Der existenziellen Fremdheit entgegentreten: Zum 80. Geburtstag von Klaus Merz
Drei Veranstaltungen widmen sich dem Werk des Deutschschweizer Schriftstellers Klaus Merz, der im September seinen 80. Geburtstag feiert. Eine Ausstellung in der Galerie Litar stellt den Roman «Jakob schläft» ins Zentrum.
Zwei Ausstellungen und eine Theaterproduktion nähern sich dem Schaffen des und zugleich leisen Deutschschweizer Schriftstellers Klaus Merz, der diesen Herbst seinen 80. Geburtstag feiert und dessen Werkausgabe sozusagen als Geburtstagsgeschenk in neun Bänden beim Haymon Verlag erschienen ist. Unter dem Motto «Aussen ist innen – Klaus Merz» kann man im Forum Schlossplatz Aarau bis zum 18. Januar 2026 eine von Lena Friedli und Christa Baumberger gemeinsam kurierte Ausstellung besichtigen. Sie ist der facettenreichen Beziehung von Literatur und bildender Kunst im Schaffen von Merz gewidmet. Eine Ausstellung in der Galerie Litar in Zürich beschäftigt sich vor allem mit «Jakob schläft», jenem Werk, das 1997 Merz zu internationaler Bekanntheit verhalf und mittlerweile in 16 Sprachen übersetzt wurde. Darin erzählt Merz von einer Familie in den 50er- und frühen 60er-Jahren, deren Lebenswege immer wieder nahe am Abgrund verlaufen. Mit zahlreichen Dokumenten aus dem Schweizerischen Literaturarchiv kann man die Entstehung dieses Meisterwerks verfolgen. Videobeiträge von Mariann Bühler, Sascha Garzetti, Marion Graf und Susanne Schmetkamp zu diesem Hauptwerk von Merz runden die Ausstellung, die bis am 29. November dauert, ab. Zudem ist eine Publikation in der Reihe «Edition Litar» erschienen. Es enthält Texte von vier deutschsprachigen Autorinnen sowie der Übersetzerin ins Französische, die jeweils ihren Lieblingstext von Merz vorstellen. Zu guter Letzt zeigt das Theater Marie an verschiedenen Spielorten in der Deutschschweiz bis im April 2026 «Eine Ahnung vom Ganzen», ein Stück, in welchem unter anderem Figuren aus den Texten von Merz auftreten. In ihm soll die Ahnung durchschimmern, «dass sich im Kleinen oft das Grosse finden lässt. Und umgekehrt.»
Sich von aller Erdenschwere freifedern
In der Folge wage ich mit ein paar Überlegungen zu «Jakob schläft» eine Annäherung und zugleich eine Würdigung des literarischen Schaffens von Klaus Merz. Dabei beginne ich mit folgendem Zitat aus diesem Roman: «sich von aller Erdenschwere freifedern». Es bezieht sich auf wilde Fahrten auf einer Harley, die Lukas Renz, der Ich-Erzähler, mit seinem Onkel Franz erleben darf. «Freifedern» ist ambivalent. Es kann sich sowohl auf die Federung des Motorrads wie auch auf die Schreibfeder des Autors beziehen. Darin kündigt sich eine existentielle Beziehung zwischen Leben und Schreiben an, die für Merz zentral ist. In einer Notiz aus dem Jahr 1982 kann man lesen: «Ohne Schreiben kein Gleichgewicht. Ohne Gleichgewicht die drohende Hinfälligkeit». Eine Handzeichnung begleitet diese Notiz. Sie zeigt eine menschliche Gestalt, deren Bein die Form eines Bleistifts hat. «Erdenschwere» zeichnet denn auch das Leben der Familie Renz aus. Zu einem von Epilepsie geplagten Vater, einer depressiven Mutter und einem körperlich beeinträchtigten Bruder, den die Familie «Sonne» nennt, gesellt sich der kurz nach der Geburt verstorbene Bruder Jakob.
