscheinende Kulturmagazin hat 2019 bis 2021 schon de Roulets literarischen Reisebericht «Frontières liquides» über Grenzseen bzw. Seegrenzen der ganzen Welt veröffentlicht, dessen Publikation in Buchform die Éditions Phébus nun für den 20. Februar angekündigt haben.

Fortdauernde Lust aufs Unterwegssein



Er habe ein Faible für Grenzen, schreibt de Roulet zur Einleitung seines neuen Reiseberichts, insbesondere habe ihn die Sprachgrenze zwischen dem Französisch seines Vaters und dem Schweizerdeutsch seiner Mutter von jeher beschäftigt. Dank seinen Eltern hat er auch die Durchlässigkeit dieser Grenze kennen gelernt: Für seine deutschsprachige Mutter war es selbstverständlich, Französisch zu sprechen, Zürichdeutsch hat er bei ihren Eltern gelernt. Weitgehend zweisprachig ist auch die Rezeption seines literarischen Schaffens geworden. Seine Übersetzerin Maria Hoffmann-Dartevelle aus Heidelberg und der Limmat-Verlag in Zürich haben dafür gesorgt, dass seine wichtigsten Werke auch auf Deutsch erschienen sind.

Das ist heute nur wenigen Autor:innen der Suisse romande vergönnt. Kein Wunder also, dass er sich intensiv mit der Sprach- und Kulturbarriere zwischen der Alemannen und Romands auseinandersetzt, die auf der einen Seite «Röstigraben», auf der anderen «Rideau de Röstis» genannt wird. Schon diese Metaphern verweisen auf die unterschiedliche Sichtweise auf beiden Seite der Grenze: «Graben» verweist auf eine eher natürliche Gegebenheit, die aber leicht zu überbrücken ist, «Vorhang» hingegen auf eine menschliche Einrichtung, die unter Umständen so undurchlässig werden kann wie der «eiserne Vorhang» zwischen 1948 und 1989.

Zwischen April und August 2024 ging de Roulet also der Sprachgrenze zwischen der Deutschschweiz und der Suisse romande entlang, wie sie der Statistische Atlas der Schweiz auf der Karte der vier Sprachgebiete der Schweiz «nach Gemeinden» festhält. Zwei Dinge dieses Vorgehens sind typisch für sein ganzes Schreiben: dass er von der empirischen Wirklichkeit ausgeht und dass er es liebt, sein Schreiben an gewissen Regeln zu orientieren.

Empirie und OuLiPo

Als Empiriker unterscheidet er sich zum Beispiel von dem französischen Schriftsteller Jean Echenoz, den er in der Freundschaft ebenso hochschätzt wie in dessen Werken. In «Eloge d’une frontière linguistique» erzählt er, auf seine Frage, ob Echenoz tatsächlich am Nordpol gewesen sei, der in einem seiner Romane eine gewisse Rolle spielte, sagte jener lachend, dafür gebe es doch Google Maps. Für de Roulet kann so etwas nur ein Hilfsmittel bleiben, weil er die Dinge, über die er schreibt, immer selbst vor Ort erkunden will. Schon als Architekt und Informatiker hat er seine Kreativität in der Bau- und der Rechenkunst am empirischen Material entwickelt, nicht in der Abgehobenheit der Einbildung und der Axiomatik. Und im literarischen Schreiben ist er in dem Sinn Empiriker geblieben, dass er den Boden der Realität braucht, um abzuheben.

Nicht von ungefähr heisst sein erstes Wanderbuch von 2004 «L’envol du marcheur», also das «Abheben des Wanderers». Er erzählt darin seinen Fussmarsch von Paris nach Basel und hebt ab im nächtlichen Dialog mit Arnold Kübler, dem Begründer des Kunstmagazins «DU», der vierzig Jahre zuvor denselben Weg gegangen ist. Die Erzählung ist mit den Fotos von Alxandre Voirol kunstvoll illustriert, so wie das nun im Farbdruck der «Couleurs du jour» auch mit de Roulets eigenen Fotos vom Gang entlang der Sprachgrenze möglich ist.

