«Cette liberté narrative qui autorise toutes les audaces»
Neu auf Französisch: Der grüne Heinrich von Gottfried Keller.
Das wohl wichtigste Literaturereignis der Suisse romande im eben vergangenen Jahr ist auch dort bisher kaum zur Kenntnis genommen worden. Nein, es handelt sich nicht um den jüngsten Roman von Joël Dicker, Un animal sauvage, der gleich wieder den ersten Platz auf den Bestsellerlisten eingenommen hat. Es geht um eine diskretere Publikation, die aber von grösserer literaturhistorischer Bedeutung ist: In den Éditions Zoé in Genf ist im November Henri le Vert von Gottfried Keller herausgekommen, übersetzt von Lionel Felchlin.
Verlegerische Kühnheit
Ein solches Unterfangen ist nur unter zwei Bedingungen möglich: der Existenz eines soliden Verlagshauses, das sich verlegerische Kühnheit erlauben kann, und jener eines Übersetzers oder einer Übersetzerin, der oder die gleichermassen über literarische Erfahrung, sprachlichen Spürsinn und schöpferischen Einfallsreichtum verfügt.
Die erste Bedingung erfüllen die Éditions Zoé, die ab 1974 von einem marginalen Unternehmen dreier Frauen zum führenden literarischen Verlag in der Suisse romande geworden sind, in Frankreich gut vertreten werden – im Jubiläumsjahr 2024 zum Beispiel mit dem Verkauf von 20`000 Exemplaren des Romans Ilaria von Gabriella Zalapi – und ein starkes Sortiment mit Autorinnen und Autoren aus der Deutschschweiz entwickelt haben, darunter zahlreiche Werke von Robert Walser und fast alle Bücher von Markus Werner und Matthias Zschokke.
Die zweite Bedingung ist mit Lionel Felchlin gegeben, einem Berufsmusiker und Übersetzer, der sich mit Übersetzungen von Lukas Bärfuss, Friedrich Glauser und Reto Hänny bewährt hat und es Zoé schon 2020 auch ermöglichte, die erste französische Gesamtausgabe der Seldwyler Novellen Kellers zu veröffentlichen. Von diesen war zuvor auf Französisch nur der erste Band vollständig erschienen.
Erneuerung des «Märchentons»
Den Grünen Heinrich gab es im französischen Sprachraum bisher in zwei Übersetzungen, die beide erst lange nach jenen in andere Weltsprachen entstanden waren. Die erste erschien 1932/33 in zwei Bänden, verfasst vom zweisprachigen Gymnasiallehrer Jean-Paul Zimmermann aus La Chaux-de-Fonds, der selbst schriftstellerisch tätig war und nach Kellers Roman auch noch Die Welt von gestern von Stefan Zweig übersetzte; die zweite wurde 1946 vom Verlag Aubier in Paris veröffentlicht und stammte vom französischen Übersetzer Georges La Flize. In jüngerer Zeit war Henri le Vert nur noch in Zimmermanns Übersetzung im Buchhandel erhältlich, dank einer Taschenbuchausgabe von l’Âge d’Homme – die den Übersetzer mit keinem Wort erwähnt! Die Übersetzung von La Flize wurde zwar 1981 noch einmal aufgelegt, ist aber schon länger nicht mehr greifbar.
2013 forderte Peter Utz, heute emeritierter Germanist der Universität Lausanne, in einem Interview mit der Zeitung Le Temps eine neue Übersetzung des Grünen Heinrich, dieses aussergewöhnlichen Klassikers aus dem 19. Jahrhundert. Jene von Zimmermann verleihe der Sprache etwas allzu Rustikales und Alpenländisches, sagte er, und schwäche die Kritik an der Schweiz ab. Die Sprache des Franzosen La Flize sei etwas flüssiger, glatter und wortgewandter, zeige aber, dass der Übersetzer mit helvetischen Eigenheiten wenig vertraut sei.
