Universalistische Sensibilität statt Partikularismus

Diese Woche jährte sich die Befreiung des Konzentrationslagers Auschwitz zum 80. Mal. Auch in der Romandie wurde dem Anlass gedacht.

Am 27. Januar jährte sich zum achtzigsten Mal die Befreiung des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau durch die Rote Armee. In fünf Jahren waren im Lagerkomplex in Südpolen 1'100'000 Menschen mit industriellem Eifer auf unmenschlichste Weise umgebracht worden, grösstenteils Jüdinnen und Juden und in grosser Zahl auch Sinti und Roma, Homosexuelle, Kranke und Menschen mit Behinderungen, verschleppte Angehörige slawischer Völker und Zeugen Jehovas – lauter Menschen, die von der der Nazi-Ideologie spätestens seit Hitlers Mein Kampf von 1924/25 zu feindlichem bzw. unwertem Leben erklärt worden waren.

Auschwitz als bleibende Mahnung 



Vor zwanzig Jahren hat die UNO den 27. Januar zum Tag des Gedenkens an alle Opfer des Nationalsozialismus erklärt. So ist der der Tag seit 2005 weltweit ein Anlass, die Erinnerung an den mörderischen Schrecken von Auschwitz zu bewahren, die politischen Konsequenzen daraus zu beraten und deren Umsetzung vor Ort überall anzugehen, wo dies möglich erscheint.

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(Bild: www.auschwitz.org)

Gelegenheit zu Erinnerung bot letzten Montag die Gedenkfeier auf dem Boden des Lagers bei Oświęcim in Südpolen, den Rahmen zur Beratung politischer Konsequenzen gewährte die UNO-Versammlung in New York und die Möglichkeit, solche Konsequenzen in regionalen und örtlichen Initiativen umzusetzen, zeigten die Waadtländer Schulbehörden in der Gemeinde Le Mont-sur-Lausanne, wo am Montag eine Wanderausstellung mit Workshops eröffnet wurde, die es allen Schüler:innen der 11. Klasse und des postobligatorischen Bereichs im Kanton ermöglichen soll, sich über die Kunst mit der Shoa, der «Katastrophe», zwischen 1933 und 1945 auseinanderzusetzen.

In Auschwitz war dieses Jahr das Besondere und irrwitzig Erscheinende die Tatsache, dass unter allen Staats- und Regierungschefs, die zur Gedenkfeier angereist waren, gerade die politischen Führer jener beiden Staaten fehlten, die sich auf besondere Weise mit dem historischen Ereignis vom 27. Januar 1945 verbunden sehen: Benjamin Netanjahu, Ministerpräsident des Staates, der den Anspruch vertritt, allen Jüdinnen und Juden eine Heimstätte des Schutzes zu bieten, und Wladimir Putin, Staatspräsident der russischen Föderation, die die Rechtsnachfolge der Sowjetunion angetreten hat, deren Rote Armee das Lager Ausschwitz befreite. Beide werden gegenwärtig vom internationalen Gerichtshof in Den Haag eben jener Verbrechen angeklagt, deren Wiederholung der Gedenktag mit der Erinnerung an die vergangenen Schrecken vorzubeugen sucht: Kriegsverbrechen und Verbrechen gegen die Menschlichkeit, im Falle Netanjahus möglicherweise auch Genozid.

Der Irrwitz liegt nicht in der Anklage und Ermittlung gegen sie, sondern in der Tatsache, dass beide Anlass dazu gegeben haben und weiterhin geben.

In den Reden an der UNO-Vollversammlung zum Gedenken der Opfer des Nationalsozialismus wurden die politischen Konsequenzen, die aus den unüberbietbaren Nazi-Verbrechen zu ziehen sind, kontrovers besprochen. António Guterres, Generalsekretär der UNO erinnerte daran, dass die Länder der Welt nach dem Inferno der Naziherrschaft zusammengekommen sind und mit den Vereinten Nationen auch deren Charta schufen, um «den Wert jeder menschlichen Person» zu beschützen. Isaac Herzog, Staatspräsident Israels, klagte umgekehrt die UNO an, ihre Versammlung habe «anstatt ihren Zweck zu erfüllen und mutig gegen eine weltweite Epidemie von Dschihadisten, Mördern und abscheulichem Terrorismus zu kämpfen, wieder und wieder, […] ihren moralischen Bankrott zur Schau gestellt».