In «L’envol du marcheur» hat er sich mit Küblers Marschroute eine Regel gegeben so wie 2019/20 in den schon erwähnten «Frontières liquides» mit den Seen und jetzt im «Eloge d’une frontière linguistique» mit der Sprachgrenze. Er geht und schreibt, indem er sich Regeln gibt. Das erinnert an die französische literarische Strömung des OuLiPo, «Ouvroir de Littérature Potentielle», der Werkstatt für Potentielle Literatur.

Der Unterschied zum Beispiel zu Georges Perecs Geschichte eines Hauses in «La vie mode d’emploi» liegt darin, dass de Roulets Abheben eben durchaus empirisch fundiert ist. Das gilt auch für seine an historischen Stoffen orientierten Bücher wie «Die rote Mütze», seinen jüngsten Roman, der vor einem Jahr publiziert wurde. Dort hebt er von der Empirie der Namen von sieben Schweizer Söldnern im Archiv ab, indem er ihnen eine Biografie erfindet, weil den «weniger vom Glück Begünstigten nur die Literatur das Wort» erteilen könne.

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Die Winterausgabe mit dem Text von Daniel de Roulet. (Bild: la couleur des jours)

Sprachgrenze für den Sprachenfrieden

In «Éloge d’une frontière linguistique» geht er nun also systematisch von Süd nach Nord der Sprachgrenze entlang, von Zermatt, einst durch Walser deutschsprachig geworden, bis Ederswiler, der einzigen deutschsprachigen Gemeinde im Kanton Jura. Dank einer Fülle von Daten, Anekdoten und eigenen Erlebnissen kann er zu jeder der 61 Gemeinden, die er besuchte, eine oder gleich mehrere Geschichten erzählen, und er kennzeichnet auch jede mit ihrem eigenen farbigen Wappen.

Über die Respektierung der Sprachgrenze gemäss dem Statistischen Atlas hinaus gibt er sich als weitere Regeln, dass er dem «Röstigraben» auf dessen deutschsprachigen Seite entlanggeht, dort aber nur Französisch mit den Leuten spricht und von allen Gemeinden zunächst den französischen Ortsnamen festhält. Das ist ihm allerdings für Zermatt, Täsch, Randa, Agarn, Inden, Lenk, Lauenen, Plasselb, Greng, Mörigen, Hagneck, Sutz-Lattrigen, Ipsach, Nidau, Beinwil und ausgerechnet auch für das jurassische Ederswiler nicht möglich. Dass diese Ortsnamen sich nicht auf Französisch übersetzen lassen, ist das nun ein Zeichen für die Undurchlässigkeit des Sprachgrenze oder im Gegenteil dafür, dass die Frankophonen den alemannischen Namen als solchen akzeptiert und übernommen haben?

Erstaunlich ist einfach, wie wenig der Grenzverlauf sich seit dem 19. Jahrhundert verändert hat. Das liegt vor allem an der verfassungsmässig garantierten Autonomie der Gemeinden und dem Grundprinzip des Sprachenfriedens in der Schweiz, wonach es mit der Ausnahme von Biel/Bienne im ganzen Land nur einsprachige Gemeinden geben darf, selbst in den zweisprachigen Kantonen Wallis, Freiburg und Bern. Und de Roulets Bericht lässt auch erkennen, warum gerade die grösste Stadt auf seinem Weg zweisprachig ist, denn je kleiner die von ihm besuchten Gemeinden sind, desto seltener werden öffentliche Angaben auf Französisch gemacht und desto weniger haben die Leute versucht, dem Wanderer aus der Suisse romande in seiner Sprache zu antworten.

Auch die Frage, ob die Sprachgrenze als «Röstigraben» auf topographischen Gegebenheiten oder als «Rideau de Röstis» auf historischen Zufälligkeiten beruht, lässt sich nicht allgemein beantworten. Gerade beim scheinbar offensichtlichsten Beleg für Ersteres, dem Tal der Saane zwischen Freiburg und Düdingen, besucht de Roulet die deutschsprachige Gemeinde Gurmels/Cormondes, die nicht eindeutig «outre-Sarine», also östlich, sondern westlich der Saane liegt.