Zehn Jahre später konnten Éditions Zoé dieser Forderung nun also nachkommen, mit Lionel Flechlin als idealem Keller-Übersetzer. Mit seinem Henri le Vert, der sich wie alle bisherigen Übersetzungen auf die zweite Fassung des Romans 1879/80 stützt, schafft er das, was Keller selbst beabsichtigte, als er sich als bald Sechzigjähriger an die vollständige Überarbeitung seines Lebensbuches machte, das er 1854/55 mit 35 Jahre veröffentlicht hatte: Er bewahrt, was Kellers einmaligen realistischen und die Realität zugleich verfremdendenden Stil ausmacht – seinen «Märchenton», wie Theodor Fontane das nannte – , erneuert die Sprache aber zugleich behutsam so weit, dass das Buch wieder ein breiteres Lesepublikum erhalten kann.
Wie Felchlin das schafft, zeigt sich schon im ersten Satz des Romans. Im deutschen Original lautet dieser: «Mein Vater war ein Bauernsohn aus einem uralten Dorfe, welches seinen Namen von dem Alemannen erhalten hat, der zur Zeit der Landteilung seinen Spiess dort in die Erde steckte und einen Hof baute.»
Zimmermann und dann auch La Flize übersetzten «Spiess» mit «épieu» und «Hof» mit «métairie», zwei heute seltener anzutreffenden Wörtern, Flechlin wechselt auf «lance» und «ferme», heute gebräuchlicher, und vermeidet so auch das Missverständnis, wonach der alte Alemanne bei der Landteilung zum Pächter auf einer «métairie», einem Pachtgut, geworden wäre.
Auch für den archaisierenden Stil im «Meretlein»-Kapitel des Romans findet Fechlin eine elegantere Lösung als Zimmermann und La Flize. Keller lässt hier einen pfarrherrlichen Peiniger selbst erzählen, wie er ein siebenjähriges empfindsames Mädchen in den Tod treibt, weil es nicht beten will, und lässt ihn durch den häufigen Gebrauch von Wörtern aus dem Französischen als Aristokraten erscheinen.
Zimmermann und La Flize kennzeichnen die französischen Vokabeln durch Kursiv- bzw. Fettschrift als Fremdkörper im Text und ergänzen in einer Fussnote, hier schreibe Keller in einer seltsam archaischen Sprache. Felchlin ersetzt die französischen Wörter elegant durch lateinische, verzichtet auf eine störende Fussnote und verschafft den Lesenden sogar einen zusätzlichen Gewinn gegenüber dem Originaltext: Die lateinischen Einsprengsel, z. B. «correctio», «lamentationes und «suspiria», verweisen bei ihm nicht mehr nur auf die aristokratische Herkunft des tyrannischen Pädagogen, sondern auch darauf, dass eine an der römischen Klassik orientierte Bildung mit barbarischer Unmenschlichkeit einhergehen kann.
Scheiternde Bildung von epochaler Bedeutung
Bildung im umfassenden Sinn der deutschen Entwicklungsromane seit Goethes
Wilhelm Meisters Lehrjahre ist ja auch das zentrale Thema in Kellers Roman. Die Leidensgeschichte Meretleins spielt im Pfarrhaus, in dem die Mutter des grünen Heinrich aufgewachsen ist und dieser wichtige Jugenderfahrungen macht, sie kontrastiert mit seiner glücklichen Entfaltung auf dem Land und deutet zugleich auf das künftige Scheitern seines Bildungsganges voraus. Dieser betrifft fünf Komponenten einer Bildung, die im 19. Jahrhundert für die gelingende Eingliederung in die bürgerliche Gesellschaft vorausgesetzt wurden: Politik, Kunst, Ökonomie, Religion und Familie. In der Politik verpasst Heinrich aufgrund seines Wunschtraums, in einer deutschen Kunststadt als Maler zu reüssieren, die entscheidenden Ereignisse, die dann 1848 zur Bildung der modernen Schweiz führen. In der Kunst erleidet er ebenso Schiffbruch wie in der Ökonomie: Er bleibt einer romantischen Landschaftsmalerei verhaftet, kann seine Bilder nicht verkaufen und verarmt völlig. In der Religion wendet er sich, von Feuerbach beeinflusst, vom Gottesglauben ab und wird zum moderaten Atheisten. Und was die Familie angeht, versagt er sowohl gegenüber seiner Mutter, die aufgrund seiner Erfolglosigkeit in den anderen Bereichen in Armut und Einsamkeit stirbt, wie gegenüber den drei Frauen, in die er sich verliebt, ohne dass er fähig ist, sich mit ihnen zu verbinden.