Der Vorwurf gibt zur Frage Anlass, welche Moral es in der Folge von Auschwitz zu bewahren und zu stärken gilt. Der deutsche Philosoph Ernst Tugendhat (1930-2023), der als Achtjähriger mit seiner Familie jüdischer Herkunft zuerst in die Schweiz, dann nach Venezuela flüchten musste, hielt am 12. Juli 1986 für Die Zeit in einem Brief an Jürgen Habermas fest, er glaube, «dass Auschwitz für Deutsche wie für Juden ein einzigartiges historisches Trauma ist, an dem keiner vorbeikann. Für uns ist es einzigartig, aber die Lehren, die wir daraus ziehen sollten, Deutsche wie Juden, sollten universalistisch sein. Man muss die aus diesem Schicksal entstandene Sensibilisierung in eine universalistische Sensibilität wenden – muss, sonst bleibt man im Teufelskreis des Partikularismus hängen. […] Das kann dann nur dazu führen, dass das Geschehen eingezäunt wird und durchaus vergleichbare Ereignisse verharmlost werden, in Israel wie hier.»

So ist das Festhalten an der universellen Geltung der Menschen- und Völkerrechte für jeden Widerstand gegen den Antisemitismus ebenso ein Prüfstein wie umgekehrt die entschiedene Bekämpfung des Antisemitismus für jede Unterstützung von unterdrückten Menschen und Völkern im Namen allgemein geltender Rechte und moralischer Normen.

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Komposition aus Dessas Gemälde und einem Auszug aus einer Partitur, die als Poster für die Ausstellung dient. (Bild: ©Bella graphic design.)

Wenn nun heute die allerletzten Überlebenden von Auschwitz mit ihrem baldigen natürlichen Tod rechnen müssen und es für eine junge erwachsene Generation ihre weit zurückliegenden Ur- und Ururgrosseltern waren, die Naziverbrechen begingen, sie geschehen liessen oder sie hilflos zu bekämpfen versuchten, ist die pädagogische Umsetzung der von Guterres politisch und von Tugendhat philosophisch geforderten Konsequenzen um so wichtiger.

Pädagogische Aufgabe

Eine Möglichkeit zeigt die am letzten Montag initiierte Wanderausstellung an Waadtländer Schulen, L’art: écho de l’indicible, Kunst: Echo des Unaussprechlichen. Auf zehn freistehende Tafeln sind Gemälde der Künstlerin und Autorin DESSA zu sehen. Zehn Stichworte geben das Thema jeder Tafel an, zu dem die Schüler:innen Überlegungen anstellen und Gespräche führen können: Propaganda, Leiden, das Böse, das Unsagbare, praktischer Widerstand, geistiger Widerstand, Tod/Vergessen, Resilienz, Freiheit, Pflicht. Zu jeder Tafel kann man zudem dank eines QR-Kodes einzelne Sätze der Sonate Nr. 7 für Klavier von Viktor Ullmann (1888-1944) hören, die er als sein letztes Werk im Lager Theresienstadt kurz vor seiner Deportation nach Auschwitz komponierte.

DESSA ist als Deborah Sharon Abeles 1948 in Rhodesien, dem heutigen Zimbabwe, geboren und 1981 nach elf Jahren in Israel und vier Jahren in Paris ins Waadtland gezogen und zur Schweizerin geworden. Ihre Grosseltern sind in Auschwitz ermordet worden, sie widmet viele ihrer Gemälde und Schriften dem Gedenken an sie. Ihr Schaffen hat vier Lehrpersonen in Lausanne dazu angeregt, die Ausstellung Art: écho de l’indicible ins Werk zu setzen. Sie haben zur Begleitung und Vertiefung der Thematik der Ausstellung im Unterricht auch ein pädagogisches Dossier erarbeitet. Die pädagogische Arbeit zielt nicht nur darauf, die Schoah als historisches Ereignis im 20. Jahrhundert zu analysieren und Antworten auf den Antisemitismus zu erarbeiten.

Wichtig ist den vier Lehrpersonen auch, dass die Schüler:innen eine persönliche Verbindung zur Vergangenheit herstellen, sich grundsätzliche Fragen zur individuellen und kollektiven Verantwortung, zu Vorurteilen und Ausgrenzungen und zu Ursachen und Mechanismen von Völkermorden allgemein stellen. Besonders interessant ist, dass sie die Schüler:innen mit den Werken von Viktor ullmann und DESSA veranlassen, diese Themen auch in der Kunst als Medium der Erinnerung und des Widerstands anzugehen.

In der Mitte der Zivilisation 

Wie wichtig diese Themen gerade auch in der Suisse romande sind, zeigt die kaum dreissig Jahre zurückliegende Episode mit dem Verhalten des Waadtländer Bundesrats Delamuraz in der Affäre der nachrichtenlosen Vermögen auf Schweizer Banken.