Der Titel «Jakob schläft» ist ein Zitat aus dem Roman. Dort heisst es, dass «Jakob im Verborgenen schläft». Dieser Satz ist wiederum mehrdeutig. Da Jakob verstarb, ohne getauft worden zu sein, hatten sich die Eltern, «eigenartig zwanghaft, an die amtliche Namenslosigkeit ihres Ältesten gehalten». Klaus Merz gibt ihm seinen Namen zurück. Auf dem Friedhofskreuz stand geschrieben: «Kind Renz». Lakonisch fügt der Ich-Erzähler hinzu: «Vor den acht Buchstaben, die ins Querholz eingebrannt sind, habe ich lesen gelernt.» Wer lesen lernt, für den reihen sich die Buchstaben noch unsicher und durchaus beweglich aneinander. Sie vermögen auch, ihre Positionen zu ändern. Aus dem gleichen Buchstabenmaterial – Merz nennt es das «latente Material« – können andere Wörter oder Namen entstehen. So macht es der Autor Klaus Merz, der seinen Vornamen anagrammatisch in Lukas verwandelt und dadurch auf diskrete Weise die autobiographischen Züge des Romans ins Sprachmaterial einwebt. Wird man durch diese den Buchstaben geschenkte Aufmerksamkeit selber auf sie aufmerksam, dann sucht man im Text nach weiteren Beispielen und wird dabei in nächster Nähe zum Kreuz «Kind Renz» fündig. Zu Beginn und ganz am Schluss des Romans steht das eher seltene Wort «Querholz», «mit den acht Buchstaben», wie «Kind Renz». Im Wort «Querholz» kristallisiert sich der ganze Roman, das Quere, ja Schräge und «Aufmüpfige», das ihn auszeichnet, aber auch das Kreuz, das die Familie Renz trägt.
Wenn Jakob «im Verborgenen schläft», so kann das als ein Hinweis auf Merz' Literaturverständnis gelesen werden. Im mit Christa Baumberger, der Kuratorin der Galerie Litar, geführten Gespräch (siehe Publikation Edition Litar) sagt er: «Das eigene Benennen der Dinge» stelle eine Möglichkeit dar, «der existentiellen Fremdheit entgegenzutreten». Das eigene Benennen der Dinge zeichnet in seinen Augen die Literatur aus. Sie ermöglicht, auch Verborgenes fein und präzise anzudeuten. Merz fügt im Untertitel von «Jakob schläft» hinzu «eigentlich ein Roman». Darin klingt die Bemerkung aus dem Anfang der Erzählung an: «der ältere Bruder (…) hätte eigentlich Jakob heissen sollen». Sich von aller Erdenschwere «freizufedern», kann bei Merz heissen, auf verborgene Weise – krud und zärtlich zugleich – existentielle Verletzungen in eine poetische Sprache zu verwandeln. Damit sei nicht nur eine «therapeutische» Wirkung der Literatur für den Autor gemeint, sondern auch eine durchaus erlösende für alle Leserinnen und Leser. Vielleicht kann man jene Stelle in «Jakob schläft» in diese Richtung deuten, wo es heisst, dass sein Bruder Sonne und er «nichts weniger als die Ewigkeit» anvisieren, und dass sie «eine Art Erlöser» werden wollen.
Diese befreiende und erlösende Kraft steckt in Klaus Merz' Texten. Sie versuchen den normalen, gewohnten Gang der Dinge aus den Angeln zu heben, so wie Lukas und Sonne mehrmals versuchen, den lokalen Zug zum Entgleisen zu bringen. Zugleich wehren sie sich auf listige Weise gegen den strengen Duktus der chronologischen Zeit. Das poetische Moment der Verknappung, das Merz sehr gekonnt einsetzt, ruft in der Einbildungskraft der Leser und Leserinnen auf engstem Raum eine Bildhaftigkeit und Sinnlichkeit der Wörter hervor, die andere Wege einschlagen als jene der eingeübten, alltäglichen Sprache der Mitteilung.