Alfonsinas Zukunftsmusik

Hildegard E. Keller erzählt in diesem Essay, was nach dem Freitod von Alfonsina Storni am 25. Oktober 1938 geschah. Wie allmählich ihr zauberhaftes literarisches Vermächtnis versank und nach einer deutschen Werkausgabe rief, die Stornis Werk erstmals in ganzer Breite zeigt – und warum sie in der Werkausgabe und in ihrer Biografie Stornis Theaterschaffen besonders viel Raum gab.

Keller_2
Die fünfbändige Werkausgabe, übersetzt und gestaltet von Hildegard E. Keller. (Bild: Edition Maulhelden)

Alfonsina Storni (1892–1938) hat ihr schriftstellerisches Werk auf Spanisch verfasst. Abgesehen von einer einzigen Telegrammzeile an einen Tessiner Verwandten gibt es nichts in ihrer Muttersprache Italienisch. Wie kamen ihre Texte zu uns, ins Deutsche? Was genau wurde übersetzt und was nicht? Ich bin die Übersetzerin und Herausgeberin der ersten Werkausgabe in deutscher Sprache in fünf Bänden und Stornis Biografin (siehe cültür vom 23. Mai). Zwischen 2009-2024 veröffentlichte ich neun Bücher, sieben davon in der Edition Maulhelden, und machte zu Stornis Leben und Werk auch Performances.

Meine Biografie erzählt vom Leben und Weiterleben. Was nach Stornis Freitod am 25. Oktober 1938 geschehen ist, wie sich die Erinnerung an sie nach dem Zweiten Weltkrieg formierte und auch verformte, dank Monumenten auf Friedhöfen, im Film und in der Popkultur, wie Storni allmählich auch in der Schweiz entdeckt wurde, zeige ich in «Frei». Im Tessin, in der Deutschschweiz und in Argentinien kannte man die höchst überraschende Schriftstellerin und öffentliche Intellektuelle, die Alfonsina Storni war, nicht bziehungsweise nicht mehr. In Argentinien kannte man eine Selbstmörderin, die hie und da dichtete – mehr nicht. Diese Einsicht stand am Beginn meiner Storni-Biografie, in deren zweitem Teil ich sage: «Wer eine Kreativschaffende ins Licht heben will, sollte sie nicht als Selbstmörderin feiern. Das starke, simple Bild wird sich vor ihre historische Wirklichkeit und ihr Werk stellen und beide in Vergessenheit geraten lassen.»

Widerstand gegen Deformierung einer Künstlerin bietet nur ihr Werk. Alfonsina Stornis Texte verdienen gelesen zu werden. Wer hat sie zum ersten Mal in eine unserer Landessprachen übersetzt? In der Deutschschweiz war es Waltrud Kappeler mit einem schmalen Gedichtband (sie hätte eine Werkausgabe im Sinn gehabt, doch dazu kam es nicht), im Tessin Angelo Zanon dal Bo mit einer umfangreichen Lyrikanthologie; ich würdige die beiden und ihre Arbeit in der Biografie («Frei»).

Alfonsina Storni wollte in ihrem 46 Jahre langen Leben aber bedeutend mehr als nur Gedichte schreiben. Sie war Aktivistin, bespielte immer wieder neue Gattungen, um die Menschen zu erreichen, blieb bis zuletzt selbstkritisch, experimentierfreudig und spielerisch. Ihr Lebenswerk, so einzigartig und umfangreich es ist, blieb weitgehend unbekannt. Ausserhalb der spanischen Sprache gab es keine Gesamtausgabe, als ich meine Forschung aufnahm, nicht einmal eine repräsentative Werkausgabe. Das muss sich ändern, sagte ich mir, denn als Biografin brauche ich eine solide Grundlage, die natürlich auch den Lesenden meiner Biografie zugänglich sein muss. Kurzum: Die Zeit war reif für eine erste Werkausgabe in deutscher Übersetzung, ich nahm sie an die Hand und brachte in der Edition Maulhelden zwischen 2020 und 2022 fünf Bände heraus.

Storni auf Deutsch

Eine Werkausgabe ist keine Gesamtausgabe. Ich wollte allen Interessierten etwas an die Hand geben: Stornis Stil, ihre Anliegen, Themen und literarischen Formen, aber auch ihre Persönlichkeit, Lebenshaltung und Weltsicht sowie ihre Auffassung von Kunst und Partizipation an Gesellschaft und Politik als Künstlerin. Die fünf Bände machen es möglich, dass man über den Tellerrand der (bislang bekannten) Lyrikauswahl hinausblicken kann. Sie geben einen repräsentativen Querschnitt durch das gesamte Opus. Wie bin ich vorgegangen? Einerseits habe ich wichtige Texte aus allen Genres ausgewählt, übersetzt und kommentiert, andererseits nahm ich Neufunde auf, die ich im Zug meiner Recherchen für die Biografie gefunden hatte; manches war unveröffentlicht oder unentdeckt geblieben, anderes wurde aus mir unbekannten Gründen nicht in die spanische Gesamtausgabe integriert.