Der US-Anwalt Ed Fagan forderte am 3. Oktober 1996 von der UBS, der Credit Suisse und der Schweizerischen Bankiervereinigung eine Entschädigung von 20 Milliarden Dollar für die Naziopfer, deren Geld die Schweizer Banken als nachrichtenlose Vermögen in ihren Tresoren bzw. ihren Bankreserven schlummern liessen.

Delamuraz sprach damals als noch amtierender Bundepräsident öffentlich von «Lösegeld-Erpressung» und sagte, Auschwitz liege ja schliesslich nicht in der Schweiz.

Daraufhin veröffentlichte Adolf Muschg  im Tages-Anzeiger den Essay «Wenn Auschwitz in der Schweiz liegt», der in der These gipfelte: «Das Grauen von Auschwitz beruht nicht darauf, dass es am unvorstellbaren Ende jeder Zivilisation liegt, sondern in der vorstellbar gewordenen Mitte einer jeden.»

Angesichts der heute weltweit zu beobachtenden Verrohung der gesellschaftlichen, politischen und diplomatischen Gepflogenheiten kann man ihm nur noch stärker beipflichten als damals.

Ein-Jude-als-Exempel
(Bild: Nagel & Kimche)

Wie zur Bestätigung, dass das nicht zuletzt auch für die Suisse romande gilt, veröffentlichte der Waadtländer Schriftsteller und Goncourt-Preisträger Jacques Chessex 2009 die Erzählung «Un juif pour l’exemple». (In der Übersetzung von Grete Osterwald 2010 «Ein Jude als Exempel».) Chessex erzählt, was sich in seinem Heimatstädtchen Payerne 1942 zugetragen hat, dem Jahr der Wannsee-Beschlüsse der Naziführung, als Chessex achtjährig war:  die grausame Ermordung des jüdischen Berner Viehhändlers Arthur Bloch durch zwei Bauern und einen Metzgergehilfen unter Anleitung des Garagisten  Fernand Ischi, der sich als künftiger Gauleiter sah, ideologisch unterwiesen vom antisemitischen Pfarrer Philippe Lugrin.  

2015 veröffentlichte der bekannte TV-Journalist Claude Torracinta den dokumentarisch untermauerten Roman «Rosette pour l’exemple», spielte im Titel also ausdrücklich auf jenen von Chessex an. 1943 schickt das jüdische Ehepaar Wolczak, das sich in Frankreich versteckt hält, ihre damals noch nicht 16jährige Tochter Rosette in die Schweiz, weil sie nach den damals geltenden Bundesrichtlinien nicht abgeschoben werden darf. Als Rosette beschuldigt wird, im schweizerischen Flüchtlingslager eine Beziehung mit einem anderen Flüchtling eingegangen zu sein, bestraft man sie – entgegen den bestehenden Richtlinien – mit der Ausweisung, dem Gang in den sicheren Tod. Die Genfer Beamten kannten die Risiken, wollten aber ein Exempel statuieren.

Die beiden literarischen Texte zeigen, wie alle personellen Ingredienzen, auf denen die Shoa beruhte, auch in der Suisse romande wirksam werden konnten: ein Intellektueller, der die Mörder ideologisch aufrüstet, ein Kleinbürger, der vom sozialen Aufstieg und politischer Macht träumt, Bauern und ein Handwerkergehilfe, die völlig verblendet sind, und eine Beamtenschaft, die die Banalität des Bösen verkörpert. 

Die pädagogische Aufgabe, diese Ingredienzen nicht mehr mehrheitsfähig werden zu lassen, ist immens. Muschg hielt 1997 fest: «wir waren stille Teilhaber einer industriellen Massenvernichtung und haben daran verdient.» Die Gefahr ist gross, dass wir das wieder in der Gegenwartsform formulieren müssen.

Anfang dieses Jahres wurde bekannt, dass die Credit Suisse bei früheren Ermittlungen zu Konten der Nazis während des Zweiten Weltkriegs Informationen verschwiegen hat. Ein Untersuchungsausschuss des US-Senats stützt sich auf historische Dokumente, mit denen bisher schon 99 bisher versteckte Konten von einst ranghohen Nazis bei der Bank nachgewiesen werden konnten. Starke und einflussreiche Kräfte in der Schweiz halten entgegen einer universalistischen Sensibilität an einem Partikularismus fest, der es ihnen ermöglicht, aus den Massakern in der Welt Profit zu ziehen – «als stille Teilhaber», wie Muschg schon vor bald dreissig Jahren warnend schrieb.

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