Gerade in der Darstellung des Scheiterns der Hauptfigur und all dessen, was ihm zugrundliegt, erhält Kellers Roman im Hinblick auf alle eben genannten Komponenten der Bildung eine epochale Bedeutung. Im Nachwort zum neuen Henri le Vert zeigt Dominik Müller, der an der Universität Genf lehrte und zu den besten Kennern des Grünen Heinrich gehört, dass dieser gerade insofern als der politischste aller deutschen Entwicklungsromane bis zur Blechtrommel von Günter Grass betrachtet werden kann, als er die Hauptaufmerksamkeit der Lesenden nicht auf die politische Sphäre im engeren Sinn lenkt, sondern die kulturellen und ideellen Grundlagen des Politischen zur Darstellung bringt. Der grüne Heinrich ist auch zu einem der wichtigsten Kunstromane geworden, weil er das Kunstschaffen vom spielenden Kind im Kleinen bis zum Ende der goetheschen Kunstperiode im Grossen verfolgt. Er bringt zudem deutlicher als die meisten übrigen Entwicklungsromane auch die materiellen und ökonomischen Bedingungen zum Vorschein, die einen Bildungsgang gelingen oder scheitern lassen können. Er zeigt im religiösen Entwicklungsgang des Protagonisten bis zum Atheismus zudem auf, wie erst eine voranschreitende Säkularisierung die Demokratisierung der Gesellschaft und der Politik möglich macht. Schliesslich lässt er im Versagen Heinrichs gegenüber den Frauen – unabhängig von den Vorstellungen des Autors selbst – auch erkennen, welch enge Bande das Geschlechterverhältnis im 19. Jahrhundert noch bestimmten.
Neue Wahrnehmung im französischen Sprachraum
Angesichts all dieser Qualitäten ist es verwunderlich, warum der Roman gerade im französischen Sprachraum bisher weniger Aufmerksamkeit gefunden hat als etwa in allen slawischen Ländern oder auch im angelsächsischen Raum. Immerhin: Nun hat die Literaturbeilage von Le Monde schon im November eine sehr wohlwollende grössere Rezension des neuen Henri le Vert gebracht. Der grosse französische Kulturjournalist Nicolas Weill stellt den Roman sowohl in die Tradition des deutschen Bildungsromans wie in jene des europäischen Realismus und betont zugleich seine Nähe zur Entwicklung der Malerei im 19. Jahrhundert zwischen Romantik und Realismus. Er sieht in der Kunst des Schriftstellers das Auge des Malers am Werk, beendet seine Besprechung aber mit dem hymnischen Ausruf, der Schönheitskult sei ein magerer Ersatz für das Fundament eines Glaubens, der durch den gesellschaftlichen Fortschritt immer mehr erschüttert werde, dafür gelte die Botschaft dieses wunderbaren Romans heute wie gestern dem einzigen unveräußerlichen Gut, das einem der Moderne verpflichteten Menschen bleibe: der Freiheit.
Und tatsächlich wirkt Kellers Werk insofern befreiend, als es vom Feuerbachschen Verzicht auf die Allwissenheit einer göttlichen Instanz geprägt ist, einem Verzicht, der sowohl der Politik wie den Künsten eine grössere Freiheit ermöglicht. Diese Freiheit zeigt sich in Kellers Erzählprosa insgesamt und insbesondere im Grünen Heinrich in der grossen Mehrschichtigkeit und Ambivalenz sowohl im Aufbau des Ganzen wie in den wechselnden Perspektiven im Einzelnen und in der humorvollen Artistik eines grossen Anspielungsreichtums. «Cette liberté narrative qui autorise toutes les audaces», diese erzählerische Freiheit, die alle Kühnheiten zulässt, beobachtet auch Michel Audétat in Le Matin Dimanche vom 7./8. Dezember. Er betont in dieser bisher einzigen Besprechung des neuen Henri le Vert in der Suisse romande, nicht umsonst habe Nietzsche Gottfried Keller für einen der drei oder vier Schriftsteller gehalten, die der deutschen Sprache Ehre machten. Man kann nur hoffen, dass dies dank der Übersetzungskunst von Lionel Felchlin endlich auch im weiteren französischen Sprachraum entdeckt werde.