Journalistische Stücke, Aphorismen, Erzählungen, Literaturkritik, Meinungsartikel, Theaterstücke für Kinder und für Erwachsene und Gedichte, auch in Prosa. Je mehr ich übersetzte, desto freier wurde ich. Stornis Werke sprechen zu Menschen von heute, wenn man auch ihren Tonfall, ihre Haltung mitübersetzt und, falls nötig, in Anmerkungen und Nachwort kommentiert. Vier der fünf Bände haben ein Geleitwort bekommen (Georg Kohler, Elke Heidenreich, Denise Tonella und Daniele Finzi Pasca), der Lyrikband ist zweisprachig. Die Bücher entstanden mit einem wunderbaren Team, ich finanzierte und gestaltete die Bücher selbst, kleinformatig, handlich und für alle Sinne. Farbbilder und Werbegrafik aus den Zeitungen und Zeitschriften zeigen das Umfeld, in dem vieles ursprünglich erschienen war. Diese Werkausgabe ist kein Monument aus Marmor. Sie ist ein fünfbändiger Sprengsatz, den die Autorin nun auch in ihrer alten Heimat zünden kann.

Keller_3
Illustration aus WACH. (Bild: Edition Maulhelden)

Theater ums Theater

Alfonsina Storni brannte für das Theater, aber der Weg auf die Bühne war steinig. Alfonsina Stornis erste Komödie «Zwei Frauen» brachte ihr kein Glück. Die Autorin selbst liess das Stück nach der Uraufführung 1927 absetzen (vgl. «Wach») und enthüllte den Filz im Theaterbetrieb von Buenos Aires. Bei der (aus Stornis Sicht misslungenen) Inszenierung erlebte sie unter anderem eine inkompetente Theatertruppe, Mauschelei und Vetternwirtschaft, Heuchelei und Verlogenheit der Presse: «Natürlich käme es den Veteranen im Theaterbetrieb nicht in den Sinn, von solchen Konflikten zu berichten, denn sie sind daran gewohnt. Aber für mich war diese Welt, die sich hinter und zwischen den Theatervorhängen verbirgt (sich also nicht auf der Bühne selbst zeigt), neu. Sie besteht aus straff gespannten Fäden, die so eng verwoben und festgezurrt sind, dass es sich lohnt, dieses Geflecht einmal zu dokumentieren. Im Dokumentieren sehe ich eine zivilisatorische Aufgabe, vielleicht die einzige, die rechtfertigt, dass Menschen ihren Fuss auf den Planeten Erde setzen. Ja, das Leben dokumentieren! Eine schöne Sache.» (vgl. CIMBELINA).

Souverän setzte sich Alfonsina Storni in die Nesseln und verriet lachend, wie sie sich von dem Theaterintendanten, einem «listigen Unternehmer», um den Finger wickeln liess: «Er führte mich aufs Glatteis. Er sagte mir Dinge wie: ‹Alfonsina Storni, ich bewundere Sie! Sie sind die Rettung Amerikas. Sie stellen jede Schriftstellerin in den Schatten. Mit Ihnen verglichen leiden sie alle an Anämie. In Ihnen ist buchstäblich 100 Prozent Hämoglobin. Sie sollen eine Komödie vollendet haben, man hat sie mir sehr ans Herz gelegt. Ich bin Theaterunternehmer und suche nach einem aufführungswürdigen Stück. Meine Frau, die Primadonna unseres Ensembles, wäre die perfekte Besetzung für die Hauptrolle. Ich möchte die Uraufführung inszenieren.› Und so weiter. Ach, wie mich das mit dem Hämoglobin gerührt hat! Ergebnis: Ich übergab ihm meine Komödie.» (vgl. CIMBELINA)

Keller_4
Illustration aus ULTRAFANTASIA. (Bild: Edition Maulhelden)

Das Theater blieb das wichtigste Medium ihrer künstlerischen Entwicklung: Hier konnte sie mit Wort, Stimme und Bewegung, mit Licht, Bühnenraum eine Wirklichkeit erschaffen, in dem Charaktere aufeinanderprallten oder zueinander fanden. Alfonsina Storni adaptierte Theaterstücke von Euripides und Shakespeare mit erfrischender Respektlosigkeit und fasste sie mit einem dritten Theaterstück unter dem Ausdruck «Feuerwerksfarcen» zusammen. Provokative Stücke für eine moderne Experimentalbühne! Doch das Erwachsenentheater blieb Alfonsina Storni versperrt. Mit grosser Lust habe ich diese nie inszenierten Feuerwerksfarcen für den Band CIMBELINA übersetzt. Ich gebe der Welt des Theaters auch in der Biografie viel Raum, denn sie war der Ort für Alfonsinas Träume und Alpträume. Sie wollte nicht Schauspielerin sein und die Worte anderer aufsagen, sondern eine Autorin, die eine neue Welt mit neuen Menschen und neuer Sprache bevölkerte, weg von der machistischen Selbstverdummung und hin zur Selbstermächtigung der freien Frau, die sich ihr Leben nicht aus der Hand nehmen lässt. Hier komponierte Storni Zukunftsmusik.

