Graphic Novel: Die Bäuerin als Modell
In schwelgerischen Bildern erzählt die Graphic Novel-Autorin Dinah Wernli von Louise Grütter, einem Modell des Malers Cuno Amiet. Das Buch in der Rezension von Beat Mazenauer.
Cuno Amiet war zu Lebzeiten ein wichtiger Vermittler und Pionier der künstlerischen Moderne in der Schweiz. Sein Werk ist vor allem durch Natur- und Landschaftsbilder sowie Porträtmalerei geprägt. Letztere gibt Amiets Kunst einen starken figürlichen Akzent. Mehrfach malte er sich selbst oder seine Frau Anna. Und in den 1910-er Jahren sass ihm auch die junge Bäuerin Louise Modell. Ein Bild von 1907 heisst «Halbakt von vorn (Frau Grütter)».
Der Künstler und sein Modell ist ein beliebtes Thema, bei dem das Modell freilich meist namenlos bleibt und hinter dem Bild verschwindet. Genau an diesem Punkt setzt Dinah Wernli mit ihrer ersten Graphic Novel an. Sie widmet sich darin dem Modell Louise Grütter:
«Louise.
Muse. Körper. Objekt.
Mutter. Bäuerin. Bedienstete.
Eckdaten eines Lebens.
Dazwischen weite Räume.»
Die wenigen Zeilen stecken das Feld ab. 1898 baute Amiet im bernischen Oberaargau gleich an der Grenze zu Solothurn, in Oschwand, ein Haus mit Atelier. Auf dem Nachbargutbewirtschaftete Louise Grütter mit ihrem Mann einen Bauernhof. Eines Tages fragte Amiet die Bäuerin Louise, ob sie ihm Modell sitzen würde.
Cuno Amiet pflegte Kontakte zu den Brücke-Malern Kirchner und Heckel, zum Impressionisten Bonnard und natürlich zu den Schweizer Malerkollegen Segantini und Hodler. Dieses Beziehungsnetz spiegelt sich in seinem Werk, das expressionistische Züge mit impressionistischen verbindet. Amiet ist ein «Meister der Farben», die Buntheit verleiht seiner Malerei etwas Lichtes und Helles. Dunkle Töne sind eher die Ausnahme.
In diese flirrende Farbigkeit bettete er auch Louise Grütter ein. Sie sagte 1905 zu, Modell für Amiet zu sitzen. Ihr Mann meinte, ein Zuverdienst schade nicht, von den Bildern wollte er vermutlich wenig wissen. So bewegte sich Louise unvermittelt zwischen zwei einander gegensätzlichen Welten: hier die bäuerliche Arbeit auf dem Feld und im Stall, da die Welt des Künstlers und seiner Bilder, in die sie in stillen Posen als junge Frau und Mutter eintauchte.
Vor einigen Jahren sei sie Louise in «lautlosem Zwiegespräch» an den Rändern der Zeit begegnet, schreibt Dinah Wernli eingangs zu ihrer Graphic Novel – diese Erinnerung hält die Autorin und Zeichnerin wach. Sie erzählt die Geschichte des Modells und späteren Bediensteten im Hause Amiet in opulenten Farben und mit grosszügigem Strich. «Dazwischen weite Räume» wird zum stilprägenden Motto. Die Distanz und Diskrepanz zwischen dem eigenen Hof und der Kunst Amiets scheint Louise zeitweise förmlich zu verschlucken. Wernli hält es bildhaft und eindrücklich fest.
Für ihre Bilderzählung bedarf es kaum der Worte – es dürfte wohl auch wenig zu sagen gewesen sein. Vielmehr hält sich Dinah Wernli an die beiden Amietschen Motive Landschaft und Porträt. Louise von nahe oder eingebettet in die Natur und das Umfeld der Arbeit. Wernli folgt dem Vorbild Amiet mit ihrer schwelgerischen Farbigkeit, sie entlehnt ihm hin und wieder auch Bildmotive, doch stilistisch hebt sie sich von ihm ab.
Wenn Amiet gerne auf Details achtete, so zieht Wernli die schnelle Geste vor, der auch ihre Arbeitsweise entspricht. In einem Begleittext gibt sie zu erkennen, dass sie mit teils verdünnter Acrylfarbe auf unterschiedlichen Untergründen, beispielsweise auf Transparentfolien, gearbeitet und danach mehrere malerische Ebenen übereinander gelegt habe, um so überraschende Effekte zu erzielen. Diese transparente Materialität ist in den Bildern erkennbar. Sie verleiht ihnen etwas Schmissiges und zugleich Flüchtiges, Durchscheinendes. Vor allem letzteres gibt der Hauptfigur Louise die Möglichkeit, zwischen den Ebenen hindurch zu schlüpfen und sich unscheinbar zu machen. Diesen Aspekt verdeutlicht auch der Text, der mit minimalen Mitteln erzählt. Wernli verrät ein gutes Gespür für das Zusammenspiel von Wort und Bild, die sich gegenseitig ergänzen und nicht bloss verdoppelnd illustrieren. Viel zu sagen gibt es ohnehin nicht, und wenn, genau so viel:
«Während sie dasitzt
und sein Blick auf ihr ruht,
beginnt auch sie
sich zu sehen.
Mit seinen Augen.
Mit ihren Augen.»
Der Raum «zwischen hier und dort» ist ein einsamer Ort. Wie es Louise empfand, werden wir nie genau wissen. Der Bäuerin wurde die Arbeit nicht abgenommen, auch wenn sie als Modell die Kunstwelt betrat. Letzteres blieb denn auch eine flüchtige Episode, die ihr Leben vermutlich trotzdem veränderte. In ihrer Graphic Novel vermittelt Dinah Wernli dieses Schweben im Dazwischen mit einem subtilen Zusammenspiel von Schwelgen und Schweigen. Dergestalt verrät die Autorin, dass ihr Louise weit mehr bedeutet als bloss ein beliebiges Sujet.
Dinah Wernli: Louise. Edition Moderne, Zürich 2024. 168 Seiten.
ISBN 978-3-03731-265-0