Umgekehrt findet er im alemannischen Tal auf dem Gang von Zermatt nach Täsch aufgrund eines Lawinenrests eine natürliche Grenze, deren Überschreitung eine rot-weiss markierte Barriere zu verhindern sucht. Er missachtet das Verbot und riskiert beinahe einen Unfall, der sein ganzes Projekt zu Fall hätte bringen können. Und das bleibt nicht das einzige topographische Hindernis auf der deutschsprachigen Seite der Sprachgrenze, das ihn zum Einhalten bzw. zu komplizierten Umwegen zwingt, wie z. B. auf dem Weg zwischen Randa und Oberems oder Leukerbad und Lenk.

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Lawinengefahr. (Bild: PD)

«Unterwegs fragen, was dieses Land ist»

Noch weniger als durch landschaftliche Gegebenheiten lässt die Sprachgrenze sich durch die «Séparation des races», die «Trennung der Rassen» begründen, also durch unüberbrückbare Unterschiede zwischen den beiden Kulturen, wie Charles-Ferdinand Ramuz das im so betitelten Roman von 1922 behauptet. Die Zugfahrt von Leuk in die Lenk gibt de Roulet die Gelegenheit, den Roman wieder zu lesen, in dem steht, diesseits und jenseits der Berner Alpen werde eine andere Sprache gesprochen und an einen anderen Gott geglaubt, «weil es eine Rasse ist, die auf der anderen Seite ist, und wir eine andere Rasse sind, auf dieser Seite».

Auf dem Weg von Gurmels/Cormondes nach Münchenwiler/Villars-les-Moines, im Gebiet der Gemüsebauern zwischen den Kantonen Freiburg und Bern, denkt de Roulet über die heute immer noch kursierenden Vorurteile nach, die eine solche Vorstellung nähren könnten, und verwirft sie gerade im Festhalten an einer Sprachgrenze, mit der die Gemeinden auf beiden Seiten in der Anerkennung der jeweils anderen Sprache ihre grenzüberschreitende Einheit festigen. Der Patriotismus der Schweizer:innen beruht also im Gegensatz etwa zu demjenigen der Franzosen und Französinnen nicht auf der Einheit der Sprache, sondern auf der Anerkennung sprachlicher Pluralität. Damit wird auch deutlich, dass er sein Lob auf eine Sprachgrenze nicht ironisch versteht, denn er sieht in ihr weniger eine Trennung und Abkehr voneinander als eine einigende Anerkennung der Verschiedenheit.

In seinem früheren Wanderbuch «La Suisse de travers» (2020), «Durch die Schweiz» (2022), mit Texten die 2016 und 2018 ebenfalls schon in «La couleur des jours» erschienen waren, nahm de Roulet noch positiv auf Ramuz‘ «geografischen Patriotismus» Bezug, weil er darin das Gegenteil eines «identitären Rückzugs» sah. In «Éloge d’une frontière linguistique» ist er nun vorsichtiger geworden mit solch generalisierenden Feststellungen und hält sich konkreter an seine Erfahrungen, Beobachtungen und Lektüren. Immer noch bzw. noch mehr gilt aber, was sein französischer Schriftstellerkollege Jean-Christophe Bailly im Vorwort zum damaligen Wanderbuch schrieb. Bailly hatte in seinem Buch «Le dépaysement» 2011 für Frankreich in ähnlicher Weise wie de Roulet für die Schweiz in der konkreten Erfahrung des Raumes zu erkunden gesucht, wie es um die heutige Gesellschaft bestellt ist.

In seinem Vorwort für de Roulet schreibt Bailly, das Wesentliche eines solchen Vorhabens liege in dem «Sprung ins Unbekannte an der Oberfläche des Durchwanderten, eine Art Diktat, das ihm [dem Wanderer, D. R.] erteilt wird von dem, was er durchquert.» Und er stellt für das Wanderbuch «Durch die Schweiz» fest, was heute im selben Maß für «Éloge d’une frontière linguistique» gilt: «Und eben diesem Erlebnis ist man auf den Fersen, wenn man Daniel de Roulet folgt, wie er es uns vorschlägt, ihm, der beschlossen hat, durch die Schweiz zu wandern, nicht um sie zu entdecken oder wiederzufinden, sondern um sich unterwegs zu fragen, was dieses Land ist, was es zu erzählen hat, und – wie man heute so locker (zu locker) sagt – wofür es steht.»

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