Unverwechselbar

Anfangs 1938 erkannte sie, dass der Brustkrebs nicht aufzuhalten war. Ein Leben lang hatte sie ihre Selbstbestimmung und wirtschaftliche Unabhängigkeit hochgehalten, doch nun schwanden ihre Kräfte. Die Hauptfigur einer Feuerwerksfarce spricht auch für die Autorin: «Zum Tode verurteilt? Das sind wir doch alle, mit dem kleinen Unterschied, dass die einen ein paar Jahre mehr als die anderen haben. Das Einzige, was ich die Menschen lehren würde, ist sterben können. Ein grosses Herz liebt das Leben, kann aber auch ebenso gut den Tod annehmen.» (vgl. CIMBELINA)

Im letzten Buch nahm sie, ohne dass es jemand bemerkte, Abschied vom Leben und ihrem nunmehr abgeschlossenen Werk. Sie schreibt im Vorwort: «Hierzulande gesteht man einem Toten eine Schonzeit von dreissig Jahren zu. So lange kann er sich in seiner Kühlkammer noch aufregen, wenn in der postumen Ausgabe X seiner Werke ein Komma zu viel oder ein Punkt zu wenig ist, oder kann seine Rechtsvertreter dazu verdonnern, die Bedeutungsunklarheit im Sonett Z beheben zu lassen. Ist diese Frist aber um, gehört das von ihm bestellte Feld der Öffentlichkeit. (…) Die eigentliche Nachlassverwalterin für das Werk eines Autors aber ist die Zeit. Sie scheidet das eine vom andern, sortiert aus und lässt, wo nötig, Schaufeln voller Erde darauf fallen. Das ist auch recht so (vgl. CARDO).

Keller_5
Illustration aus ULTRAFANTASIA. (Bild: Edition Maulhelden)

Bald neunzig Jahre hat die Zeit nun arbeiten können. Das Schicksal einer Autorin bleibt oft rätselhaft, aber für Storni lag auf der Hand, was einen künstlerischen Menschen ausmacht: «Man bemisst die Bedeutung schöpferischer Menschen nicht an ihren Niederlagen, sondern an der Kraft ihrer Katapulte, etwas so hoch wie möglich zu schleudern. Und auch an der Unverwechselbarkeit dessen, was sie sich angeeignet und in die Welt gebracht haben.» (vgl. CARDO).

Am Sonntag, 1. Juni stellt Hildegard E. Keller «Wach & Frei» an den Solothurner Literaturtagen im Gespräch mit Michael Luisier vor: Theatersaal, 14.30 bis 15.30 Uhr. Sprecherin: Miriam Japp

Mehr über Alfonsina Storni unter:

www.alfonsinastorni.ch

www.editionmaulhelden.com

www.hildegardkeller.ch

Keller_1
Hildegard E. Keller

... ist Germanistin und Hispanistin, lehrte in neun Ländern, zuletzt an den Universitäten von Zürich und Bloomington (IN/USA). Von 2009 bis 2019 Jurorin beim Bachmannpreis, ORF/3sat und im Kritikerteam des Literaturclubs des Schweizer Fernsehens. Ihr Hörbuch «Die Stunde des Hundes» wurde für den Deutschen Hörbuchpreis 2010 nominiert. In ihrem Hannah-Arendt-Roman «Was wir scheinen» (Eichborn 2021) hat Alfonsina Storni einen Cameo-Auftritt. Soeben erschienen ist Kellers Coming-Out als Illustratorin: «Die weisen Tiere», das einzige Märchen von Hannah Arendt. www.hildegardkeller.ch

Das könnte dich auch interessieren

Alfonsina Storni_1

Einen grossen Schatz bergen

In der zweibändigen Biografie «Wach & Frei» erzählt Hildegard E. Keller detailreich von Alfonsina Storni, der argentinischen Dichterin, Theaterfrau und Frauenrechtlerin, die ihre Wurzeln im Tessin hat. Der Biografie geht eine fünfbändige Werkausgabe voraus. Damit macht Keller Stornis Werk einem deutschsprachigen Publikum bekannt.

Von Bettina Gugger
Trummer_1

«Mein Werk ist der Ort, wo ich mein Menschsein zeige»

Im neuen Album «Ir Brandig» wagt Trummer den Blick von der Mitte des Lebens aus zurück. Damit hat der Musiker eine Sinnkrise überwunden, in der er sich auch der Frage nach dem Aufhören gestellt hat.

Von Bettina Gugger
Romana_Ganzoni

Soldat, Dame und Buckelpiste

Die Engadiner Autorin Romana Ganzoni ist zweisprachig in Scuol aufgewachsen. Wie ihr ihre erste Lehrerin Dorli Biert, die Schwägerin von Cla Biert, literarische Welten eröffnete, und was das Buckelpistenfahren über die Sprachbegabung verrät, erzählt die Autorin in diesem Essay.

Von Romana Ganzoni

Kommentare